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Das Prinzip der kleinen, machbaren Veränderungen

2011-01-Veraenderungen1

In meiner Arbeit mit Einzelklienten und Paaren stelle ich zu Beginn von Achtsamkeitsübungen – wenn der Klient sich schon ein wenig zurückgelehnt hat und die Augen schließt – gerne folgende Frage:
„Was könntest du tun, damit es für dich jetzt noch ein kleines bisschen angenehmer wird?"

fotolia©Gordon BussiekUnd als Erweiterung: „Brauchst du noch ein Kissen? Ist dein Gürtel weit genug? Kannst du dich noch etwas mehr in deinen Sessel reinkuscheln?"

Hier nutze ich die spezielle Situation zu Beginn einer Achtsamkeitsübung. Der Klient bereitet sich darauf vor, sich zu entspannen und sich selbst tiefer wahrzunehmen. Er weiß vielleicht schon aus vorangegangenen Sitzungen, dass er gleich seinem Kern-Ich ein Stück näher kommen wird. Er ist also in einer Situation, in der er – gehalten durch den Rahmen der Therapie – ein Wagnis mit sich selbst und in sich selbst eingehen wird. Die therapeutische Situation und sein Langsam- in-sich-hinein-Sinken heIfen ihm, seine alten Strukturen etwas zu verflüssigen, sodass diese Frage – richtig platziert im Raum zwischen Tagbewusstsein und beginnender Achtsamkeit – zu einem ErIeben von wirklicher Veränderung im Jetzt führen kann. Sie hilft umso besser, je mehr es mir gelingt, dem Klienten durch meine Haltung, Betonung und vorsichtige Nachfrage den inneren Raum zu schaffen, in dem er sich selbst wahr- und ernstnehmen darf.

Ich erkläre dem Klienten, dass diese Frage auf ein zentrales Ergebnis meiner 15-jährigen therapeutischen Arbeit zugespitzt ist. Diese scheinbar beiläufige Frage spricht sechs grundsätzliche Aspekte menschlicher Entwicklung an:

  1. Der Klient darf in sich spüren, was er braucht.
  2. Seine Veränderung kann jetzt und hier stattfinden.
  3. Veränderung hin zum Glück geht in kleinen Schritten.
  4. Ist der Klient es sich wert – ist er sich selbst wertvoll genug, dass es ihm noch etwas besser gehen darf?
  5. Darf er sich selbst als Urheber seines Wohlbefindens erIeben? Kann er dies annehmen und genießen?
  6. Die Frage allein ermächtigt den Klienten, sich selbst wahrzunehmen und zu helfen.

Im Folgenden möchte ich jeden Aspekt kurz beleuchten.

Der Klient darf in sich spüren, was er braucht. Viele meiner Klienten haben einen erschwerten Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen. Dabei fällt es ihnen meist leichter, Bedürfnisse, die nicht so nah an ihren Wesenskern gehen, leichter zu spüren und umzusetzen; in eher unpersönlichen Zusammenhängen wie Arbeit oder Einkauf können sie sich gut um sich kümmern. Oft sind jedoch die Bedürfnisse, die das eigene Wesen tiefer berühren, schwerer oder gar nicht zugänglich. In der intimen Verdichtung der Liebesbeziehung oder der EIternschaft wirken dann Über-Ich-Verbote und Verdrängungsmechanismen umso stärker. In der sensiblen Situation der Therapiesitzung kann die Frage, verstärkt durch eine achtsame Stimmung, dem Klienten einen eigenen Zugang zu einem intimen – weil köpernahen – Bedürfnis ermöglichen. Gerade zurückgenommene, schüchterne Klienten profitieren davon, wenn ihnen immer wieder solche kleinen, erfreulichen und bewussten Begegnungen mit der eigenen Intimität eröffnet werden.

Seine Veränderung kann jetzt und hier stattfinden. Das empfundene Unglück vieler meiner Klienten besteht unter anderem darin, dass sie die Veränderung hin zum eigenen Glück als ein fernes Ziel, ein vielleicht nie erreichbares Trugbild betrachten. Dann später, an einem anderen Ort, vielleicht mit anderen Menschen, einem anderen Partner, in einer anderen Zeit werden sie glücklich sein können. Im Jetzt sind sie scheinbar gefangen in einem Netz aus Mustern, alten Erfahrungen und überfokussierten Sichtweisen. So birgt meine Frage nach einer kleinen Veränderung zum Besseren im Jetzt – hier in diesem Raum, in dieser Therapiesitzung – die Möglichkeit zu einer neuen, oft unerwarteten Erfahrung. Der Klient setzt sich jetzt bequemer hin, er atmet jetzt tiefer durch und entspannt sich jetzt. Die Veränderung findet nicht am Ende der Stunde, nicht in der nächsten Woche oder in einer anderen, fernen Zeit oder an einem anderen Ort statt. Sie wird – durch die Frage bewusst gemacht – nun konkret im Jetzt, in diesem Raum und mit diesem Sessel erlebt. Ich lade den Klienten damit ein, nicht mehr in den dunklen Gedanken über die Vergangenheit oder in den Hoffnungen der Zukunft zu leben, sondern im Jetzt und Hier seine eigene Präsenz zu erfahren.

Veränderung hin zum Glück geht in kleinen Schritten.* 

(*Viele Kollegen, die mit schnell wirksamen, lösungszentrierten Ansätzen arbeiten, werden hier vielleicht anderer Meinung sein. Und ich bin auch der Meinung, je höher strukturiert ein Klient ist, desto lösungszentriertere Methoden sollten angewendet werden. Allerdings ist und bleibt es für die nicht so strukturierten Klienten ein mehrjähriger Weg in vielen kleinen Schritten, bis sie ausreichend stabil „über Wasser“ bleiben können. Deshalb die Aussage: Dem tiefen Glück kommen wir meist in kleinen Schritten näher.)

Viele Klienten erwarten schnell etwas Großes von der Therapie und dem Therapeuten. Manche Therapeuten erwarten das auch ... Wenn doch nur dieses dunkle Gefühl endlich weg wäre. Wenn ich doch endlich den richtigen Partner finden könnte. Wenn diese Selbstzweifel und diese UnzuIänglichkeitsgefühle doch endlich weg wären. Wenn ich mich doch endlich nah an mir und meinem Leben fühlen könnte ... Verständlicherweise wollen sie dort sein, wo sie glücklich sein können. Sie wollen nicht mehr dort sein, wo das schon bekannte Unglück wohnt. In ihrer Not übersehen sie oft die kleinen Schritte, die nötig sind, um das große Ziel zu erreichen. Eine leichte Veränderung in der Sitzhaltung, ein Kissen im Rücken oder ein behagliches Ausstrecken der Beine kann in dieser Situation tatsächlich zu der Erfahrung eines kleinen, aber wirkungsvollen Schrittes werden.

Durch die Frage angeregt, wird dem Klienten bewusst, dass er mit wenig Aufwand seine Situation wirklich ein kleines Stück verbessern kann. Indem er es sich bequemer macht, öffnet er damit auch ein wenig seinen Innenraum für seine seelische Entwicklung. Er bemerkt, wie er durch diesen kleinen Schritt seinem Ziel wieder ein kleines Stück näher kommen kann. Jeder kleine Schritt öffnet so tatsächlich immer wieder eine neue kleine Tür.

Ist der Klient es sich wert – ist er sich selbst wertvoll genug, dass es ihm noch etwas besser gehen darf?
In dem Versuch, tatsächlich etwas zu ändern, kommt der Klient oft schnell in Kontakt mit seinen Widerständen und seinem Selbstbild. In dem Moment, da er meine Worte hört und auf sich wirken lässt, spieIt er wahrscheinlich schon mögliche Veränderungen halbbewusst in seinem Geiste durch. Wenn er jetzt achtsam genug ist, kann er seine eigenen Gründe, etwas nicht zu verändern, gut erkennen. Zuerst werden ihm vielleicht seine eigenen Verhaltensnormen in der Form des „guten Klienten“ bewusst. Als „guter Klient“ sitzt man aufrecht, man hält die Füße gerade und achtet aufmerksam auf die Anweisungen des Therapeuten. Diese führt man dann möglichst korrekt, folgsam und schnell aus. Man hat mit seinen Wünschen und Bedürfnissen eher nicht in Erscheinung zu treten. Der Klient kommt durch meine Einladung, seine Bedürfnisse zu zeigen, in ein inneres, manchmal höchst unangenehmes Dreieck. Die alte Norm sagt ihm vielleicht: Tu was der Therapeut sagt, aber zeige dich nicht. Der Therapeut sagt aber, zeige dich. Genau an dieser Stelle muss der Klient sich nun entscheiden, an der alten Norm festzuhalten oder etwas Neues zu wagen. Ist er sich jetzt so viel wert, dass er für sein eigenes Wohlbefinden – in der Selbstbewertung vielleicht als egoistisch verurteilt – tatsächlich die Rolle des „guten Klienten“ verlassen kann? Ist er es sich wert, über eine kleine, angenehme Veränderung z. B. der Körperhaltung, als unnormierter Mensch mit eigenen Bedürfnissen sichtbar zu werden? Gelingt ihm dies, verändert sich das Selbstwertgefühl und die Präsenz des Klienten wird sofort spürbar positiv.

Darf er sich selbst als Urheber seines Wohlbefindens erIeben? Kann er dies annehmen und genießen?
Der Klient hört meine Frage und verändert seine Position ein Stück mehr zu seinem Wohlbefinden. Er nimmt sich ein Kissen oder setzt sich etwas entspannter in seinen SesseI (manche gehen sogar so weit, den Sessel ganz zu verlassen und sich lieber auf die Behandlungsliege zu legen). Er hat sein Bedürfnis spüren können und er findet sich selbst wertvoll und wichtig genug, um diesen Schritt entgegen seiner inneren Verbote jetzt zu wagen. Er verändert etwas. Durch die behutsame Stimmung der Situation und eventuell durch meine Rückfrage kann der Klienten seine kleine Geste zwar von mir angeregt, aber wahrhaft als von sich selbst ausgehend spüren. Er erlebt in diesem kurzen bewussten Moment die Macht, sein Leben selber zu gestalten. Gerade für Klienten mit depressiver Konfliktverarbeitung oder einer Suchtthematik sind diese kleinen Erfahrungen, im eigenen Leben selbst etwas verändern zu können, sehr wichtig.

Die Frage allein ermächtigt den Klienten, sich selbst wahrzunehmen und zu helfen.
In unserer Rolle als Therapeuten sind wir immer auch Vorbild und erlaubende, d. h. bewertende Instanz. Kleine Kinder schauen zu ihren EItern, wenn sie etwas Neues entdeckt haben, aber nicht wissen, ob sie damit spielen dürfen. Die EItern schauen dann zu dem Objekt, prüfen es und blicken wieder zu ihren Kindern. Über die Stimme und den Gesichtsund Körperausdruck erkennen schon sehr kleine Kinder, auch ohne den Sinn der Worte zu erfassen, ob sie etwas „dürfen“ oder nicht. So „Iernen“ sie auch sehr früh, wie und ob sie ihre eigenen Bedürfnisse einbringen dürfen. Durch den Inhalt der Frage und die Art, wie ich sie stelle zeige ich dem Klienten mein Interesse und meine Zustimmung für seine Bedürfnisse, deren Äußerung und Umsetzung. So entsteht eine punktuelle korrigierende Erfahrung zu früheren Zurückweisungen oder Desinteresse. Ist die Atmosphäre fein und offen genug, kann ich mit dieser einfachen Frage auch sehr frühe und deshalb sehr wirksame und dennoch kaum wahrnehmbare Kränkungen erreichen. Endlich wird erlaubt, was früh(er) verboten war!

So viele Themen in einer einzigen, kleinen Frage. Natürlich erkläre ich es dem Klienten nicht so ausführlich wie in diesem ArtikeI. Es reicht mir, einzelne Aspekte herauszuheben, die in der Interaktion für mich deutlich werden. Hinweise für meine Auswahl liefern dabei u. a. sein körperlicher Ausdruck. Sitzt er eher steif oder eher locker, zögert er, ist sein Gesicht hart oder weich, wie ist seine Atmung, wie seine Stimme, ist er sehr „brav“ oder eher skeptisch und abweisend?

Auch meine eigenen Gefühle in Gegenwart des Klienten (Gegenübertragung) sind für mich ein wichtiger Wegweiser. Fühle ich mich entspannt, fühle ich mich ängstlich, bin ich unter Leistungsdruck oder mache ich mir z. B. Sorgen um den Klienten? Am Ende entscheide ich mithilfe einer lang geübten Intuition, welche Aspekte der Frage ich noch einmal betonen möchte. Dies ist nicht einfach, da die einzelnen Aspekte der Frage sehr fein sind und nah beieinander liegen. Sie berühren – richtig angewandt – tiefe Selbstverständlichkeiten des Klienten.

Gerne thematisiere ich im weiteren Verlauf der Sitzung die Frage nach der kleinen, machbaren Veränderung immer wieder neu – auch als tägliche Hausaufgabe. Die meisten Aspekte dieser Frage sind für viele Menschen nichts wirklich Neues, erst durch das bewusste, langsame ErIeben, feinstmöglich rückgekoppeIt, werden aus diesen „kognitiven Binsenweisheiten“ neue, echte Erfahrungen. Wenn der Klient im Rahmen der Therapie tatsächlich erIebt, dass dieser einfache, positive Schritt für ihn immer wieder möglich ist, kann er dieses neu wachsende Kleinod in seiner Seele langsam in seinen Alltag übernehmen.

Habe ich diese Frage oft genug lustvoll in die Sitzungen eingebracht, wird sie von vielen Klienten gerne lachend mitgesprochen. Einige berichten auch, dass ihnen diese Frage in ihrem Leben – wie ein kleines Mantra – tatsächlich immer wieder ein Stück weitergeholfen hat. Sie bringt sie in die Lage, ihr eigenes Leben etwas aktiver und etwas selbstbewusster zu gestalten – mit dem Ergebnis, dass einiges in ihrem Leben tatsächlich schon ein kleines bisschen angenehmer wurde ...

So wird aus einer einfachen Frage nach mehr Bequemlichkeit ein manchmal hochwirksames therapeutisches Mittel.

Fabian Lenné Fabian Lenné
geb. 1960. Seit 1997 Einzel-, Paar- und Gruppentherapie auf der Grundlage des Heilpraktikergesetzes. Ausbildung in Tiefenpsychologischer Körpertherapie und Fortbildung in Bewusstseinszentrierter Körpertherapie. Derzeit ca. 550 Stunden Einzeltherapie und 350 Stunden Paartherapie pro Jahr.
www.paartherapie-berlin.info