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Mit dem Atem fängt unser Leben an

Betrachtungen und Entwicklungen auf der Grundlage des erfahrbaren und zugelassenen Atems sowie von Atem- und Körperpsychotherapie

Atem ist in jedermanns Munde und seine Lebenskraft in unserem Körper in seiner Gesamtheit von Leib, Seele und Geist erfahrbar. Spürbar und ganz ureigen erlebbar, wenn wir lernen, ihn zuzulassen, und ihm erlauben, unseren Körper zu durchdringen. Wenn wir – frei nach C. G. Jung – den Atem als lebendige Verbindung zwischen unserem Selbst, also unserer Ursprünglichkeit auch schon vor der Geburt begreifen wollen und unserem Ich, das sich erst nach der Geburt durch Prägung und Erziehung ausformt. Das ist die Brücke, die uns der Atem in unserer ganz eigenen Art baut.

Eine Grundlage für diesen Weg, den uns der Atem in unserem Körper weisen kann, ist die Atemarbeit nach Prof. Ilse Middendorf. Als ich mit dieser Atemarbeit bekannt wurde, hatte ich schon eine 30-jährige Berufszeit als Opern- und Konzertsängerin hinter mir. Allerdings hatte ich mir diesen Beruf nach einem stimmlichen Crash vor Beginn eines Engagements an einem großen Opernhaus ganz neu erarbeiten müssen. Durch den übergroßen Krafteinsatz, den ich meinen Stimmbändern zumutete, hatte ich mir ein Ödem angesungen.

Ein berühmter Sänger-HNO (Dr. Kürsten aus Wien) und eine Logopädin haben mir dann die Notwendigkeit eines anderen Umgangs mit der Stimme aufgezeigt. Spannung statt Druck und Energie- und Kraftbalance im Stimmgebrauch hätte man entsprechend dem Volksmund überschreiben können: „Vor Inbetriebnahme der Stimmbänder den Atem der Situation angemessen miteinbeziehen!“ Ich habe also schon während meiner Sängerkarriere mit einer Art logopädischer Atemhygiene gesungen und gespielt.

Atem trägt als Erkenntnisweg zur Gesundung und Ganzwerdung bei.

Erst später lernte ich die Atemarbeit von Prof. Ilse Middendorf kennen. Ihre wirklich einfache Aufforderung lautet: „Wir lassen unseren Atem kommen, wir lassen ihn gehen und warten, bis er von selbst wiederkommt.“

Dieses zulassen und geschehenlassen – ohne mein Eingreifen – ganz im eigenen Atemrhythmus hat mich von da an mein Atemgeschehen in einer neuen Weise erleben lassen. Ich habe den Unterschied zwischen dem willentlichen Atem, den wir ja beim Sprechen und auch beim Denken gebrauchen, und dem zugelassenen bewussten Atem kennengelernt. Unbewusst atmen wir ja seit unserer Geburt. Willentlich verlängern wir das Ausatmen in unserer Sprache, nach der Interpunktion oder auch nach Pausen, die uns z. B. ein Komponist in der Musik vorgibt. Aber in der Wahrnehmung von unserem ganz eigenen Atemrhythmus spüren wir den erfahrbaren, zugelassenen Atem. Diesen Atemrhythmus empfangen wir aus der Medulla oblongata – unserem Körperreflexzentrum, in dem sich auch das Atemreflexzentrum befindet. Das war für mich der Weg, in einer neuen Weise Ruhe, Spannung und Entspannung in einem körpereigenen Tonus zu spüren: Hypotonus – Hypertonus – Eutonus.


Auch haben mir die Atemübungen von Prof. Ilse Middendorf die Unterscheidung zwischen Empfindung und Gefühl gezeigt. Eine reine Empfindung ist eine spürbare Erlebnisreise, z. B. heiß – kalt, weit – eng, prickelnd – brennend und ist auf den Innenraum im Körper bezogen. Ein Gefühl ist immer Teil unserer Vorgeschichte, also bewertend. All das als Empfindung und Fühlen Beschriebene entspricht den Bewusstseinsfunktionen nach C.G. Jung (Abb. 1). Aber der Weg vom unbewussten zum bewussten Atemerleben in den fünf Räumen (unten, mitte, oben, außen, innen) über die fünf Sinne führt uns auch zur Beziehungsfähigkeit und zum Kontakt mit unserer Umwelt.

Wir lernen durch die Übungen mit dem erfahrbaren, zugelassenen Atem zuerst die oberen Atemwege (Nase, Kopfhöhlen, Mund, Rachen) und die unteren Atemwege (Kehlkopf, Luftröhre, Bronchien, Lunge) wahrzunehmen. Die Einleitung des Atems in den oberen Atemweg und der Gasaustausch im unteren Atemweg, die Erwärmung und Befeuchtung der Atemluft sind natürlich wichtige Faktoren in unserem Atemgeschehen. Die Sammlung in die Empfindung bringen uns Ruhe und Gelassenheit.

Meine allererste Übung aus dem erfahrbaren, zugelassenen Atem lautet: „Wir legen die Handmitten unter die Brustbeinspitze auf dem Zwerchfell übereinander. Wir lassen den Atem durch unsere Nase einfach kommen. Wir holen ihn nicht! Wir lassen den Ausatem einfach gehen und verlängern ihn nicht! Das Wollen und Denken treten in den Hintergrund. Wir erfahren, ob sich nach dem Ausatmen spürbar eine Pause einstellt, bis der nächste Einatem von selbst wieder kommt.“

Die Pause ist übrigens eine organische Pause und nicht willentlich herbeigeführt, so wie diese bei anderen Atem- und Entspannungstechniken in vielen Übungen gemacht wird. Die Atemarbeit nach Prof. Ilse Middendorf zielt eben nicht nur auf das Auflösen von Symptomen ab, sondern diese will uns zum ganzheitlichen Verstehen der Ursachen für die Symptome führen.

Diese allererste Übung ist eine echte Basis für alle weiteren Übungen, die das Ziel haben, die Körperempfindung zu sensibilisieren und zu stärken. Sie ist eine wichtige Basis für alle therapeutischen Atembehandlungen, die innerhalb einer Therapie zu Asthma, COPD, Long-COVID, Post-COVID zusammen mit der ärztlichen Versorgung beitragen. Je nach Schweregrad dieser Erkrankungen kann mithilfe dieser Atemtherapie neben einer möglichen Senkung des Medikamentenbedarfs eine Selbstwirksamkeit zum Umgang mit der Krankheit gefunden werden. Diese Sammlung und Wahrnehmung der eigenen Körperempfindung kann aber auch – nicht zuletzt während der Atemübungen – Bilder in uns aufsteigen lassen. Manche dieser Bilder bringen uns dann bei längerem und tieferem Empfinden in unserem Leib zu grundlegenden Anschauungen oder Erkenntnissen in unserer Seele und unserem Geist.


FALLSTUDIEN

Eine Klientin war kein Wunschkind und ihre Mutter hatte im 7. Monat ihrer Schwangerschaft einen schweren Sturz von einer Treppe. Meine Klientin sah diesen Vorgang plötzlich ganz lebendig in sich auftauchen und auch wie sie dabei dachte: „Nein – ich will überleben!“ Der Atem hatte ihr, ähnlich wie bei einer Trance in der Hypnosystemik nach Milton Erickson, dieses Neuerleben der alten Situation gebracht. Nach längerer Arbeit mit dieser Klientin hat sich die Erinnerung von diesem Sturzerlebnis organisch neu eingestellt. Sie sagte mir dann, sie hätte gedacht, dass sie trotzdem überleben wollte und man sie nicht loswerden kann. Das war eine Schlüsselerkenntnis und Ressource für das Leben der Klientin.

Eine andere Klientin kam durch das Wahrnehmen ihres Geruchsinns auf eine für sie wichtige Spur. Sie hatte nach einem Streit mit ihrem Ehemann sein getragenes T-Shirt vor sich hingeworfen und stellte sehr erstaunt, aber auch ergriffen fest, dass dieses wie ihr

Ich entdecke und weiß um meine Ressourcen. Ich vertraue auf meine Lebenswege und Lösungen.

Der Atem ist das AundO des Lebens.

 

Vater roch. Eine tiefgehende Wahrnehmung war dies für sie, auf der wir dann neu weiterarbeiten konnten. Durch die Schilderung dieser zwei Fallbeispiele kann ich bestätigen, dass der Atem in unserem Körper (Leib, Seele, Geist) essenzielle Wege zu uns selbst aufzeigen kann. Der Atem trägt als Erkenntnisweg zur Gesundung und Ganzwerdung bei. Meine hypnosystemische Weiterbildung nach Milton Erickson hat dazu geführt, dass ich Klienten eine Trance anbiete. Diese neuen handwerklichen Grundlagen konnte ich allerdings nur auf der Basis des erfahrbaren, zugelassenen Atems in ihrer Tiefe ganz erfassen.

Dabei war die Erfahrung mit dem Atem in meiner 30-jährigen Tätigkeit als Sängerin äußerst hilfreich. Da ist mir der Atem, mein Gesang, meine körperliche Sammlung in der Empathie für eine andere Person und Rollen ein beständiger und sicherer Helfer – auch in der Feinstofflichkeit des Atems, die ich in meiner Arbeit an Rollen und Liedern zur Interpretation und zur Kommunikation mit meinem Publikum brauchte. Zuletzt schlage ich noch ein neues, weiteres Kapitel bei der atemtherapeutischen Arbeit auf: Die Vokal-Atemraum-Arbeit, das Spüren der Atembewegungsräume von Vokalen und Konsonanten im Körper. Zu den Letzteren gehören sowohl eine exakte Lippenarbeit sowie das Bewusstmachen des Mundraums. Grundlage dafür ist die Körperempfindung. Atem ist Kommunikation, Miteinander und das ganzheitliche, körperliche Erleben dieses Miteinanders.


Und daher ist der Atem hilfreich bei Problemen mit sich selbst: Ängsten, übermäßigen Trauerreaktionen, Zwängen, Panik, Burnout – aber auch bei Problemen im Verhältnis zu anderen: Lampenfieber, Hierarchieund Partnerschaftsproblemen, Mobbing.

Die Unterscheidung von Empfindung und Gefühl ist bei all diesen Problemen eine wichtige Grundlage, die die Klienten mit dem erfahrbaren, zugelassenen Atem erlebt haben, und die sie jetzt im Sinne einer köperpsychotherapeutischen Ressource nutzen können. Denn was ich authentisch empfinde und bin, wird zu meinem eigenen Weg bei der Lösung eines Problems oder einer Aufgabe. Ich gebe mir aus meinem Atem- und Körpererleben Sicherheit und vertraue in mich. Ich bin da in meiner ganzen Präsenz und Ausstrahlung.

In der Hypnosystemik sagt man: „Ich entdecke und weiß um meine Ressourcen. Ich vertraue auf meine eigenen Lebenswege und Lösungen.“

Das ist auf der Basis des erfahrbaren, zugelassenen Atems ein zuweilen längerer Übungsweg, andererseits aber durch Selbstbeobachtung und -erkenntnis durch tiefe Wandlung und Nachhaltigkeit geprägt. Neben dem selbstverantwortlichen Üben ist die Behandlung auf der Liege ein zentraler Teil. Dabei ist der Klient angezogen und der Therapeut spürt genau den Atemrhythmus des Klienten, spiegelt diesen, macht ihn so nutzbar für die Selbstwerdung.

Wer diesen Weg geht, weiß, dass es ein Weg zur inneren Geborgenheit und Sicherheit ist: ganz bei und eins mit sich selbst.

Der Atem ist für mich das A und O des Lebens – die Brücke zu unserem Leben!

Elisabeth-Maria Wachutka
Internationale Karriere

als Opernsängerin, Gesangslehrerin/-pädagogin, Atemtherapeutin, Heilpraktikerin für Psychotherapie

und Heilpraktikerin in Bad Waldsee

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