Trauerprozesse im Business-Coaching
Abschiednehmen von aussichtslosen Projekten
Herr A. ist auf das neue EDV-Programm nicht gut zu sprechen. Als Projektleiter war er verantwortlich für die anwenderfreundliche Programmierung. Und natürlich auch für ein überschaubares Investitionsvolumen. Beides endete in einem Fiasko: Die Funktionalität wurde in den ersten Testläufen von den Mitarbeitern in Grund und Boden gestampft. Und das ursprünglich kalkulierte Budget fiel am Ende fast doppelt so hoch aus. Eine fachliche wie persönliche Niederlage für Herrn A.
Die Frage aller Fragen: Wer ist schuld?
Für Herrn M., enger Mitarbeiter von Herrn A., keine leichte Situation. Wann immer er auf das gescheiterte Projekt zu sprechen kommt, ist die Stimmung gleich im Keller: Sein Vorgesetzter A. wird dann schnell aggressiv, lenkt vom Thema ab oder versucht nach knapp einem Jahr noch immer die Schuldfrage zu klären. Dabei wäre die Energie an anderer Stelle viel sinnvoller einzusetzen. Der hohe Arbeitsanfall erfordert neue Techniken und Betriebsabläufe. Es wird daher höchste Zeit für einen Programmwechsel. Herr A. allerdings, der den Arbeitsstopp an seiner Lösung noch immer für verfehlt hält, hat dafür im Moment keine Kapazitäten frei.
Herr M. erscheint in meiner Praxis und berichtet mir von der anstrengenden Situation in der Abteilung. Die teilweise unkalkulierbaren Reaktionen seines Vorgesetzten empfindet er als zunehmend anstrengend und belastend für die Beziehung und die Arbeitsatmosphäre. Sein Anliegen: geeignete Verhaltensweisen entwickeln, um die Beziehung zum Vorgesetzten wieder auf das „alte Niveau“ zu bringen.
Keine leichte Aufgabe, zumal mir Herr M. in der Praxis als sehr besonnener und verantwortungsvoller Mitarbeiter erscheint. Ganz spontan würde ich ihn am liebsten gegen Herrn A. austauschen. Da aber auch ich nicht zaubern kann, schauen wir uns also gemeinsam an, wo die Chancen und Risiken liegen.
Die ganze Geschichte war sein Kind!
Herr M. berichtet mir sehr ausführlich von der Projektgeschichte und dem anfangs hohen Engagement von Herrn A. Die ganze Geschichte war sein Kind. Er hatte sich besonders für einen Programmwechsel stark gemacht und leistete viel Überzeugungsarbeit bei den Geldgebern. Mit großem Eifer stellte er ein Projektteam zusammen und war treibende Kraft im gesamten Entwicklungsprozess. Zweifler wurden von ihm regelrecht bemuttert, um sie doch mit ins Boot zu holen.
Bereits während der Fallschilderung entsteht in mir ein konkretes Bild, das ich Herrn M. vorstelle: Herr A. erscheint mir wir eine Mutter, die ihr Kind verloren hat.
Herr M. kann das sofort akzeptieren. Hier wurde etwas zu Grabe getragen, an dem sein Vorgesetzter sehr hing und das bedeutenden Einfluss nehmen sollte auf sein Image im Unternehmen: der Macher, der Innovative, der Problemlöser.
Wir blieben also bei diesem Bild und entwickelten die Idee, das gescheiterte EDVProjekt als Verlust zu definieren und das Verhalten des Herrn A. nach den Trauerphasen zu durchleuchten (nach Verena Kast).
Die erste Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens schien bereits abgeschlossen zu sein. Die Rückmeldungen und Zahlen waren einfach zu erdrückend, um das Projekt weiterhin hochzuloben. Am Anfang gab es noch Argumente, die alles „halb so schlimm“ darstellten und ein „mehr vom selben“ als geeignete Strategie darstellten. Diese Episode wurde jedoch inzwischen abgelöst durch die Phase aufbrechender Emotionen.
Anhand der Schilderungen von Herrn M. spekulierten wir, dass sich Herr A. noch immer in dieser Phase befindet.
Fragen wie: „Warum musste ausgerechnet mir das passieren? Womit habe ich das verdient?“ lösen Selbstzweifel aus und fördern Emotionen ans Tageslicht, die bisher verborgen blieben. Herr A. befindet sich schon eine ganze Weile in dieser Situation und steht vor dem Übergang zur nächsten Phase.
Angekratztes Selbstbild führt zu emotionaler Schieflage
Phase suchen und sich trennen. Was erkenne ich in dem gescheiterten Projekt von mir wieder? Woran geht der Glaube verloren und was bedeutet das für die Zukunft? Erst, wenn Herr A. sich offensiv diesen Fragen stellt und akzeptable Antworten darauf gefunden hat, kann er sich wieder neuen Aufgaben widmen und seinen Selbstwert losgelöst von begangenen Fehlern schätzen lernen.
Herr M. erkennt für sich, dass er Herrn A. durch eine aktive Begleitung durch diese „Trauerphasen“ unterstützen kann. Er stellt für sich fest, dass das rationale Argumentieren bisher kaum einfühlend auf die emotionale Schieflage des Vorgesetzten eingegangen ist. Womöglich hat das gescheiterte Projekt mehr mit seinem Selbstbild und Selbstwert zu tun, als nach außen deutlich wurde. Seine gelegentlichen Versuche, wie „eine Katze um den heißen Brei“ das Thema zu umgehen, haben womöglich das belastende Gefühl umso mehr verstärkt. Möglicherweise wird damit nur der Abschiedsprozess verzögert und eine Neuausrichtung verlangsamt. Erst danach ist ein Neuer Selbst- und Weltbezug möglich. Das gescheiterte Projekt kann akzeptiert werden, ohne dass es den Blick auf zukunftsweisende neue Projekte verstellt. Der Umgang mit der Verantwortung wird neu wahrgenommen: Ich bin für das verantwortlich, was schiefgelaufen ist. Gleichzeitig bin ich für das verantwortlich, was an positiven Chancen liegen bleibt, wenn ich weiterhin bremse und blockiere.
Trauer ist ein zutiefst menschliches Anliegen
Ich verständigte mich mit Herrn M. darauf, dass er in der nächsten Stunde an ganz konkreten Verhaltensweisen und Gesprächstechniken trainieren kann. Er wird daran arbeiten, empathisch und unterstützend die schwierige Situation mitzugestalten.
Die Erkenntnis, dass das Verhalten seines Vorgesetzten nachvollziehbare Züge hat und eine Form der Trauerbewältigung darstellen kann, war für ihn sehr aufschlussreich. Rückblickend entdeckte er, dass er selbst damit schon mehrfach Erfahrungen gemacht hatte.
Horst Lempart
Jahrgang 1968, arbeitete 16 Jahren als Kundendienstleiter in der Werbe- und Verpackungsbranche, bevor er den Bereich Human Resources Management übernahm. Er betreut hausintern und in eigener Praxis Kollegen und Privatklienten. Als Betriebswirt und Business-Coach bereitet er sich gerade auf die Prüfung zum Psychotherapeuten vor.
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