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Was macht die Akzeptanz- und Commitment-Therapie so effektiv?

©Photocrea BednarekWelche Veränderungsprozesse finden in einer Psychotherapie statt und wie werden sie durch die Therapie aus gelöst? Eine Antwort auf diese Fragen liefert das Postulat allgemeiner Wirkfaktoren. Wirkfaktoren sind allgemein, wenn sie weder an ein bestimmtes psychotherapeutisches Verfahren noch an eine spezifische psychische Störung gekoppelt sind. Allgemeine Wirkfaktoren machen den größten Teil der Gesamtwirksamkeit von Psychotherapie aus. Der leider früh verstorbene Psychotherapieforscher Klaus Grawe hat fünf, durch zahlreiche Studien bestätigte, allgemeine Wirkfaktoren definiert.

Ziel dieses Beitrags ist, diese fünf allgemeinen Wirkfaktoren zu erläutern und sie dann in Beziehung zur Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) zu setzen. Es gilt also der Frage nachzugehen, wie die ACT als Therapieform zugleich die allgemeinen Wirkfaktoren erzielt und dadurch therapeutische Wirksamkeit entfaltet.

Die auf den amerikanischen Psychologen Steven Hayes zurückgehende ACT stellt eine Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie auf der Basis der Sprachtheorie, der Bezugsrahmentheorie und der Philosophie des Pragmatismus dar. Eine substanzielle Unterscheidung gegenüber früheren verhaltenstherapeutischen Verfahren besteht in der Erkenntnis, dass psychisches Leiden als normaler Bestandteil des Lebens erkannt wird. Leid ist demnach das Ergebnis krampfhafter und unflexibler Versuche, unerwünschtes Erleben, wie etwa Stress, Angst, Depression, Zwang oder chronische Schmerzen, kontrollieren und steuern zu wollen.

In der ACT wird daher nicht versucht wie bisher, „Symptome“ zu beseitigen und „Störungen“ zu korrigieren. Vielmehr geht es darum, eine größere psychologische Flexibilität durch das Lernen von achtsamer Akzeptanz zu entwickeln und dabei den Fokus auf engagiertes lebenszielorientiertes Handeln zu legen. Die ACT erweitert also die kognitive Verhaltenstherapie um Achtsamkeit und Akzeptanz bezüglich inneren Erlebens. Dabei werden Kognitionen funktionell betrachtet, statt wie im Falle der KVT zu versuchen, sie mechanistisch umzustrukturieren.

Im Folgenden werden die fünf allgemeinen Wirkfaktoren nach den Arbeiten Grawes dargestellt und ihre konzeptionelle Umsetzung durch die ACT erklärt, wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Beschreibung dieser Faktoren nacheinander den Eindruck erwecken könnte, als erschienen sie wie voneinander unabhängige Variablen. Dies ist jedoch nicht der Fall – vielmehr beeinflussen sie sich gegenseitig.

1. Problemaktualisierung

Es geht um das „Prinzip der realen Erfahrung“ und darum, wie Probleme der Klienten (immer m/w) im Hier und Jetzt innerhalb der Therapie unmittelbar durch Bewusstmachen und Äußern von aktuellen Gefühlen erfahrbar gemacht werden können. Beweggründe, Werte, Ziele und Wün sche der Klienten können verborgene und problematische Aspekte aufweisen. Es gilt, diese zu klären und bewusst zu machen.

Die ACT beschreibt dauerhafte Erlebnisvermeidung im Sinne eines ständigen Vorsich-Weglaufens als dysfunktionale Lebensbewältigungsstrategie, weil sie den Lebensraum verengt und somit eine flexible Reaktion auf Lebensereignisse verhindert. Der therapeutische Ansatz besteht darin, sog. kreative Hoffnungslosigkeit zu erzeugen: Durch die wiederholte Frage des Therapeuten nach bisherigen Lösungsansätzen („Was haben Sie gemacht, um … und was sonst noch … und sonst noch?“) und Aufzeigen, dass sie keine oder nur kurzfristige Linderung des Problems geboten haben („Wie hat das funktioniert und wie war es auf lange Sicht?“; „Was hat Ihre Strategie Sie gekostet?“), wird den Klienten klargemacht, dass ihre bisherigen Strategien gescheitert sind. Diese Erkenntnis wird durch geeignete Übungen und Metaphern verdeutlicht, was den Lernvorgang noch unterstützt.

Das macht den Weg frei für eine aktive Haltung der Akzeptanz im Sinne der Anerkennung und des Zulassens von Gedanken und Gefühlen (also die Abkehr vom Wegschauen und von der Vermeidung) als funktionierende Alternative. Die Klienten lernen an dieser Stelle auch, dass die Kontrolle über das Problem behalten zu wollen ein Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist. Unterstützend dazu werden sie durch Atemübungen zur achtsamen Beobachtung des eigenen Körpers, der Gedanken und der Gefühle angeleitet. Sie lernen loszulassen und werden dadurch im Hier und Jetzt gleichsam „geerdet“.

Im nächsten Schritt werden die Klienten zur wertegeleiteten Verhaltensaktivierung ermuntert, sodass der Fokus vom Problem verschoben wird hin zur wertegeleiteten Verhaltensaktivierung (also in einer gegebenen Situation das zu tun, was sie im Grunde ihres Herzens tun möchten). Die Frage ist dann nicht „Wie kann ich mein Problem lösen?“, sondern „Wie kann ich trotz meines (akzeptierten) Problems das tun, was ich eigentlich am liebsten tun möchte, und dadurch ein gelingendes Leben führen?“ Dieser Lernschritt kann auch durch geeignete „Hausaufgaben“ unterstützt werden. Wichtig ist hier zu erkennen, dass Akzeptanz nicht das Erdulden des Problems bedeutet. Vielmehr geht es um die aktive Akzeptanz einer Situation, die sich im Laufe der Zeit zum Besseren hinwenden kann.

2. Therapeutische Beziehung

Gute Therapiearbeit wird durch eine kooperative Beziehung sowohl vonseiten der Therapeuten wie auch vonseiten der Klienten befördert. Im Hinblick auf die Therapie haben sie vier Grundbedürfnisse, deren Erfüllung zum Erfolg der Therapie einen wichtigen Beitrag leisten. Es sind dies:

a) Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
b) Das Bedürfnis nach Bindung
c) Das Bedürfnis nach Wohlbefinden
d) Das Bedürfnis nach einem positiven Selbstwert

Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle bedeutet, dass Klienten die Erfahrung machen sollen, dass sie selbst bestimmen können, was passieren wird, und dass nichts über ihren Kopf hinweg entschieden wird. Sie sollen das Gefühl bekommen, Kontrolle über das Geschehen zu haben. Um das affektive Bedürfnis nach Bindung zu erfüllen, sollen sie die Erfahrung machen, dass jemand für sie da ist, der sie nicht zurückweist, auf den sie sich verlassen können und sich damit gut aufgehoben und sicher fühlen. Was das Wohlbefinden betrifft, sollen die Klienten die Erfahrung machen, dass sie sich in der Therapie wohlfühlen und lustvolle Momente genießen können. So soll der Eindruck entstehen, dass auch angenehme Gefühle in der Therapie Platz haben. Hinsichtlich ihres Selbstwertes sollen sie die Erfahrung machen, als Person wichtig und wertvoll zu sein. Sie sollen das Gefühl haben, geschätzt und akzeptiert zu werden.

Die Grundhaltung bei der ACT ist, dass Therapeut und Klient im gleichen Boot sitzen, wobei der Therapeut ein genuines Interesse hat, das Anliegen gemeinsam mit zu bearbeiten. Erlebnisvermeidung und kognitive Fusion (Verstrickung mit den eigenen Gedanken und Gefühlen) sind allgegenwärtig und betreffen auch Therapeuten, sodass die Selbstöffnung des Therapeuten (selbstverständlich stets nur in therapeutischem Interesse) Menschlichkeit und Authentizität vermittelt. Damit wird dem Bedürfnis der Klienten nach Bindung und Wohlbefinden Rechnung getragen.

Der Therapeut erklärt und klärt auf, und dies am besten ohne tiefschürfende, kopflastige Analysen, sondern mithilfe von Metaphern und Übungen und indem er einfach nach den Erfahrungen fragt. Dabei versucht er, die Bereitschaft der Klienten aufzubauen, um widersprüchliche Ideen, Gefühle oder Erinnerungen ihrerseits ungelöst stehen lassen zu können. Damit vermittelt der Therapeut Orientierung und die Kontrolle über die Therapie.

Die Auseinandersetzung mit dem Selbstwert nimmt als gesonderter Prozess einen wichtigen Platz bei der ACT ein. Durch die sog. „Beobachter-Ich-Perspektive“ (sein Selbst als Kontext allen Erlebens zu begreifen, anstatt an einem bestimmten Selbstkonzept festzuhalten). Dieser Lernprozess fördert die Akzeptanz und die kognitive Defusion im Sinne einer Selbstentstrickung bezüglich der Identifikation mit den eigenen Gedanken und Gefühlen, was in einen positiven Selbstwert mündet.

3. Ressourcenaktivierung

Im Falle der Ressourcenaktivierung geht es darum, die vorhandenen Potenziale der Klienten hervorzuheben und zu aktivieren. Die mitgebrachten Ressourcen sollen vom Therapeuten inhaltlich besprochen, erlebbar gemacht und bestätigt werden, um daraus zu lernen, diese für eine wünschenswerte Verhaltensänderung einzusetzen. Es geht dabei nicht nur um individuelle Fähigkeiten und Begabungen, sondern auch um interpersonelle Ressourcen von wichtigen Bezugspersonen, die von den Klienten genutzt werden könnten.

Die ACT greift gerne auf die Values in Action Inventory of Strengths (VIA-IS) zurück, ein Fragebogen, der von Martin Seligman und Kollegen vor dem Hintergrund der Positiven Psychologie entwickelt wurde. Eine deutsche Fassung wurde von Willibald Ruch und Kollegen an der Universität Zürich entwickelt und steht unter https://www.charakterstaerken.org/ zur Verfügung. Der Fragebogen basiert auf der Selbsteinschätzung von 24 allgemein wertgeschätzten Charakterstärken in den Kategorien Weisheit und Wissen, Tapferkeit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Transzendenz. In der Praxis zeigen sich die Klienten über das Ergebnis der Auswertung oft überrascht und die zwei oder drei wichtigsten Stärken verweisen auf wertvolle persönliche Ressourcen, die bei der gemeinsamen Erarbeitung und Festlegung von wertebasierten, engagierten und entschlossenen Handlungszielen (Commitment) genutzt werden können.

4. Problembewältigung

Hier geht es um aktive Hilfe zur Problembewältigung, wodurch die Klienten hilfreiche Strategien kennenlernn und ihre aktive Anwendung bei der Lösung von Schwierigkeiten und Störungen erlernen.

Wie bereits erwähnt, bedeutet Commitment in der ACT die gemeinsame Erarbeitung und Festlegung von wertebasierten, engagierten und entschlossenen Handlungszielen. Wichtig hierbei ist nicht der große Wurf am Anfang, sondern die Festlegung kleiner Schritte unter Beachtung der vorhandenen Barrieren, die der Zielerreichung entgegenstehen können. Bei der Definition der Ziele fragt der Therapeut nach der Wahrscheinlichkeit jeder Zielerreichung auf einer Skala von 0 bis 10.

Die Antwort darauf liefert Hinweise auf mögliche Barrieren, die gemeinsam besprochen und bearbeitet werden müssen. Die Zielschritte sollen stets in eine positive Richtung weisen, d.h. positives Handeln in Übereinstimmung mit den Werten der Klienten beinhalten. Für die Ziele und deren Erreichung übernehmen diese selbst die Verantwortung. Das Wort Commitment verweist bereits auf diese Eigenverantwortung. Auch in diesem Prozess setzt die ACT eingängige Übungen und Metaphern ein.

5. Motivationale Klärung

Schließlich geht es bei der motivationalen Klärung darum, die Bedeutung des Erlebens und Verhaltens im Hinblick auf unbewusste Werte und Ziele zu erforschen und diese bewusst zu machen. Es geht darum, zu erkennen, wodurch psychisches Leid determiniert und aufrechterhalten wird.

Nach der ACT handelt es sich bei Werten um frei gewählte Orientierungen, die keiner weiteren Begründung bedürfen und die für sich genommen unsichtbar sind, aber fortlaufend durch Verhaltensmuster abgebildet werden. Sie bedeuten, eine Richtung, einen Weg im Leben zu wählen und sich danach zu verhalten, sodass man den Lebenszielen auf dem Weg durchs Leben näherkommt. Ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein, ist dafür ein Beispiel. Lebenswerte sind häufig unklar, weil sie unter einem Berg von Erlebnisvermeidung, Fusion mit den eigenen Gedanken und Gefühlen und ständiger Beschäftigung mit Vergangenheit und Zukunft sowie unter dem festen Glauben an Selbstnarrative vergraben sind. Um zu den ureigenen Werten vorzudringen, werden Metaphern, wie die Grabmetapher oder die Metapher über die Verabschiedung in den Ruhestand, eingesetzt. Im ersten Fall sollen sich die Klienten das eigene Grab vorstellen und lesen, was auf ihrem Grabstein steht. Im zweiten Fall geht es darum, sich seine Feier zur Verabschiedung in den Ruhestand vorzustellen, zu „hören“, was der Chef und die Kollegen in ihren Reden zu sagen haben. Auf diese Art und Weise kann man tiefer nach den Lebenswerten graben. Werte dürfen nicht mit Zielen verwechselt werden. Letztere sind Meilensteile für das Handeln im Bewusstsein, was und wie man als Mensch sein möchte.

Fazit und Fallbeispiel

Diese Analyse zeigt, dass alle fünf von Grawe definierten allgemeinen Wirkfaktoren durch die ACT erzielt werden. Das liefert eine Erklärung dafür, warum das Verfahren effektiv ist. Dessen ungeachtet liegt inzwischen eine Vielzahl störungsspezifischer wissenschaftlicher Untersuchungen vor, deren Befunde bestätigen, dass die ACT gleich gute und zum Teil bessere Ergebnisse als andere Therapieformen vorzuweisen hat.

Einmal rief eine Patientin bei mir an und bat um einen Termin. Sie sprach am Telefon sehr leise, wirkte zaghaft und ich konnte hören, dass ihre Mutter wohl neben ihr stand und auf das Zustandekommen eines Termins drang.

In der ersten Sitzung fiel sie mir durch einen in sich gekehrten Blick auf. Sie gab mir die Hand so, als ob diese nicht zu ihr gehörte, als hätte sie einen weichen Lederhandschuh auf dem Fußboden gefunden und diesen bei mir abgeben wollen. Die Patientin, Ende 20, nahm Platz und erzählte, dass sie zweimal nahe am Selbstmord gewesen war. Ein Jahr vorher war sie für einige Wochen in der Psychiatrie zur Behandlung und sollte demnächst eine Kur zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit antreten.

Die Selbstmordgedanken kamen ihr, als sie zwei Jahre zuvor im Ausland studierte und sich aus Angst vor Menschen und ihrer gesamten Situation extrem überfordert fühlte. Sie brach das Studium ab, kehrte zurück nach Hause und begann eine Lehre als Köchin in einer fernen Stadt. Nach einiger Zeit stellte sich die gleiche Art der Überforderung ein und die Selbstmordgedanken kehrten ein zweites Mal zurück.

Sie begab sich in ärztliche Behandlung und es wurde zunächst eine schwere, später eine mittelgradige Depression diagnostiziert, wobei sie krankgeschrieben wurde. Sie gab an, keine Medikamente zu nehmen, und lehnte diese kategorisch ab. Vor ihrer Kur wollte sie einige Male zu mir kommen.

Eine akute Selbstmordgefährdung konnte ich anhand des Beck’schen DepressionsInventars (BDI®-Fast Screen) weitestgehend ausschließen. Zunächst erfuhr ich, dass Zusammenkünfte mit Menschen in jedweder Situation, also auch schon einfache, interaktionsarme Situationen wie der Lebensmitteleinkauf unangenehme Gedanken, Emotionen und Empfindungen bei ihr auslösten. Sie lebte inzwischen mit einem um zehn Jahre älteren Partner zusammen, der ihr Verständnis entgegenbrachte und sie menschlich unterstützte. Als geselliger Mensch lud er gerne Freunde auf Besuch ein oder ging gerne mit Bekannten aus. Sie sollte selbstredend immer dabei sein. Diese Gelegenheiten erlebte sie als äußerst stressig und sie versuchte stets, für sich eine Rückzugsmöglichkeit zu schaffen, aber selbst dann wirkte die Überforderung durch diese Zusammenkünfte in Form von Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit und Trauer tagelang nach.

Sie fühlte sich völlig außerstande, ein Studium oder eine Ausbildung zu beginnen oder einer geregelten Arbeit nachzugehen. Es gab allerdings eine Ausnahme: Einmal wöchentlich fuhren sie und ihr Freund zum Tanzen in einem Verein, wo vor allem lateinamerikanisch getanzt wurde. Dabei zeigten sich die üblichen Schwierigkeiten nicht und beim Erzählen darüber blühte sie regelrecht auf.

Ich versuchte ihr klarzumachen, dass sie durch ihre Vermeidungstaktiken nur ihr Unwohlsein in einer unmittelbar gegebenen Situation vielleicht beheben könnte, aber à la longue hohe Kosten im Sinne von entgangenen Lebenserfahrungen hätte, und schlug ihr eine praktische Übung vor. Sie willigte ein und wir spielten „Das Tauziehen mit dem Monster“. Dazu stellten wir uns einander gegenüber auf und indem ich ihr das eine Ende eines Hüpfseils in die Hand drückte, sagte ich, sie solle sich vorstellen, dass ich ein starkes, sehr starkes Monster bin und dass zwischen uns ein Abgrund liege. Wenn sie hineinfiele, würde sie zerschmettert werden. Ich sei ein hässliches, gnadenloses Monster und würde mit all meiner Kraft versuchen, sie zu reißen und hineinstürzen zu lassen. Also zog sie und ich zog immer stärker. Es ging eine Zeit lang so, bis sie auf einmal aufgab und losließ. Das Tauziehen war gegen mich nicht zu gewinnen und es blieb ihr nichts anderes übrig, als loszulassen.

Damit hatte sie mit einem Schlag begriffen, dass ihr ständiger Lebenskampf nicht ihre Aufgabe war. Loslassen war ihre Aufgabe und die Lösung zugleich: Also das Monster (in diesem Fall die Überforderung, die Versagensängste) Monster sein zu lassen und zu überlegen, wie es trotz des Monsters weitergehen könnte. Die Monstermetapher ist ein gutes Beispiel für das „Prinzip der realen Erfahrung“ im Sinne der Problemaktualisierung und wirkt ungleich besser als jede wörtliche Problembeschreibung.

Im Hinblick auf die therapeutische Beziehung war das Bedürfnis der Patientin nach einem positiven Selbstwert ausgeprägt. In einer Sitzung forderte ich sie deshalb auf, mir die Hand zu geben und nachzuspüren, wie das für sie war. Wir übten mehrmals „Hände geben“ und von Mal zu Mal wurde sie selbstsicherer und fester. Dem konnte sie selbst am Händedruck nachspüren.

Als dann der Kurbericht an mich geleitet wurde, war sie verständlicherweise besorgt, weil sie als arbeitsfähig entlassen wurde, so, als sei sie eine Simulantin. Sie fühlte sich aber immer noch nicht nach Arbeit, Studium, Ausbildung oder was auch immer und es kamen ihr wieder Zweifel ob ihres Selbstwerts. Hier konnte ich sie auffangen, indem ich ihr aufzeigte, durch welche politischen Interessen die Sozialversicherungsträger motiviert sind. Der entscheidende Punkt in der gemeinsamen Arbeit waren jedoch die Übungen – sowohl während der Sitzungen als auch in Form von „Hausaufgaben“ –, die für sie zu der Erkenntnis führten, dass sie keineswegs durch ihre Gedanken und Gefühle konstituiert wird und dass diese eine Art Eigenleben führen. Damit wuchs ihre Selbstsicherheit und sie konnte sich allmählich mit den Dingen befassen, die für sie von wirklicher Bedeutung waren, und somit eine Basis für ihr Lebensengagement aufbauen.

Die Überprüfung ihrer persönlichen Ressourcen ergab eine ausgeprägte Naturverbundenheit. Arbeit mit ihren Händen an der frischen Luft in Verbindung mit Pflanzen, Gemüse, Kräutern und Blumen war ganz offensichtlich ihre Sache. Dabei hatte sie stets einen Drang zur Eigenständigkeit. Sie erlebte auch die Tänzerin in sich und die damit verbundene innere Kraftquelle, die sprudelnd nur darauf wartete, erschlossen zu werden. Dabei war harte Arbeit nicht das Problem; vielmehr waren es die menschlichen Interaktionen, die Versagensängste in ihr aufsteigen ließen.

Ihr wurde mit der Zeit klar, dass sie zusammen mit ihrem Freund einen ureigenen Weg gehen sollte. Sie begann mit einem Teilzeitjob in einer Gärtnerei, um die nötigen Erfahrungen zu sammeln. Dort konnte sie weitgehend selbstständig arbeiten. Dies gab ihr allmählich mehr Sicherheit und stärkte ihr Selbstwertgefühl. Bei Rückschlägen – und es gab sie immer wieder – setzte ich Übungen zur Stärkung des Selbstwertgefühls ein und sie legte den Druck ab, studieren oder eine formelle Ausbildung machen „zu müssen“.

Ihr Vater schenkte ihr ein Gewächshaus, das ihr Experimentierlabor und Refugium zugleich bedeutete. Eines Tages gegen Ende der Therapie, die immerhin rund 50 Stunden beanspruchte, verkündete sie freudestrahlend den Wunsch, ihren Freund heiraten und eine Familie gründen zu wollen.

Was die Arbeit anbelangte, war ihr Weg vergleichsweise hart, da körperlich anstrengend, aber sie nahm die Herausforderung gerne auf sich. Die aktive Problembewältigung hatte begonnen. Zum Abschied sagte ich ihr noch, sie solle sich wieder melden im Falle, dass die Überforderung erneut die Oberhand zu gewinnen drohte.
Gemeldet hat sie sich nicht mehr!

Dr. James BrutonDr. James Bruton
Heilpraktiker für Psychotherapie mit Praxis in Langballig

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Foto: ©Photocrea Bednarek