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Ängste bei Kindern verstehen und begleiten

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Kindliche Ängste können Eltern und Pädagogen sehr betroffen machen. Nicht immer sind diese Ängste als „abweichend“ zu bezeichnen, denn Angst gehört zum seelischen Entwicklungsprozess des Kindes. Nur wenn Ängste überwunden werden, kann das Kind an Stärke und Ich-Reife gewinnen. Würden wir Kinder vor jeder Herausforderung, die mit Angst verbunden ist, schützen, würden sie wichtige Entwicklungsprozesse nicht vollziehen. Angst ist zudem ein Schutz- und Warnsignal, denn nur dadurch erkennen wir Gefahren und schätzen ein, was wir bewältigen können und was nicht.

Doch oftmals ist für Begleitpersonen nur schwer erkennbar, ob das Angstverhalten des Kindes im „Normalbereich“ liegt oder therapeutische Hilfe notwendig wird. Auf jeden Fall ist es wichtig, kindliche Ängste und Sorgen ernst zu nehmen und zu beobachten, damit einer eventuellen sich entwickelnden Angststörung vorgebeugt werden kann. Nicht behandelte Ängste können sich als psychosomatische Beschwerden, Phobien, Schulangst, Bindungsstörungen, Beziehungsstörungen, depressive Verstimmungen, Suchtverhalten und andere seelische Auffälligkeiten manifestieren.

Manchmal setzen Eltern die Ängste ihrer Kinder auch mit Charaktereigenschaften wie „Zurückhaltung“ oder „Schüchternheit“ gleich. Sicherlich haben Kinder unterschiedliche Temperamente und Persönlichkeiten, jedoch sollte, sobald eine Angst über längere Zeit anhält, diese abgeklärt und ihre Ursachen hinterfragt werden.

Das Wort Angst wird abgeleitet aus dem lateinischen Angustiae, was soviel bedeutet wie „Enge“. Diese Enge empfinden auch Kinder, die unter Ängsten leiden. Das Spiel- und Sozialverhalten ist häufig nicht altersentsprechend, der Aktionsradius gegenüber anderen ist deutlich eingeschränkt. Zudem sind die Symptome selbst mit „Enge“ verbunden; Atmung, Herzschlag, Muskeltonus, Haltung und Handlungsfähigkeit werden durch die Angst beeinflusst. Wenn Ängste das Kind an der altersgemäßen Bewältigung des Alltags hindern, ist dringend Hilfe erforderlich, denn sonst können wichtige Entwicklungsschritte nicht vollzogen werden.

Wenn wir den Ursachen kindlicher Ängste näherkommen wollen, müssen wir beachten, dass Kinder nicht nur aufgrund äußerer Gefahren Ängste entwickeln, sondern ebenfalls durch innerpsychische Vorgänge wie Fantasie, das Empfinden von Schuld und Versagen sowie Gefahrenvorstellungen, die Ängste auslösen können. Insbesondere die Schuldangst spielt bei der Psychogenese neurotischer Störungen eine große Rolle. Hinzu kommt, dass kleine Kinder noch eine sehr eingeschränkte Realitätswahrnehmung haben und Fantasie und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten können, sie verschmelzen in ihrer Wahrnehmung. Das prälogische Denkmuster fördert Angstvorstellungen und Phobien.

Eine nicht unwesentliche Rolle bei der Entwicklung von Ängsten nehmen Eltern ein. Kinder erspüren die Ängste der Eltern und spiegeln sie verstärkt wider. So übertragen Eltern, die selbst Angst haben, zu versagen und Dinge nicht richtig zu machen, diese Ängste auf ihr Kind. Dazu gehören auch Unsicherheiten in der Erziehung oder im Umgang mit dem Kind.

Sind angstmachende Gedanken erst einmal geboren, wie z. B. „Ich schaffe das nicht“, „Ich kann das nicht“, verfestigen sie sich schnell und können sich automatisieren, also auf andere Situationen übertragen werden.

Da Ängste bei Jungen noch weniger akzeptiert werden als bei Mädchen, zeigen sie sich bei Jungen oftmals anders. Äußerungsformen können z. B. Überaktivität und Nervosität, Aggressionen, Alpträume und Schlaflosigkeit, Clownerien, Verweigerung und Trotz, Beziehungsarmut und Spielstörungen sein.

Sollten Ängste außer Kontrolle geraten, ist dringend professionelle Hilfe angesagt.

Beraterinnen und Berater bzw. Therapeutinnen und Therapeuten sollten einfühlsame Gespräche mit den Eltern führen, denn das Thema Angst berührt oftmals tiefsitzende eigene Erlebnisse und Konfl ikte. Zudem ist eine genaue Beschreibung bzw. Beobachtung des Kindes notwendig, z. B.:

  • Klammert es sich an, wenn es in den Kindergarten soll oder in anderen Situationen sowie wenn Fremde auftauchen?
  • Ist es eher zurückgezogen, hat es nicht viele Kontakte und Spielkameraden?
  • Vermeidet es bestimmte Situationen absichtlich oder hat es Angst vor immer den gleichen Situationen?
  • Weint es häufig oder reagiert es abwehrend und aggressiv?
  • Wirkt das Kind insgesamt eher still und vorsichtig?
  • Wie sieht das Spielverhalten des Kindes aus? Spielt es abwechslungsreich? Ist es kreativ oder spielt es eher monoton?
  • Nässt es ein? Zeigt es andere regressive Tendenzen?
  • Wacht es nachts oft auf und weint, berichtet von Alpträumen oder möchte es nicht ins Bett?
  • Klagt es über Bauchschmerzen, Übelkeit oder andere Beschwerden?

Kindern hilft eine verständnisvolle Umwelt bei der Überwindung von Ängsten, jedoch können schwere innerpsychische Konfl ikte oder traumatische Erfahrungen zumeist nur mit psychotherapeutischer Hilfe gelöst werden. Innere Konfl ikte entstehen immer dann, wenn Ereignisse oder Anforderungen aus der Umwelt auf das schwache Ich des Kindes einwirken und es mit der Situation oder den Erwartungen nicht fertigwird. Die Angst hat dabei eine Signalfunktion des Ichs und zeigt damit, dass es mit den Gegebenheiten nicht fertig wird.

Fallbeispiel Nadine

2014-03-Aengste2Nadine ist fünf Jahre alt und besucht seit einem Dreivierteljahr den Kindergarten. Dort hat sie große Schwierigkeiten, sodass sich die Erzieherin an die Mutter wendet. Dadurch werden folgende Daten und Auffälligkeiten bekannt:

Nadine war als Baby sehr nervös und schrie viel. Die Geburt war unauffällig. Es gab zwischen den Eltern viel Streit, weil der Vater gern „zur Flasche griff“. Nadine schlief immer in ihrem Kinderbett im Schlafzimmer der Eltern und bekam erst mit vier Jahren ein eigenes Zimmer. Von dem Zeitpunkt an wollte sie abends nicht mehr ins Bett gehen, stellte sich „stur“, wenn es um die nächtlichen Vorbereitungsrituale ging, z. B. wollte sie spielen, statt zu Abend zu essen, sie wollte sich nicht den Schlafanzug anziehen und auch keine Zähne putzen.

Deshalb kam es zu Auseinandersetzungen mit der Mutter, die dann manchmal aus lauter Verzweiflung auf Nadine einschlug. Oft zeigte sich Nadine jedoch unbeeindruckt oder sie weinte so herzzerreißend, dass beide, Mutter und Tochter, hinterher auf dem Boden saßen und weinten. Der Mutter tat es dann immer wieder leid, die Beherrschung verloren zu haben.

2014-03-Aengste3Wenn der Vater das Gezanke mitbekam und dazwischenging, gehorchte Nadine sofort und ging ins Bett. Doch nachts kam sie weinend ans Bett der Eltern. Manchmal wachte die Mutter auf, weil Nadine frierend und schnatternd vor dem Bett der Eltern lag. Die Mutter brachte sie dann wieder zurück in ihr Bett.

Manchmal war morgens Urin im Bett, weil Nadine sich nicht traute, auf die Toilette zu gehen. Sie fürchtete, dass beim Aufstehen „etwas“ sie packen könnte, genau wie beim Atmen. „Es hört mich nur, wenn ich mich bewege oder atme“, hatte Nadine der Mutter erzählt und deshalb versuchte sie, sich nicht zu bewegen oder zu atmen, was natürlich nicht gelang. Wegen der Schimpfe, die Nadine drohte, wenn der Vater nachts wach wurde, blieb sie schließlich manchmal im Bett, doch dann wurden die Eltern durch ihr plötzliches Weinen geweckt. Nadine berichtete in diesen Nächten von Alpträumen, von Toten und Verwandten, deren Körper verstümmelt waren, und dass man sie jetzt holen würde. Sie sah Gespenster manchmal direkt in ihrem Zimmer herumlaufen. Es lässt sich vermuten, dass Nadine die Schatten durch eindringendes Licht, den Leuchtstecker und Augenflimmern wandern sah.

Auch ein Radio musste die Mutter aus ihrem Zimmer entfernen, denn Nadine sah im Bett liegend immer einen abstehenden Knopf ausfahren und auf sie zukommen, damit er sie „durchstach“.

Nadine ist heute elf Jahre alt. Dank einer dreijährigen spieltherapeutischen Behandlung innerhalb einer Erziehungsberatungsstelle hat Nadine ihre Ängste größtenteils überwinden können oder mit ihnen umzugehen gelernt. Der Aufbau von Bewältigungsstrategien ist ein wichtiges Element der Therapie.

Des Weiteren brauchen Kinder mit auffälligen Angstsymptomen:

Gelegenheiten zum freien Spiel!
Darin kann das Kind seine erlebte Welt darstellen und damit auch seine Ängste. Der Spieltrieb des Kindes wird in der Kinderpsychotherapie genutzt. Das Kind agiert im Spiel seine Gefühle aus, stellt Konfl ikte dar und kann sie mittels kreativer Lösungen überwinden. Auch übt das Kind im Spiel Problemlösungen und Verhaltensweisen für sein Leben und den Alltag. Wenn Eltern und Erzieher das Spiel begleiten, ist es möglich, Übungen zu integrieren, z. B. um Fähigkeiten der Selbstbehauptung, Selbstsicherheit und soziale Verhaltensweisen aufzubauen.

Kreative Ausdrucksmöglichkeiten!
Dazu gehört das freie Malen und Gestalten. Frei gemalte Bilder sind Nachrichten aus der Kinderseele. Da sich Kinder noch nicht wie wir Erwachsenen rational im Gespräch mitteilen können, senden sie ihre Botschaften z. B. über Bilder aus. Das freie Malen, aber auch Gestaltungsarbeiten mit Ton und anderen Materialien, sind wichtige Techniken in der Kindertherapie, können aber auch Pädagogen und Eltern einen tieferen Zugang zum Kind und seinen Seelenwelten verschaffen.

Rituale!
Für Kinder ist ihre Welt nicht überschaubar und eingrenzbar, sie müssen sich ständig mit neuen Dingen auseinandersetzen. Rituale in der Familie oder in pädagogischen Einrichtungen, die liebevoll gestaltet sind, strukturieren den Tag und das Jahr, lösen Gefühle von Sicherheit aus und schaffen intensive Beziehungserfahrungen. Gerade abendliche Rituale sind sehr wichtig, weil sie den Abschied vom erlebten Tag bedeuten und so noch einmal etwas Abstand von unverarbeiteten Geschehnissen und Problemen geben können, die es vielleicht gab.

Entspannungstraining!
Kinder im Schulalter können bereits sehr gut Übungen des Autogenen Trainings oder der Progressiven Muskelentspannung erlernen. Für jüngere Kinder eignen sich Geschichten, die Elemente des Autogenen Trainings enthalten und als Entspannungsgeschichten gekennzeichnet sind. Sie beinhalten einige Formeln, die der Loslösung und Entspannung dienen, aber nicht zwangsläufig mit regelmäßigem Training verbunden sind.

Eltern, die einfühlsam mit den Ängsten ihrer Kinder umgehen!
Die Ängste sollten nicht missachtet oder bagatellisiert werden. Es ist wichtig, dem Kind das Leben zuzutrauen und damit sein Selbstvertrauen zu fördern. Dem Kind sollten Chancen geboten werden, Aufgaben zu bewältigen und im allgemeinen Familienalltag kleinere Aufgaben zu übernehmen. Das fördert nicht nur Pflichtbewusstsein, sondern das Kind spürt, dass es nützlich ist in der Familie und sich einbringen kann. Wird den Kindern alles abgenommen und werden sie überbehütet, so machen wir sie abhängig und hilflos. Eigenschaften, die angstauslösend sind.

Kinder mit Ängsten brauchen das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Sie sollten nicht weggeschickt und mit ihren Sorgen allein gelassen werden. Manchmal müssen sich Eltern ihren eigenen Ängsten stellen, um ihren Kindern helfen zu können. Kinder müssen angemessen Lob und Ermutigung erfahren. Anerkennung stärkt das Selbstbewusstsein.

Zum Schluss bleibt zu erwähnen, dass jeder, der Kinder begleitet, wichtige Fähigkeiten besitzen sollte, um ihnen bei der Überwindung von Ängsten zu helfen: nämlich, ihnen zuhören zu können, das Bedürfnis, ihre Sprache und Signale zu verstehen, und ihnen Zeit und Geduld zu widmen. Verstandene, geliebte Kinder fühlen sich in ihrer Welt wohl und geborgen und belastende Ängste und Sorgen nehmen nur wenig Raum ein.

Literatur

  • Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1984, ISBN 978-3-5964-2001-8
  • Markus Schmid/Bernd Kohlhepp: Keine Angst mehr. Wie Kinder kleine und große Ängste besiegen, Christophorus-Verlag, Freiburg/ Breisgau, 1999, ISBN 978-3-4195-3309-3

Bettina Papenmeier Bettina Papenmeier
Dipl. Soz. Pädagogin, Dipl. Soz. Arbeiterin, dipl. Legasthenietrainerin, Lehrerin für AT und PME, geprüfte Psychologische Beraterin (VFP), freiberufl iche Begleitung von Kindern mit Lernauffälligkeiten, graphomotorischen Problemen, kreative Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im eigenen Atelier, Dozentin an der Paracelsus Schule Bielefeld (Weiterbildungen in Spieltherapie).
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