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Die Bedeutung der Liebe in der Beratung und Therapie - Teil 2:  Vertrauen zu sich selbst und anderen

„Das Edelste an der Liebe ist das Vertrauen zueinander.“
Julius Grosse

349130912 KletternUrvertrauen vs. Urmisstrauen. Eine entscheidende Voraussetzung für ein gesundes, glückliches und erfülltes Leben ist das Vertrauen sich selbst und anderen gegenüber. Gemäß den acht psychosozialen Entwicklungsstufen nach Erik Erikson wird der Mensch bereits in seiner frühesten Kindheit in Bezug auf sein Vertrauen geprägt. So geht es auf der ersten Stufe um das Urvertrauen bzw. das Urmisstrauen. Sie beginnt bereits bei der Geburt und erstreckt sich auf das ganze erste Lebensjahr.

Als Urvertrauen beschreibt Erikson ein Gefühl des „Sich-verlassen-Dürfens“ in Bezug auf andere und auf sich selbst. Der Begriff Urvertrauen kommt daher, dass einem diese Erfahrung kaum bewusst ist. Das Kind erwirbt ein Gefühl von Ich-Identität, ist scheinbar entspannt und ohne Probleme.

Die liebende Mutter und der liebevolle Vater werden im Idealfall zu einer „inneren Gewissheit“ und werden in Spannungssituationen als Helfer angesehen. Außerdem stützt sich das Kind auf Empfindungen und Bilder, die eine Art Vertrauensbasis in Abwesenheit der zuverlässigen Personen darstellen. Das Kind erfährt ein Gefühl von Gegenseitigkeit. Geben und etwas bekommen sind entscheidende Faktoren dieser Entwicklungsstufe.

Die emotionale Geborgenheit, die körperliche Fürsorge und stabile Kontaktpersonen im ersten Lebensjahr bedingen entscheidend die Ausbildung einer vertrauensvollen Grundhaltung gegenüber den eigenen Fähigkeiten, dem offenen Umgang mit anderen und der optimistischen Grundhaltung im Blick auf die Welt.

Insbesondere wenn sich das Urvertrauen nicht gut entfalten konnte bzw. verletzt wurde, äußert sich das in vielfältiger Weise, z. B. in Beziehungsproblemen, Krankheiten und Unzufriedenheit. So zeigt sich bei vielen meiner Klienten, dass sich in Bezug auf ihre persönliche, familiäre und berufliche Situation immer wieder Schwierigkeiten ergeben bzw. dass ihr Potenzial nur zu einem Bruchteil zur Entfaltung kommt.

Vorgehensweise zur Entfaltung des Vertrauens

Je nachdem, was die jeweilige Person als Anliegen mitbringt bzw. welches Ziel sie erreichen will, gehe ich mit meinen Klienten als Erstes auf Entdeckungsreise, um herauszufinden, was dazu dient, dieses Anliegen zu lösen bzw. das Ziel zu erreichen. Danach geht es darum, zu erkennen, welche Hindernisse bestehen und wie sie gelöst werden können. Insbesondere benutze ich vier Werkzeuge zur Förderung des Vertrauens bzw. zur Lösung des Misstrauens:

1. Psychoedukation

Ein paar grundsätzliche Informationen dienen als erster Schritt, um das Phänomen des Vertrauens zu verstehen und somit verantwortlich damit umzugehen. Ich habe in meinem Buch „Liebevolles Dasein“ der Wirklichkeit des Vertrauens ein eigenes Kapitel gewidmet und gebe es gerne an meine Klienten weiter. Zudem ist es für viele Menschen schon eine Erleichterung, zu wissen, dass es für viele Menschen eine Herausforderung ist, vertrauens- und liebevoll mit sich selbst und anderen Menschen umzugehen. Es geht in diesem Schritt in erster Linie darum, die Situation so gut es geht zu verstehen und anzunehmen, wie sie ist, d. h. insbesondere, sich selbst anzunehmen mit allem, was da ist.

2. Atemübungen

Zur Stärkung des Vertrauens bzw. zur Linderung des Misstrauens sind Atemübungen sehr hilfreich. Der Vorteil dabei ist, dass sie im Prinzip immer durchgeführt werden können, da uns der Atem zu jeder Zeit zur Verfügung steht. Allein das Bewusstsein, dass uns der Atem geschenkt ist, dass es wie von selbst in uns atmet, kann das Vertrauen in uns und in das Leben wachsen lassen. Ich unterstütze meine Klienten dabei, aus der Vielzahl von Atemübungen diejenigen (maximal zwei) auszuwählen, die für sie am besten sind. Zwei meiner Favoriten seien hier genannt:

4/7/8-Atemübung
Bewusstes Atmen und dabei vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden den Atem anhalten und acht Sekunden ausatmen. Das Ganze viermal wiederholen. Dies kann gerne zwei- bis dreimal pro Tag praktiziert werden. Begleitet bzw. unterstützt werden kann es durch stimmige Sätze, z. B. beim Einatmen: „Ich bin“; beim Anhalten des Atems: „voller“; beim Ausatmen „Liebe“ („Vertrauen“ oder „Licht“).

Anleitung zu einer Atemübung
Setzen Sie sich bitte auf einen bequemen Stuhl und entspannen Sie, so gut es geht. Spüren Sie, wie Ihre Füße den Boden berühren und nehmen Sie wahr, wie Ihnen dies Sicherheit und Halt gibt. Sie können auch die verschiedenen Bereiche Ihres Körpers wahrnehmen. Achten Sie dabei besonders auf Ihren Atem. Folgen Sie behutsam der Körperwahrnehmung des Einatmens, des Ausatmens und der Stille des Atems vor dem nächsten Atemzug. Geben Sie Ihren Atem frei für seinen Rhythmus.

  • Spüren Sie den Boden, der Sie sicher trägt.
  • Bei jedem Atemzug lassen Sie den Atem los, der ausströmt.
  • Dann tauchen Sie am Ende des Ausatmens in die Stille ein.
  • Nehmen Sie offen den neuen Atem an, der in Sie strömt.
  • Atmen Sie noch so lange bewusst ein und langsam aus, wie es für Sie angenehm ist.
  • Nun können Sie wieder unbewusst weiteratmen in dem Vertrauen, dass Ihnen alles Wesentliche zur rechten Zeit geschenkt wird.
  • Gleichzeitig können Sie ruhig und gelassen loslassen und Vertrauen schenken.

Das Ein- und Ausatmen ist ein wunderbares Beispiel für das Prinzip der Gegenseitigkeit: Uns wird Atemluft geschenkt und wir lassen Atemluft wieder frei.

Diese Übung kann immer wieder durchgeführt werden, auch in verschiedenen Variationen, z. B. mit geschlossenen Augen. Je öfter und länger sie praktiziert wird, umso mehr bewirkt sie ein Mehr an Entspannung und Vertrauen.

3. Fragen

Gezielte Fragen, was die jeweilige Person in Bezug auf das Vertrauen zu sich selbst, zu anderen und zum Leben generell denkt. Diese Gedanken beeinflussen entscheidend die jeweiligen Gefühle und das Verhalten. Bereits im Gespräch lassen sich so wichtige Erkenntnisse gewinnen. Insbesondere die Antworten auf die Fragen, was die jeweilige Person von sich selbst denkt, sind sehr aufschlussreich.

Dabei können die verschiedenen Lebensbereiche und -situationen beleuchtet werden. Typische Fragen sind z. B.:

  • Was denken Sie von sich, wenn Sie aufstehen?
  • Was denken Sie von sich, wenn Sie XY (Ihrem Partner, Ihren Kindern, Ihrer Mutter, Ihrem Vater, Kollegen ...) begegnen?
  • Was denken Sie von sich, wenn Sie arbeiten?
  • Was denken Sie von sich, wenn Sie ausruhen?
  • Was denken Sie von sich, bevor Sie schlafen?

Mit der Zeit bekommen meine Klienten gute Übung und vielen bereitet es Freude, sich auf Entdeckungsreise in ihre eigenen Gedanken zu begeben.

Die Gedanken, die für ein vertrauens- und liebevolles Leben hinderlich sind, gilt es zu ändern bzw. zu lösen. Dabei unterstütze ich meine Klienten insbesondere durch Übungen gemäß dem folgenden Punkt.

4. Visualisierungsübungen

Bei diesen Übungen begleite ich die Klienten dahingehend, dass sie in sich entdecken, was dazu dient, Vertrauen zu entwickeln bzw. Hindernisse zu lösen. Zuerst geht es darum, dass die jeweilige Person durch aussagekräftige Symbole, wegweisende Worte und positive Bilder (Szenen) das Vertrauen in sich selbst und die anderen aktualisiert. Sofern erforderlich und gewollt, kann im zweiten Schritt das gelöst werden, was das Vertrauen blockiert bzw. verletzt hat. Es sind meist frühkindliche Ereignisse (Traumata), die das Vertrauen in uns, andere und das Leben insgesamt erschüttert haben.

Im Lösungsprozess erkennt die jeweilige Person, dass sie oft durch die nächsten Bezugspersonen (insbesondere Mutter und/ oder Vater) verletzt wurden. Außerdem erkennen die Klienten, dass die Person, durch die sie verletzt worden sind, selbst verletzt worden ist und im Grunde so gut, wie es in diesem Moment möglich war, gehandelt hat. Diese Erkenntnis bildet den Nährboden, um von ganzem Herzen vergeben zu können. Und gerade die Vergebung bewirkt die Lösung bzw. Verwandlung. Dies werde ich im dritten Teil „Die befreiende Wirkung der Vergebung“ näher erläutern.

Überwindung der Angst vor der eigenen Größe

Abschließend möchte ich auf ein interessantes Phänomen hinweisen: Ich finde es immer wieder bewerkenswert, dass es für viele Menschen eine Herausforderung ist, sich für das zu öffnen, was an Gutem und Schönem in ihnen ist. Ich erlebe immer wieder, wie es für viele Menschen ein Über-den-eigenen-Schatten-Springen ist, sich bei den Visualisierungsübungen für das Positive zu öffnen, das in ihnen steckt. Dies ist jedoch sehr aufbauend und befreiend. Meine Klienten erkennen so wesentliche Wahrheiten von sich selbst, z. B.

  • Ich bin gut.
  • Ich bin groß.
  • Ich bin voller Liebe.
  • Ich bin schön.
  • Ich bin wertvoll.

Wenn ich dann nachfrage, was sie groß, wertvoll usw. sein lässt, dann kommt früher oder später diese Erkenntnis: mein eigenes Sein! Es ist eben nicht die Leistung oder eine andere Person, die uns groß sein lässt, sondern schlicht und einfach unser Dasein. Und genau das ist sehr befreiend. Es befreit u. a. von dem Erwartungsdruck, den andere und wir selbst ausüben, und nicht zuletzt von der Angst, seine eigene Größe zu entfalten und das eigene Licht erstrahlen zu lassen. So kann sich das Vertrauen zu uns selbst, zu den anderen und zum Leben insgesamt wunderbar entfalten.

Michael LeberleMichael Leberle
Heilpraktiker für Psychotherapie, Coach und Kursleiter

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Foto: ©emerald_media