Hypnotherapie mit dem inneren Kind
Die Arbeit und Auseinandersetzung mit dem INNEREN KIND ist alles andere als neu. Was jedoch neu ist, dass eine auffällig breiter werdende Masse an Menschen selbstverständlich darüber spricht und sich mit gleicher Selbstverständlichkeit der Terminologie bedient.
Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.
Verantwortlich dafür sind sicherlich die zahlreichen Publikationen der letzten Jahrzehnte, der Zeitgeist aber auch und vor allem ein zunehmend erwachendes Bewusstsein dafür, dass psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, Beziehungsschwierigkeiten und zahlreichen problemassoziierten Zuständen verdrängte bzw. ungelöste Kindheitserfahrungen zugrunde liegen. Wesentlich häufiger als früher erzählen Menschen von ganz konkreten Kindheitserlebnissen, die sich in irgendeiner Weise negativ auf ihr Leben auszuwirken scheinen.
Die Akzeptanz der Seelenkraft INNERES KIND und deren Bedeutung für unser Seelenleben ist eindeutig auf dem Vormarsch. Ja und ich möchte behaupten, dass die Kindheit bei den allermeisten Menschen weit weniger abschließend verarbeitet ist, als sie glauben. Doch halt – auch wenn das INNERE KIND zumeist nahezu automatisch mit unglücklich oder verletzt assoziiert wird, ist auch das glückliche INNERE KIND eine ausgesprochen wichtige Seelenkraft. Es ist ein sehr ressourcenvoller Anteil des Menschen, der für viele freudvolle und ausgelassene Zustände verantwortlich ist. Dieser Teil des Seelenapparates genießt einerseits gern, ist ruhig, entspannt und mit sich selbst zufrieden. Andererseits ist das glückliche INNERE KIND spontan, kann unbefangen herumalbern, geht freudig erregt und ausgelassen den unterschiedlichsten Aktivitäten und Hobbys nach wie Tanzen, Singen, Spielen, Sex etc. und spielt seinen Mitmenschen unter Umständen auch gerne mal einen Streich.
Eine Seelenkraft, die für einige Menschen nicht ohne Weiteres zugänglich ist, wenn z. B. ausgelassene und freudvolle Zustände in der Kindheit sanktioniert wurden. Wenn das Kind nicht Kind sein durfte, erwächst aus dem eigentlich glücklichen inneren Anteil ein verletzter und unglücklicher. Auch wenn Menschen in ihrer Kindheit Kind sein durften und es vonseiten der Eltern keine Einwände gab, ausgelassene und freudvolle Zustände auszuleben, möchte ich behaupten, dass es in nahezu jedem Menschen – natürlich in sehr unterschiedlichem Ausmaß – ein verletztes und unglückliches INNERES KIND gibt.
Praktisch jeder Mensch hat in seiner Kindheit, selbst bei den liebevollsten Eltern und idealsten äußeren Rahmenbedingungen, Momente erlebt, in denen seine seelischen Grundbedürfnisse nicht hinreichend befriedigt wurden. Nicht nur Erziehung und Entwicklung, sondern unser ganzes Leben verläuft im Spannungsfeld der seelischen Grundbedürfnisse – Bindung, Kontrolle, Orientierung, Selbstwerterhöhung, Lusterzeugung bzw. Unlustvermeidung. Während wir als Erwachsene selbst dafür Sorge tragen müssen, dass diese Grundbedürfnisse hinreichend befriedigt werden, lag in unserer Kindheit die Verantwortung hierfür bei den uns aufziehenden Personen – zumeist unseren Eltern. Selbst innerhalb weitgehend unproblematisch verlaufender Kindheiten gab es einschneidende Erfahrungen in Form von unüberlegten Verhaltensweisen oder Bemerkungen der Eltern, Vorhaltungen sowie erzieherische Maßnahmen, die zwar aus dem Blickwinkel einer problematischen Kindheit tatsächlich Kleinigkeiten zu sein scheinen, die sich aber addierten und dann, summa summarum, in ganz individuellem Ausmaß auf einem Menschen lasten können.
Folglich verfügt jeder Mensch, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maß, über sein ureigenes neurotisches Konfliktpotenzial – über kindliche Erlebnisse, die einst als traumatisch wahrgenommen und von der betreffenden Person eingefroren wurden und letztlich dazu führten, dass sich derjenige an dieser Stelle nicht weiterentwickeln konnte. Diese eingefrorenen Kindheitsmomente werden glücklicherweise nicht permanent erinnert, sind jedoch im Hintergrund aktiv und können einen Menschen jederzeit in seiner Freiheit und Flexibilität einschränken.
Nicht wenige kindliche Traumata werden kompensiert und sind später im Erwachsenenalter der Urgrund für verschiedene psychische und psychosomatische Störungen und Erkrankungen. Aber auch bei weitgehender psychischer und körperlicher Gesundheit gibt es etwas, das nahezu jeder Mensch kennt. Ich spreche davon, dass es Momente gibt, in denen wir Verhaltensweisen und Emotionen zeigen, die den Situationen schlicht und ergreifend nicht angemessen sind, die unserer eigentlich anzunehmenden Reife nicht entsprechen. Solch überzogene Reaktionen werden typischerweise durch ein oder mehrere spezifische Reize sog. Trigger ausgelöst, die zumeist von engen Bezugspersonen kommen, wie eine Bewertung, eine Bemerkung oder ein unterschwellig lancierter Vorwurf.
Was dann passiert, nennt man gemeinhin den „neurotischen Mechanismus“. Ausgelöst durch einen Trigger wird ein Mensch assoziativ, im Bruchteil einer Sekunde mit einer traumatisch erlebten Kindheitserfahrung in Kontakt gebracht und reagiert, ohne die Möglichkeit einer gedanklichen Kontrolle, auf eine kindliche Art und Weise auf die Erfordernisse der Gegenwart. Einfach, weil der traumatische Kindheitsmoment mit seinem Reaktionspotenzial wie eingefroren in der Innenwelt überdauert hat. Mit anderen Worten: Das verletzte und unglückliche INNERE KIND hat die Führung, die Regie übernommen. Glücklicherweise müssen wir nicht auf ewig Opfer traumatisch erlebter Kindheitsmomente bleiben, denn – es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Wenn es für Sie als Coach oder Therapeut darum geht, spezifische Momente der Kindheit Ihres Klienten, ganze Zeitabschnitte oder sogar die gesamte Kindheit aufzuarbeiten, um letztlich die negativen Auswirkungen, traumatisch erlebter Momente zu reduzieren, sollte sich dies auf Basis eines „Reparenting“ – eines nachträglichen Zuteilwerdenlassens elterlicher Fürsorge vollziehen. Das Reparenting (Nachbeeltern, Neubeeltern) ist eine Haltung und zugleich eine Aktivität, bei der ein Therapeut bzw. Coach seinem Klienten zu einer weitgehenden Erfüllung der seelischen Grundbedürfnisse verhelfen will, die in dessen Kindheit in nicht ausreichendem Maße befriedigt wurden.
Das Grundbedürfnis, das in der Kindheit am häufigsten verletzt wurde und somit zumeist zum zentralen Gegenstand der Nachbeelterung wird, ist die Bindung mit ihren Aspekten Nähe, Wärme, Trost, Schutz, Sicherheit und Geborgenheit. Das Nachnähren dieser Gesichtspunkte vollzieht sich zum einen durch die Bereitstellung einer empathischen und vertrauensvollen Beziehung und zum anderen durch zielgeleitetes Agieren im Rahmen spezifischer Methoden.
Die Königsdisziplin unter diesen spezifischen Methoden ist das Rescripting and Reprocessing, das bei der modernen, emotionsfokussierten Verhaltenstherapie auch große Imagination und bei den Hypnotherapeuten Reparenting genannt wird. Der Entwickler dieser Methode, Milton H. Erickson nannte sie selbst Februarmann-Ansatz. Dieser eher ungewöhnliche Name resultiert aus der ersten Behandlung mit dieser Methode, die Erickson im Jahre 1945 durchführte. Der Februarmann-Ansatz war ein wichtiger Schritt über alle bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten Formen von Therapie hinaus. Sie ist eine von Ericksons kreativsten und innovativsten Erfindungen und stellt
Die Arbeit mit dem INNEREN KIND benötigt Zeit und ist nicht in fünf Minuten erledigt.
Unser ganzes Leben verläuft im Spannungsfeld der seelischen Bedürf- nisse.
für jeden Therapeuten bzw. Coach eine große Bereicherung dar. Eine gleichermaßen ungewöhnliche wie effektive Intervention, bei der Sie als Therapeut bzw. Coach der Gegenwart gleichsam zum Behandler der Vergangenheit werden.
BEFREIUNG VON DEN FESSELN DER VERGANGENHEIT
Mithilfe dieser hypnotherapeutischen Methode lassen sich umfassend und wirkungsvoll die Verletzungen der Kindheit aufarbeiten und positiv beeinflussen. Die eingefrorenen Momente der Kindheit werden aufgetaut, Mängel bezüglich des kindlichen Bindungserlebens reduziert und Bewegung in verfestigte Überzeugungs- und Glaubenssysteme gebracht, die mit der traumatisierenden Erfahrung in Verbindung stehen, wodurch sich die Persönlichkeit der betreffenden Person weiterentwickeln kann. Dem Klienten wird während der Regression in die spezifischen Momente seiner Kindheit das zuteil, was ihm damals fehlte. Zumeist geht es in diesen biografisch bedeutsamen, traumatisch erlebten Situationen darum, einen Mangel an Bindung auszugleichen und seinen Klienten mit Nähe, Wärme, Trost, Schutz, Sicherheit und Geborgenheit nachzunähren. Sie können alles tun, was wirkliche Eltern in dieser Situation tun würden, und das INNERE KIND Ihres Klienten kann jetzt all das bekommen, was in der einstigen Situation fehlte. Diese korrigierende emotionale Erfahrung ermöglicht es ihm, zu erleben, dass er nicht länger ein machtloses Kind ist, das sich mächtigen Erwachsenen gegenübersieht. Solche Momente sind extrem wirkungsvoll und bringen viel Heilung in die Verletzungen der Kindheit.
Auch wenn die Vergangenheit eines Menschen nicht wirklich veränderbar ist, so lässt sich jedoch das Gedächtnis und damit die Erinnerung daran umbauen. Entsprechend wandeln sich dann auch die Gefühle und Überzeugungen des Klienten bezüglich seiner Vergangenheit. In gewisser Weise wird etwas nicht Existierendes mit Realität angereichert; das erleichtert dem Klienten eine umfassendere Sichtweise, die ihn von den Begrenzungen und dem engen Verständnishorizont seiner Kindheit befreien.
Es geht also nicht nur um die Reduktion oder Befreiung von negativen Affekten, welche die Gegenwart des Betreffenden einschränken und positives Handeln bisher behindert haben, sondern idealerweise um eine rückwirkende Umwandlung in angemessene Gefühle. Hierdurch können die spezifischen Kindheitssituationen für denjenigen auch zu wichtigen
Die Vergangenheit eines Menschen ist nicht veränderbar, jedoch lässt sich die Erinnerung daran umbauen.
Lernerfahrungen werden, welche die Sicherheit und das Vertrauen in seine Fähigkeiten und Entscheidungen stärken und seine Chancen erhöhen, in eine authentischere, befriedigendere, glücklichere und folglich auch gesündere Zukunft zu schreiten.
Rückblickend auf 30 Jahre therapeutische Arbeit, bei der sich mir häufig die Gelegenheit bot, mit dieser Methode zu arbeiten, und die ungezählten Seminare, in denen ich den Februarmann-Ansatz trainieren, demonstrieren und folglich an meine Seminarteilnehmer weitergeben durfte, muss ich sagen, dass diese Methode vor dem Hintergrund des aktiven Nachbeelterns für mich die unschlagbare und unumstößliche Königin aller Interventionen ist.
Christoph Mahr
Heilpraktiker für Psychotherapie, Dozent, Trainer und Autor
Christoph Mahr: Praxishandbuch
Integrative Psychotherapie. Springer Verlag