Vorsicht - Hält klein und macht traurig
„Schreib doch einen Artikel darüber“, sagt mein Mann. Einen Artikel? Wieso und weshalb? Es gibt schon unzählige Texte zu diesem Thema. „Klar, auf meinen Artikel hat die Welt gewartet“, antworte ich ironisch-provokativ. „Die Welt muss ihn ja nicht lesen.“
Erst gar nichts versuchen, denn ich „weiß“ ja schon, wie es endet. Schließlich bin ich doch ein erwachsenes, reflektiertes Mädchen. Aber genau das ist es: Immer wieder fällt mir auf, wie sehr Vorsicht uns zurückhält.
Vor lauter Vorsicht werden Dinge nicht gesagt, Handlungen nicht vollzogen – und das Herz bleibt stumm. Was mich an diesem Thema besonders berührt, sind die nicht gesprochenen Worte. Die, die man sagen würde, wenn man sich wirklich ernst nehmen würde. Stellen wir uns einen Kokon vor, in dem ein Schmetterling heranreift. Wenn die Zeit reif ist, verlässt er die Enge – und entfaltet sich. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Er zeigt sich in seiner ganzen Schönheit. Nehmen wir den Kaisermantel – ein großer, prachtvoller Schmetterling. Er entfaltet sich, auch wenn neben ihm ein kleiner Zitronenfalter fliegt. Er macht sich nicht kleiner – das entspricht nicht seiner Natur.
Und der Zitronenfalter? Der ist auf seine Weise ebenfalls vollkommen. Er kann nichts dafür, dass er kleiner ist.
Jeder hat seine eigene Größe. Eine, die zu ihm passt.
Der Kaisermantel würde niemals denken: „Oh, ich mach mich mal klein, sonst denkt der Zitronenfalter, ich tu so, als wäre ich etwas Besseres.“ Sie verstehen schon, was damit gemeint ist, oder? Der Mensch allerdings – der ist darin ganz groß: sich selbst kleinzumachen. Nehmen wir uns in unserer echten Größe wirklich wahr? Ich bin mir da nicht sicher.
Kein Wunder, dass viele sich nicht entfalten können – oder wollen. Oder doch? Dann beglückwünsche ich Sie aufrichtig!
Aber… warum lesen Sie dann diesen Artikel? Vielleicht gibt es doch noch etwas, das wachsen darf?
In meiner Praxis als Heilpraktikerin für Psychotherapie – und auch privat – begegne ich vielen Menschen, die zu vorsichtig sind.
Sie halten sich zurück. Immer wieder. Monat für Monat, Jahr für Jahr.
Und das Tragische daran: Viele sind sich dessen nicht einmal bewusst. Ihr vorsichtiges Verhalten wird erklärt, begründet – und damit als „richtig“ empfunden.
Doch in Wahrheit nehmen sie sich selbst nicht ernst. Sie trauen dem Gegenüber ihre Wahrheit nicht zu. Ich erinnere mich an eine Klientin. Sie berichtete von ihrer Ehe: Ihr Mann sei sehr einengend, sie bekomme kaum Luft. „Haben Sie ihm das jemals gesagt?“, fragte ich. „Nein, das geht nicht. Er würde es nicht verstehen. Für ihn ist es ein Ausdruck seiner Liebe. Er wäre sicher verletzt.“
Sie hatte sich selbst bereits eine Antwort gegeben. Eine, die es ihr erleichtert, dem echten Kontakt mit ihrem Mann auszuweichen.
Ihre Aufmerksamkeit gilt ihm – nicht ihr selbst. Doch wer ständig nur die Nachbarpflanzen gießt, aber sich selbst vergisst – wie soll da etwas blühen? Aber da ist sie wieder – die Vorsicht. Nichts sagen, nichts tun. Lieber mit einer dritten Person darüber reden.
Hier ist sie wieder – die Vorsicht: nichts sagen, nichts tun.
Wer sich selbst nicht achtet, wird auch von anderen nicht geachtet.
Dabei geht es doch darum, sich selbst ernst zu nehmen. Und dem Gegenüber in Echtheit zu begegnen. Was hat die Klientin von ihrem Verhalten? Nichts – außer dem Gefühl, recht zu haben.
Aufrichtiger wäre es, sich einzugestehen, dass diese Rücksicht in Wahrheit eine Form der Trennung ist – und nicht des Kontakts.
Wir alle können das gut: nichts tun – selbst wenn es uns unglücklich macht. Wir sind halt vorsichtig.
Aber woher kommt das eigentlich? Aus der Sehnsucht nach Liebe.
Wir alle wollen geliebt werden – und opfern dafür manchmal unsere eigene Wahrhaftigkeit.
Doch wer sich selbst nicht achtet, wird auch von anderen nicht geachtet.
Die Menschen nehmen uns nur so ernst, wie wir uns selbst ernst nehmen.
Und dann tauchen sie schon wieder auf, die alten Stimmen im Kopf.
Vielleicht hat der Vater gesagt: „Es ist egal, was du willst. Solange du hier wohnst, machst du genau das, was ich sage.“ Was bleibt, ist: „Es ist egal, was ich will.“
Diese inneren Stimmen – man nennt sie auch Glaubenssätze – tragen wir mit uns herum. Am Ende haben wir zwei Möglichkeiten: Wir bleiben das „kleine Kind“, das nicht ernst genommen wird. Oder wir entscheiden uns, erwachsen zu sein – auch im Verhalten.
Wofür entscheiden wir uns?
Sind wir bereit, gesehen zu werden?
Dann los! Es ist unser Leben. Unsere Lebenszeit.
VORSICHT? Nein, danke. BLICKLICHT? Ja, bitte!
Auf geht‘s – werden wir das Licht im Blick der anderen.
Christiane Hintzen
Heilpraktikerin für
Psychotherapie mit eigener Praxis in München