Woche der seelischen Gesundheit
in Rottweil - als Chance für gezielte Öffentlichkeitsarbeit
Zum Verständnis der Gesamtsituation muss ich vorausschicken, dass wir in Rottweil ein „etwas besonderes gesellschaftliches Klima“ haben: Ich bin erst im August 2009 zugezogen. In Gesprächen mit Einheimischen erfuhr ich, man würde der Rottweiler Bürgerschaft eine „Beamten-Mentalität“ nachsagen, wobei sie sofort aber ergänzten, sie selbst sähen sich natürlich nicht so, es gebe aber viele andere, die „so“ seien.
In Rottweil ist eine große psychiatrische Klinik mit psychosomatischer Abteilung ansässig, die Vinzenz von Paul Kliniken (im Volksmund „das Rottenmünster“ genannt), und es gibt eine relativ große Zahl Psychotherapeuten hier, wobei aber dennoch die Wartezeiten auf einen GKV-finanzierten ambulanten Therapieplatz bis zu einem Jahr betragen können. Also ist die Nachfrage wohl sehr stark.
Aber ich erfuhr auch, dass alles, was mit „Psyche“ zu tun hat, bei vielen Menschen hier am Ort Ängste hervorruft und sogleich im Sinne eines Schwarz-Weiß-Denkens pauschal der Psychiatrie zugeordnet werde. Dass es (normalerweise) ein großes Spektrum von Angeboten gibt, ehe es jemanden in die Psychiatrie führt, das ist wenig bewusst. Folglich war eine dringende Empfehlung Einheimischer, ich solle in meiner Werbung möglichst nur von „Seelischer Gesundheit“ sprechen, um nicht sogleich abgelehnt zu werden.
Ich fand heraus, dass es in der Tat wenig niedrigschwellige Angebote für Menschen mit psychischen Schwierigkeiten in und um Rottweil gibt. Das „Bündnis Depression“ war einige Jahre hindurch einer Tagesklinik zugeordnet, ehe die „Zuständigkeit“ dann dem „Rottenmünster“ zugewiesen wurde. Konkret wurde jedoch keinerlei Arbeit geleistet. Auf meine Nachfrage hieß es, man sei weder personell noch finanziell dazu in der Lage. Aber mit mir zusammenarbeiten wolle man auch nicht, denn (iiihhhh-gittt – bahh-pfui) ich sei ja „gewerblich“ und das gehe mal nun gar nicht! Seither herrscht Schweigen und alle weiteren Anfragen, in anderem Rahmen mit dem „Rottenmünster“ zusammenzuarbeiten, blieben unbeantwortet.
In Rottweils schönem Stadtkern liegt die Hochbrücke. Pro Jahr haben sich ca. zwei Menschen dort in den Tod gestürzt, sodass man von insgesamt ca. 130 Toten seit Kriegsende ausgehen darf, ohne dass irgendjemand ernsthaft auf Abhilfe gedrängt hätte! Es kommt sowohl dem Schamgefühl der Bürger als auch der Bequemlichkeit des Stadtrats sehr entgegen, dass gemäß Richtlinie über Suizide nirgends berichtet wird. Was man nicht zur Kenntnis nimmt, findet de facto nicht statt! Auch dies gehört zur Ausgangssituation für die Woche der Seelischen Gesundheit Rottweil.
Und meine eigene persönliche Situation spielt ebenfalls eine Rolle. Über 50 Jahre meines Lebens folgte ich den Prägungen, die ich in meiner Kindheit im Rahmen massiver Misshandlungen mitbekommen hatte, und versuchte, die Zuneigung anderer Menschen durch höchstmögliche Leistungen und Leistungsfähigkeit zu erhalten, erwartete aber zugleich von anderen eher nur Schlechtes. Mit dieser Grundhaltung habe ich drei Kleinunternehmen erfolgreich aufgebaut und wieder verloren, pleite gemacht und bin in Burnout und Depression gelandet. Ich wollte schon mein Leben beenden, als ich gerade noch rechtzeitig einen Platz in einer psychosomatischen Klinik bekam. Nach zwei Aufenthalten in Bad Grönenbach fühlte ich mich wie neugeboren! Allerdings muss ich die Konsequenzen aus meiner Vergangenheit tragen, besonders den derzeitigen Hartz-IV-Bezug, das Insolvenzverfahren und den Verlust der gesamten privaten Altersvorsorge. Daher habe ich nur sehr wenige Mittel für neue Aktivitäten zur Verfügung.
Seit meinem Klinikaufenthalt arbeitete ich über ein Jahr in Selbsthilfegruppen in Stuttgart. Daher habe ich beschlossen, als Psychologischer Berater tätig zu werden, um anderen mit meinen Erfahrungen und den erlernten Bewältigungsmethoden in einem dazu von mir gestalteten, passenderen Rahmen weiterhelfen zu können. Wegen meiner Partnerschaft zog ich dann nach Rottweil um. Hier startete ich zunächst mit Flyern, die ich in zwei Einzelhandelsgeschäften auslegen durfte, und einer neuen Website. Das blieb aber wirkungslos. Also beschloss ich, mich in einem Vortrag mit öffentlicher Diskussion vorzustellen mit meinem Thema: „Burnout und Depression – wie ich hineingeriet und wieder hinaus fand — ein Unternehmer berichtet von seinen Erfahrungen“.
Über diese Veranstaltung wurde in der Lokalpresse zwar berichtet, aber mir wurde auch gesagt, dass ich beim nächsten Mal bitte Anzeigen schalten solle, denn … ich arbeite ja schließlich „gewerblich“. Dieses Wort scheint hier fast einem Fluch gleichzukommen! Jedenfalls kamen rund 50 Zuhörer zur Veranstaltung, was für Rottweil mit nur ca. 15.000 Einwohnern im Kernort ein gutes Ergebnis ist, und im Anschluss hatte ich plötzlich eine Klientin! Die von mir angebotenen Gruppen und Kurse wollte aber niemand.
Fast ein Jahr später hatte ich es geschafft, von der Agentur für Arbeit die Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie an der Paracelsus Schule Villingen finanziert zu bekommen. Bei meiner extremen beruflichen Vergangenheit und im Alter von fast 60 Jahren solch eine Chance zu bekommen, das war ein tolles Geschenk für mich! Mitte September 2010 begann ich die Ausbildung und wurde auch Mitglied im VFP.
Anfang September 2010 erfuhr ich über den VFP-Newsletter erstmalig von der Woche der Seelischen Gesundheit. Ich sah darin sowohl eine Chance, in der Sache tätig zu werden, aber auch zugleich eine Möglichkeit zur Eigenwerbung. Also fragte ich im „Rottenmünster“, beim Gesundheitsamt und beim Landratsamt nach, was denn zur Woche der Seelischen Gesundheit an Aktionen geplant sei.
Überraschung – die kannten das Thema gar nicht! Dann fragte ich zwei im sozialpsychologischen Bereich engagierte Vereine/Institutionen, ob wir zu dieser Woche zusammen Aktionen durchführen könnten. Aber man lehnte mit dem Hinweis ab, dass man völlig überlastet sei und auch keine finanziellen Mittel für so etwas hätte. Aber ich wollte nicht aufgeben!
Nach einigem Grübeln beschloss ich, den „Arbeitskreis Seelische Gesundheit Rottweil“ zu initiieren. In dem kann jeder mitmachen, der Angebote zur Förderung der seelischen Gesundheit bereithält oder sich zu diesen Zwecken engagieren möchte (also gerade auch Gewerbetreibende, Freiberufler, Ärzte, Vereine, Institutionen usw.).
Zwei Vereine und eine Institution zogen dann zunächst mit, im „Arbeitskreis Seelische Gesundheit Rottweil“ mitzumachen … aber bitte nicht offiziell! Und bitte ohne dass man damit Arbeit oder finanzielle Belastungen hätte! Für mich kein Problem. Ich hatte eh mit dieser Reaktion gerechnet und mir ausgedacht, einen Vortrag mit Diskussion über „Seelische Gesundheit, Tabuisierung und Stigmatisierung“ zu halten. Weitere Aktionen, wie ein Informationsstand in der Innenstadt am Markttag usw. konnten ohne Mitwirkung Dritter aber nicht mehr stattfinden. Aber eine Website habe ich noch rechtzeitig gemacht: www.arbeitskreisseelische-gesundheit-rottweil.de und die Zielsetzungen des Arbeitskreises formuliert:
- Zentrale Informationsstelle im Internet für alle „Angebote zur Förderung der Seelischen Gesundheit“ im Sinne eines Web-Verzeichnisses, besonders die niedrigschwelligen.
- Informationen über das Gesundheitswesen im Bereich seelischer Gesundheit. Beiträge zur Entstigmatisierung Betroffener und zur Enttabuisierung des Themas.
- Durchführung von mehreren Veranstaltungen pro Jahr zur Förderung der seelischen Gesundheit.
Der Presse gegenüber trat ich als Sprecher und Initiator des Arbeitskreises auf und … wurde plötzlich ganz freundlich aufgenommen. Zur Woche der Seelischen Gesundheit hatte der Arbeitskreis mit dem Bericht über seine Gründung und die Veranstaltung im Lokalteil plötzlich eine Drittelseite erhalten, nebst Foto! Und am 4. Oktober kamen über 40 Teilnehmer zum kostenlosen Vortrag mit Diskussion. Also wieder ein schönes Ergebnis, gemessen an den lokalen Verhältnissen, denn Themen dieser Art bringen selten mehr als diese Teilnehmerzahl. Ach ja, ich bekam wieder eine neue Klientin, weil sie über die Zeitung von mir erfahren hatte!
Der wichtigste Schritt war – auch in der Rückschau –, den Arbeitskreis zu initiieren und bekannt zu machen. Er ist seither der Türöffner für mich und jeden, der sich noch engagieren möchte. Ehrlich gesagt: Bis jetzt engagiert sich außer mir noch niemand – aber mich stört das nicht!
Im Mai 2010 hat sich ein Mädchen von der Hochbrücke in den Tod gestürzt, seitdem engagierte ich mich dafür, dass diese verdammte Brücke endlich abgesichert wird. Ich fand Unterstützung bei einem Gemeinderatsmitglied. Mit der Kenntnis über die erfolgreiche Absicherung der Brücken in Bern verursachte ich in der Folgezeit beim Oberbürgermeister und dem Gemeinderat derartigen Druck, dass im November endlich die Absicherung im Gemeinderat beschlossen wurde. Schon am 26. November wurde die Brücke mit Behelfsgittern abgesperrt und im Frühjahr 2011 werden beidseitig Fangnetze installiert – wie in Bern.
Damit aber die Aktion am 4. Oktober 2010 zur Woche der Seelischen Gesundheit nicht ein einsamer Leuchtpunkt in einem ganzen Jahr bleibt, habe ich versucht, andere Heilpraktiker, Ärzte, Therapeuten u. a.. dazu zu bringen, ebenfalls eine Veranstaltung mit Vortrag, Diskussion usw. durchzuführen, leider ohne Erfolg. Also beschloss ich, am 7. Februar 2011 erneut einen Vortrag mit Diskussion zu veranstalten, dieses Mal über Stress, Überlastung, Burnout, Depression.
Der Termin war wohl günstig gewählt. Zudem hat die Presse den Vortrag angesichts des nunmehr „etablierten Veranstalters“ sehr schön angekündigt. Resultat: Statt der wie üblich erwarteten 40 – 50 Teilnehmer war der Saal mit über 120 Gästen überfüllt. Manche saßen auf Tischen, andere gingen wieder, weil sie nicht die ganze Zeit über stehen wollten. Für hiesige Verhältnisse ist dies ein sehr ungewöhnlicher Erfolg! So ungewöhnlich, dass die Lokalpresse sogar auch darüber wieder berichtet hat.
Bevor nun der Wonnemonat und der schöne Sommer kommen, in denen seelische Probleme eher zurücktreten, werde ich Anfang März gleich noch eine Veranstaltung nachschieben. Darin geht es um Stress, Stressbewältigungsmethoden usw. und ich werde verschiedene Methoden vorstellen und konkret zur Übung anbieten wie z. B. Imaginationen, Stabilisierungsübungen, Praxis der Achtsamkeit usw. Dabei ist mir wichtig, dass alle Übungen ohne Hilfsmittel oder höhere Anforderungen an die Qualität des Ortes möglich sind, sodass die Akzeptanz dank „Alltagstauglichkeit“ überall gegeben ist.
Mit meinem Bericht möchte ich zeigen, dass die Woche der Seelischen Gesundheit zu weit mehr nützlich sein kann als nur dazu, während einer einzigen Woche im Jahr Aktionen durchzuführen. Ich habe sie für den Aufbau eines kleinen Marketingkonzepts genutzt und ich finde das auch genau richtig so! Angesichts hohen Werbedrucks, Reizüberflutung und kleinster Werbebudgets ist es für uns Heilpraktiker und Psychologische Berater besonders wichtig, solche Chancen zu nutzen.
Übrigens … ich möchte noch Partner finden, um eine größere Idee umsetzen zu können: Ich möchte Gruppen und Kurse anbieten und dabei Teile des „Grönenbacher Modells“ für den ambulanten Therapiebereich adaptieren. Mehr dazu: http://www.gessso.de/mitarbeiter/inhaber-c-huerten.html
Bis sich einige Interessenten konkret gefunden haben und die Zusammenarbeit beginnen kann, habe ich voraussichtlich meine Zulassung als Heilpraktiker für Psychotherapie bekommen.
Clemens M. Hürten
Psychologischer Berater
Eisenbahnstraße 10, 78628 Rottweil