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Psychologische Beratung in unbekannter Sprache in der Eisenbahn

2011-01-Eisenbahn1

Ich fuhr im Zug nach Budapest und las in einem Buch. Mir gegenüber saß eine Dame. Als ich das Buch zur Seite legte, um eine kleine Pause zu machen, fragte sie mich, was dieser Titel des Buches denn bedeute.

fotolia©PhototomSie alle kennen solche geistreichen Wortschöpfungen wie auf den Schildern an der Autobahn, wo es heißt: „Erst gurten – dann starten!“ Auch ein gut Deutsch sprechender Chinese hätte mit so was seine Schwierigkeiten. Den Titel des Buches weiß ich nicht mehr, aber er war eben auch so ein Wortspiel. Und die Dame, eine Ungarin, konnte damit nichts anfangen. Also erklärte ich ihr den Sinn des Titels, worauf sie mich fragte, warum ich so etwas läse.

„Ich beschäftige mich mit Psychotherapie und psychologischer Beratung“, antwortete ich, darum würde ich so etwas lesen. So kam ein Gespräch in Gang. Sie fragte mich, was eine Beratungsstunde koste und meinte schließlich, sie habe da auch Probleme und ob ich nicht mit ihr etwas machen könne. Als ich sie jedoch fragte, um was es sich handle, geriet sie in Verlegenheit: sie könne nur ganz wenig Deutsch und sei auch des Englischen nicht so mächtig, dass sie das erklären könne.

Da bat ich sie, sich auf einen anderen Platz zu setzen, um damit anzudeuten, dass die Beratung begänne. Und so fing ich an: „Stellen Sie sich vor, Sie fahren in 30 Jahren wieder diese Strecke nach Budapest und haben jetzt die Erfahrung eines langen Lebens. Und Ihnen gegenüber sitzt eine junge Frau und die hat genau die Probleme, die Sie jetzt haben, aber nicht beschreiben können. Glücklicherweise ist sie eine Ungarin und Sie können ihr mühelos sagen, was es zur Lösung dieses Problems zu sagen gibt. Was würden Sie jetzt zu dieser jungen Frau sagen?“ – „Das kann ich nicht auf Deutsch oder Englisch sagen“, meinte sie etwas hilflos.“ „Nun, die junge Frau da vor Ihnen ist Ungarin, sagen Sie es ihr auf Ungarisch“, ermutigte ich sie.

Und da begann sie mit konzentriertem, freundlichem Gesicht zu sprechen. Ihre Stimme war ruhig und sicher. Sie sprach liebevoll auf ihr ja nur in der Vorstellung dort sitzendes Gegenüber ein. Als sie geendet hatte, sah sie mich fragend an.

Und ich sagte dann zu ihr: „Sie kennen doch diese jungen Damen, immer haben sie etwas entgegenzusetzen und lassen sich so einfach nichts sagen. Setzen Sie sich jetzt auf diesen Platz gegenüber und antworten Sie der alten Dame, die da zu Ihnen über das ganze Problem gesprochen hat.“

Die Dame wechselte den Sitzplatz und antwortete mit hochgerecktem Kopf und schriller Stimme etwa so, als meinte sie: „Was wissen Sie alte Schachtel schon von solchen Sachen!“ Die ganze Haltung war die eines aufsässigen Teenagers. Als sie schwieg, bat ich die Dame, ihren Platz erneut zu wechseln und aus ihrer ja viel größeren Lebenserfahrung zu antworten. Das tat sie auch.

Und so ging es hin und her. Ich schätze, dass jede der beiden etwa achtmal gesprochen hatte, als ich dem Gesicht der jetzt als junge Dame Dasitzenden ansehen konnte, dass sie irgendwie befriedigt und erleichtert war und weitere Worte sich erübrigten. Nach einer Weile bat ich sie dann, sich auf ihren ursprünglichen Platz an der Tür des Coupés zu setzen, um damit anzudeuten, dass die „Therapie“ beendet sei.

Kaum hatte sie sich gesetzt, griff sie nach ihrer Handtasche, zog das Portemonnaie heraus, entnahm ihm ein paar Geldscheine und drückte sie mir in die Hand. Es war der Betrag, den eine Beratungsstunde bei mir kostet. Mein erster Impuls war, das Geld zurückzuweisen, hatte ich der Frau doch nur helfen, nicht aber etwas verdienen wollen. Aber ich bremste mich noch rechtzeitig, denn sonst hätte ich ohne Worte etwa Folgendes zum Ausdruck gebracht: „Ach, die Bahnfahrt ist so langweilig und ich kann doch so schön psychologisch beraten, da war ich froh, jemanden zu haben, mit dem ich mir auf diese Weise die Zeit vertreiben konnte.“

Ich hätte also das entwertet, von dem sie sich bewusst war, dass sie etwas bekommen hatte, das es wert war, bezahlt zu werden.

Dies ist nicht nur ein Beispiel für psychologische Beratung in der Eisenbahn, wo der Schaffner jeden Moment kommen kann, also ohne sicheren und ungestörten ruhigen Praxisraum, sondern es ist auch ein Beispiel für die Beratung eines Menschen, mit dem man sich sprachlich nur sehr rudimentär verständigen kann. Und es ist ein Beispiel für eine diskrete „Geheimbehandlung“, in der vielleicht Peinliches gar nicht ausgesprochen werden musste, also für eine Möglichkeit, Menschen zu helfen, die sonst die Hilfe anzunehmen nicht in der Lage wären.

Peter Bernhard Peter Bernhard
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