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Wann endet selbstbestimmtes Leben?

2014-03-Leben1

„Ich möchte in Frieden sterben, bevor die Krankheit mich überwältigt. Ich weiß, dass jeder Tag so kostbar sein wird wie eine Million Pfund, wenn ich weiß, dass ich dann sterben kann, wann ich will. Wenn ich wüsste, dass ich sterben darf, könnte ich leben. Mein Leben, mein Tod, meine Entscheidung.“
Bestsellerautor Terry Pratchett. Er leidet an Alzheimer-Demenz.

fotolia©Robert KneschkeBis zum Ende seines irdischen Daseins ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wer wünscht sich das nicht?! Doch während das Recht auf persönliche Freiheit und ein eigenbestimmtes Leben sogar in Artikel 2 des Grundgesetzes fest verankert ist, stellt der selbstbestimmte Tod in Deutschland ein umstrittenes, sensibles und sehr heikles Thema dar. Dies vor allem aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit, mit einem System, das sich anmaßte, zu entscheiden, was lebenswertes Leben ist und was nicht. Euthanasie (griechisch: euthanasía „guter Tod“, „gute Tötung“) hieß der Auslesemechanismus der Nationalsozialisten. Mehr als 70 000 Menschenleben – ausgelöscht durch Vergasungen oder Injektionen – gehen auf das Konto der sogenannten Rassenhygieniker.
Während in den meisten europäischen Ländern bereits weitreichende rechtliche Regelungen existieren, ist Sterbehilfe in Deutschland noch immer mit vielen Tabus behaftet. Lediglich die Beihilfe zur Selbsttötung (assistierter Suizid) ist unter bestimmten Bedingungen straffrei. Dabei muss der Sterbewillige selbstständig eine Substanz einnehmen, die ihm von einer anderen Person zur Verfügung gestellt wird. Der Helfer allerdings läuft hierbei Gefahr, wegen eines Verstoßes gegen das Arzneimittel- bzw. Betäubungsmittelgesetz oder wegen unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden.

Ein weiteres Problem stellt in Deutschland der ärztlich assistierte Suizid dar, wie der im Sommer 2011 von der Bundesärztekammer eingeführte Verbotsparagraf 16 dokumentiert, der die ärztliche Beihilfe zum Suizid standesrechtlich sanktioniert. Ein Verbot allerdings, das nicht alle Landesärztekammern übernommen haben. Hier könnten die Schatten der Vergangenheit eine besondere Rolle spielen, da im nationalsozialistischen Euthanasieprogramm Ärzte maßgeblich darüber bestimmten, wer mittels Euthanasie getötet wurde.

Doch gerade die historische Verantwortung fordert von Deutschland eine breite, offene Debatte ohne Tabus zu diesem Thema. Soll der Staat enge Grenzen ziehen und Beihilfe zur Selbsttötung verbieten oder der Selbstbestimmung größeren Raum geben und aktive Sterbehilfe erlauben, bei der das tödliche Mittel durch einen Arzt oder Angehörigen verabreicht werden kann? Wollen wir eine Liberalisierung der Sterbehilfe, sodass Menschen ärztlich begleitet selbstbestimmt sterben können, oder wollen wir weiter nach dem Motto leben: Selbstbestimmt leben, fremdbestimmt sterben?

Menschliches Leben ist das höchste, fundamentale, schützenswerteste Gut. Doch es gibt Situationen, wie z. B. im Verlauf einer unheilbaren Krankheit, in denen dieses Leben zur Last wird für den, der es leben muss, und in denen der Tod als Erlösung und guter Ausweg erscheint. Bei Menschen, die physisch nicht mehr in der Lage sind, sich das tödliche Mittel selbst zu verabreichen und mithilfe eines assistierten Suizids selbstbestimmt zu sterben, setzt die Debatte um aktive Sterbehilfe ein: Menschen, die z. B. unter ALS leiden (Amyotrophe Lateralsklerose), einer tödlich verlaufenden degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, und vollständig gelähmt sind oder bei Palliativpatienten, für die es keine Aussicht mehr auf Heilung gibt und bei denen die Schmerztherapie an ihre Grenzen kommt.

Viele offene Fragen ...

Niemand weiß, welches Schicksal jedem Einzelnen von uns am Ende des Lebens bestimmt ist – ob wir leiden müssen, ob es ein schneller Tod oder ein qualvolles Ende unter Schmerzen sein wird. Wollen wir nicht eingreifen und zulassen, dass Schmerzen bis zum bitteren, aber natürlichen Ende ertragen werden? Oder wollen wir die Möglichkeit auf einen selbstbestimmten würdevollen Tod legalisieren?

Der Staat sollte hier rechtliche Regelungen schaffen, die es jedem ermöglichen, individuelle Entscheidungen zu treffen. Politiker müssen Antworten auf die Frage finden, wie unsere Gesellschaft mit selbstbestimmtem Sterben umgehen will. Stattdessen aber diskutieren sie, ob die derzeitige Regelung in Deutschland beibehalten wird und Beihilfe zum Suizid straffrei bleibt oder ob weitreichende Einschränkungen erfolgen sollen.

Die Unionsfraktion jedenfalls ist fest entschlossen, jede Form organisierter Beihilfe zum Suizid durch ein neues Strafgesetz zu verbieten. Und wie wollen wir mit dem Thema der aktiven Sterbehilfe umgehen? Wir müssen uns mit der Tötung auf Verlangen auseinandersetzen, müssen darüber diskutieren, ob wir es erlauben wollen, dass der Tod eines Menschen absichtlich und aktiv durch andere herbeigeführt wird, und uns fragen, ob ein Arzt einem Patienten, der dies nicht mehr selbst tun kann, eine tödliche Medikamentendosis verabreichen darf.

Ob assistierter Suizid (Beihilfe zur Selbsttötung), aktive oder auch passive Sterbehilfe, bei der unter Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen dem natürlichen Verlauf einer Erkrankung nachgegeben wird – auf all diese rechtlichen Fragen müssen wir eine Antwort finden. Wie sieht ein würdevoller Tod aus? Was soll rechtlich erlaubt sein und wo wollen wir Grenzen ziehen?

Pro Sterbehilfe

70 % der deutschen Bevölkerung wünschen sich das Recht auf eine menschenwürdige, selbstbestimmte Beendigung ihres Lebens, so das Ergebnis einer aktuellen Forsa-Umfrage.

Mit anderen Worten: Zwei Drittel entscheiden sich bewusst dafür, dass einem selbstbestimmten Leben auch ein Recht auf einen selbstbestimmten Tod folgen soll.

55 % der Deutschen können sich im Alter einen Suizid aufgrund schwerer Krankheit, langer Pflegebedürftigkeit oder Demenz vorstellen, ergab eine andere Umfrage des Instituts TNS Forschung im Auftrag des Spiegel. Es geht also darum, dass todkranke Menschen oder Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung oder ihres Alters keine Lebensqualität mehr zu erwarten haben, in freier Entscheidung zu dem Entschluss kommen können, ihr Leben zu beenden und dann die notwendige Unterstützung dafür erhalten.

Auch für Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, ihr Leben aktiv selbst zu beenden, muss es Lösungen geben, mit denen sie ihre Würde bewahren und sich sinnlose Qualen ersparen können.

Contra Sterbehilfe

Natürlich gibt es Einwände, die durchaus berechtigt sind und bei der Suche nach einer Regelung berücksichtigt werden müssen. Dazu gehören ethische und religiöse Vorstellungen, die das Leben als wertvolles Gut oder Geschenk Gottes ansehen, über das man nicht selbstbestimmt verfügen darf. Einige Ethiker vertreten auch die Auffassung, dass jeder Mensch zwar ein Recht auf den eigenen selbstgestalteten Tod habe, dass daraus aber keineswegs ein Rechtsanspruch auf Beihilfe oder gar Tötung auf Verlangen abgeleitet werden dürfe.

Auch die Sorge darüber, dass eine Liberalisierung der Gesetzeslage womöglich Schleusen öffnen könnte, die man vielleicht nie mehr schließen kann, gehört zu den starken Argumenten derer, die assistierten Suizid und aktive Sterbehilfe weiter unter Verbot stellen wollen.

Eine Sorge, die immerhin 52 % der Bevölkerung teilen. Laut einer Umfrage des Instituts TNS Forschung fürchtet mehr als die Hälfte der Bevölkerung, dass, wenn die Politik Sterbehilfe durch Ärzte freigebe, Alte und Kranke sich mehr zum Freitod gedrängt fühlen könnten, um anderen nicht zur Last zu fallen.

Die katholische Kirche will das Leben Hilfsbedürftiger, Alter, Kranker und Verzweifelter unbedingt schützen, weil nicht selten der Wunsch zu sterben allein aus Einsamkeit und Verzweiflung heraus entsteht.

Auch ein anderer Einwand wiegt schwer: Die Frage, ob der Entschluss eines Sterbewilligen nicht nur aus einer vorübergehenden depressiven Verstimmung oder einer momentanen Mutlosigkeit resultiert. Niemand kann das garantieren.

Genauso wenig, wie wir wissen können, ob die Antworten, die wir heute auf diese Fragen haben, dieselben sein werden, wenn wir im Sterben liegen. Niemand weiß im Voraus, ob wir unser Leben auch dann noch lebenswert finden, wenn wir nicht mehr selbstständig essen, trinken und unsere tägliche Körperpflege verrichten oder eigenständig zur Toilette gehen können. Und so kann auch die Anweisung, die wir vor Jahren in einer Patientenverfügung gegeben haben, nur solange gültig sein, bis wir uns weiterentwickeln und andere Perspektiven einnehmen.

Doch die Entscheidung, „Ja“ zu sagen zum assistierten Suizid oder zur aktiven Sterbehilfe (sofern vom Gesetzgeber erlaubt), können wir nicht mehr rückgängig machen. Der Tod ist endgültig und gibt uns keine Korrekturmöglichkeit.

Das Leiden der Angehörigen

Auch die Angehörigen dürfen wir, wenn wir uns mit den Einwänden auseinandersetzen, nicht außer Acht lassen. Häufi g erleiden sie eine posttraumatische Belastungsstörung, wenn sie einen assistierten Suizid begleiten. In der Schweiz ist aktive Sterbehilfe zwar streng verboten (im Gegensatz zu Belgien, Luxemburg und den Niederlanden), eine Freitodbegleitung sterbenskranker Menschen jedoch ausdrücklich erlaubt. Sie wird in der Regel kostenpflichtig von Organisationen wie Ex International, Dignitas oder Exit durchgeführt.

Dabei gelten für die Durchführung eines solchen assistierten Suizids strenge Regeln: Wer sich für den Freitod entscheidet, muss im Vollbesitz seiner Urteilsfähigkeit sein, sein Todeswunsch muss dauerhaft bestehen und es muss – ärztlich bestätigt – eine hoffnungslose Prognose für den Leidens- und Krankheitsverlauf geben, der mit unerträglichen Beschwerden oder einer unzumutbaren Behinderung einhergeht.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, müssen bei der Einnahme des tödlichen Medikamentencocktails meist zwei Angehörige oder Freunde zugegen sein. Das Medikament wird am Tag des vereinbarten Todes von Freiwilligen zum gewünschten Ort – in der Regel in die Wohnung des Suizidwilligen – gebracht und persönlich überreicht: Für den „sanften, sicheren und würdigen Tod durch Einschlafen ... im eigenen Zuhause“, so lauten die Versprechen der Sterbehilfeorganisationen.

Doch für die Angehörigen ist dieser Abschied alles andere als harmonisch, wie eine Studie des Universitätsspitals Zürich ergab. Jeder fünfte Augenzeuge eines assistierten Freitodes leidet noch Monate später an einer posttraumatischen Belastungsstörung, bei knapp 5% stellten die Forscher eine komplizierte Trauer fest. Zeichen einer Depression fanden sie bei gut 16 %.

Viele der Angehörigen gaben an, dass sie mit niemandem über den assistierten Suizid der nahestehenden Person gesprochen haben, weil sie das Gefühl hatten, dass die Freitod-Entscheidung nicht respektiert würde. Oftmals haben die Hinterbliebenen von Menschen, die ihren Tod selbst bestimmen, mit Betäubung, aufgeschobener Trauer, Wut, Missbilligung und Scham zu kämpfen.

Die Suche nach einer rechtlichen Regelung

Natürlich müssen bei der Suche nach gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe alle gewichtigen Einwände geprüft und das Für und Wider sehr genau gegeneinander abgewogen werden.

Doch Politiker sollten dabei nicht der Versuchung erliegen, den Bürgern ihre individuellen ethischen oder religiösen Überzeugungen zur Sterbehilfe vorzuschreiben. Eine Entscheidung für oder gegen Sterbehilfe bleibt eine Gewissensfrage, die jeder nur ganz persönlich für sich selbst beantworten kann.

Der Gesetzgeber sollte sich darauf beschränken, Regelungen zu treffen, die dies auch möglich machen.

Denn wer selbstverantwortlich in aussichtsloser Situation um Beihilfe zum Suizid oder um aktive Sterbehilfe nachsucht, sollte sein Recht auf Selbstbestimmung auch ein letztes Mal – am Ende seines Lebens – wahrnehmen können.

Literatur

  • Sandra Maxeiner, Hedda Rühle: Dr. Psych’s Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Jerry Media Verlag, 2014 Band 1, ISBN: 978-3-9523-6720-9 Band 2, ISBN: 978-3-9523-6721-6

Dr. Sandra Maxeiner Dr. Sandra Maxeiner
studierte Betriebswirtschaftslehre und promovierte in Politik- und Sozialwissenschaften. Die Geschäftsführerin eines mittelständischen Unternehmens arbeitet ehrenamtlich als Hospizhelferin. Zudem ist sie Mitautorin der beiden o. g. Bücher.


Hedda Rühle Hedda Rühle

studierte nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester Psychologie. Sie ist Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Ausbildungen in Integrativer Psychotherapie sowie Familienstellen nach Hellinger. Seit 20 Jahren ist sie in Berlin in freier Praxis tätig. Außerdem ist sie staatlich anerkannte Dozentin für Pflegeberufe und Ausbilderin an der Deutschen Paracelsus Schule Berlin sowie Mitautorin der beiden o. g. Bücher.