Von der Kunst des Wartens
Warten ist eine Herausforderung – eine plötzlich leere Seite in unserem immerzu vollen Aufgabenheft. Wer wartet, leidet, wer aber richtig wartet, macht sich frei!
Die Bremsen des ICE quietschen, der Zug kommt mitten auf der Strecke zum Stehen: „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund von Bauarbeiten verzögert sich die Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit …“ Stöhnen und Schimpfen machen sich im Abteil breit, jeder ist genervt, verpasst seinen Termin und empfindet dieses Wartenmüssen als Diebstahl kostbarer Zeit. Die Ungewissheit, wann es endlich weitergehen wird, ist schwer auszuhalten.
Warten überhaupt ist oft schwer auszuhalten, egal ob in der Schlange vor der Supermarktkasse, im Stau auf der Autobahn oder mit gezogener Nummer auf Ämtern und Behörden. Wir müssen uns ständig in Geduld üben – warten auf eine Antwort, einen Anruf, einen Brief; warten auf den ersehnten Urlaub, die größere Wohnung oder eine zündende Idee. Und manchmal auch ganz banal darauf, dass die Werbepause im Fernsehen endlich vorbei ist.
Wissenschaftler des „Colors Magazin 2“ haben errechnet: Jeder Mensch verbringt im Durchschnitt zwei Jahre seines Lebens mit Schlangestehen, sechs Monate mit Warten an der Verkehrsampel und ein Jahr mit dem Versuch, Telefonanrufe zu beantworten. Böse Zungen behaupten sogar, dass Männer insgesamt ein Jahr vor Umkleidekabinen ausharren, bis ihre Frau das richtige Kleid gefunden hat.
Wie lang wir eine Wartezeit empfinden, ist individuell verschieden. Unsere Wahrnehmung, unsere innere Erwartungshaltung entscheidet über Schnelligkeit oder Langsamkeit von zeitlichen Veränderungen. Es gibt Situationen, in denen sich Minuten zu Stunden auszudehnen scheinen: Ungerechtes Warten z. B. dauert ewig. Auch tiefe Angst und totale Ungewissheit lassen die Zeit endlos erscheinen.
Eine Störung, eine Unterbrechung oder Verzögerung und die damit veränderte Perspektive rücken den eben noch kaum spürbaren Moment plötzlich scharf ins Bewusstsein und somit in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn nun interessiert lediglich die Zukunft, nicht aber mehr das aktuelle Geschehen. Warten ist das Gerichtetsein auf ein Ziel mit dem Wunsch, es auch unbedingt zu erreichen. Hinzu gesellt sich das zermürbende Gefühl des Ausgeliefertseins, die entsprechende Situation nicht beeinflussen zu können.
Warten hat auch immer etwas Schicksalhaftes: Man kann weder das Eintreffen oder das Ausbleiben der Erwartungen und Wünsche provozieren noch die Dauer der Wartezeit verlangsamen oder beschleunigen. Könnten tägliche Wut und permanenter Ärger über Zugverspätungen in Energie umgewandelt werden – es würde wohl jeder ICE mit Höchstgeschwindigkeit und überpünktlich in den Bahnhof einfahren …
Der Soziologe Prof. Rainer Paris von der Hochschule Magdeburg hat sich viele Jahre mit dem Phänomen des Wartens beschäftigt und kam in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass diese permanente Ungeduld auch ein Phänomen unserer Kultur ist: „Für die westliche Welt gilt: Zeit ist Geld. Zeit darf nicht verschwendet, jede Minute muss genutzt werden. Man kann also sagen: Warten ist dort teuer, wo Zeit Geld ist.“
Andere Völker gehen oft auch ganz anders mit Zeit um. In Brasilien z. B. muss man nicht genau zum vereinbarten Termin erscheinen. Pünktlichkeit ist verpönt und signalisiert einen Mangel an Souveränität. Für die Menschen dort ist es keine verlorene Zeit, auf jemanden oder auf etwas zu warten, denn Zeit ist in ihrer Vorstellung nichts, was verloren gehen kann.
Diese Einstellung herrscht auch in Indien. Wer dort in einem Zug sitzt, der 20 Stunden Verspätung hat, kann ja nicht 20 Stunden nur warten, sondern muss sich ablenken und etwas anderes tun, als immer daran zu denken, was er inzwischen alles verpasst.
„Die Schwierigkeit zu warten, hängt mit unserem Zeitmodell zusammen: Die indische Kultur hat ein kreisförmiges Zeitmodell, mit der Annahme, dass alles wieder zu seinem Ursprung zurückkommt,“ erklärt der Berliner Coach und Zeitforscher Olaf G. Klein. „Wenn ich eine kreisförmige Zeitvorstellung habe, bin ich mit dem jeweiligen Augenblick verbunden, weil ich mir bewusst mache, dass Jahreszeiten, Mondzyklen oder Tag und Nacht wiederkehren.
Übrigens, unsere herkömmlichen Uhren sind immer noch ein Abbild davon, dass man früher kreisförmig dachte, denn die Zeiger der Uhr kehren ja immer wieder an dieselbe Stelle zurück.“
Eine lineare Zeitvorstellung ist dagegen im christlichen Abendland vorherrschend, verbunden mit der Fantasie, dass das Leben eine Reise ist, an deren Ende man ins Paradies eintritt. Die Erlösung wird in der Zukunft gesucht. „Deshalb“, so Klein, „erwarten wir, dass die Zukunft das bringt, was gerade jetzt nicht vorhanden ist. Diese Zukunftsfixiertheit ist eine der Ursachen, warum wir jegliches Anhalten und Ausharrenmüssen als dramatisch empfinden und dadurch die Gegenwart entwerten.“
Warten jedoch ist nicht gleich warten, es gibt verschiedene Formen: das konkrete Warten, von dem man hofft, dass es nach einer Weile beendet ist und der ICE weiterfährt. Das leidende Warten, wo man ahnt, dass das Ersehnte sich nur unter größten Schwierigkeiten erreichen lässt – vielleicht bekommt man nach hartnäckigem Drängen einen Termin beim Chef, doch die angefragte Gehaltserhöhung lässt sich nicht durchboxen.
Oder das illusorische Warten, eine beliebte Art, sich mit dem Leben zu arrangieren: Man lügt sich selbst vor, dass man in Kürze sein Ziel, das man sich gesetzt hat, erreichen wird. Doch bleibt es eine Selbsttäuschung – das kennt jede Frau, die versucht hat, in drei Tagen sechs Kilo abzunehmen mit dem Blick auf die Bikinifigur.
Aber wie heißt es doch so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das hat der russische Schriftsteller Anton Tschechow in seinen „Drei Schwestern“ anschaulich beschrieben: Die Frauen projizieren all ihre Wünsche und Hoffnungen in ihre Sehnsuchtsstadt Moskau, obwohl sie ahnen, dass sie dorthin nicht zurückkehren werden. Und so wird Moskau ein Synonym für alle verpassten und verpatzten Lebenschancen und bleibt aus weiter Ferne ein Versprechen.
Ähnlich verhält es sich auch mit dem unbewussten Warten, bei dem viele Menschen das kleine Glück versäumen, während sie auf das große warten.
Warten Frauen eigentlich anders als Männer? Ja, sagt Uta Brandes, Professorin an der Fachhochschule Köln für Gender und Design. In Hunderten Beobachtungsstudien hat sie mit ihren Studenten Passanten an Haltestellen beobachtet und fand heraus: je länger die Wartezeit, desto größer der Bewegungsdrang der Männer. Zwar liefen auch die Frauen nervös auf und ab, aber sie legten nur knapp die Hälfte dessen zurück, was die Männer abschritten. Frauen blieben mehr am Platz, Männer markierten sozusagen ihr Territorium.
Männer scheinen es auch schwerer auszuhalten, warten zu müssen, und versuchen häufiger als Frauen, Situationen zu vermeiden, in denen sie etwas langfristig aussitzen müssen. Besonders ungern warten sie auf Menschen und deren Zuneigung, da sie zumeist gelernt haben, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie möchten nicht in Situationen gebracht werden, die sie abhängig vom Verhalten anderer machen. Und was sie gar nicht leiden können ist, irgendwo anstehen zu müssen.
Nur, wer mag das schon, dieses Anstehen beim Fahrkartenkauf oder im Supermarkt. Gepaart mit dem Gefühl, sich genau in die Schlange eingereiht zu haben, in der es nicht vorangeht.
Für den Bielefelder Psychologen Ralf Klose ist dies eine Frage verzerrter Wahrnehmung. Seiner Ansicht nach treibt die Langeweile den Wartenden in solch eine einseitige Analyse: „Man kommt, wenn man nichts zu tun hat, schnell zum Ergebnis: Aha, ich stehe wieder mal in der langsamsten Schlange. Das kann eine Wahrnehmungstäuschung sein, denn man fängt an, nur auf die Vorwärtsbewegung der anderen Schlange zu achten. Oder aber man ist geschickt vorgegangen und dann läuft etwas schief.“ Außerdem neigen wir dazu, uns negative Erlebnisse besser zu merken und positives Vorankommen dagegen schneller zu vergessen. „Das sind Gedächtniseffekte, die einen in der einseitigen Wahrnehmung noch bestätigen.“
Beim Anstehen kann man aber noch etwas anderes beobachten: Nicht jeder ist wütend. Ungeduld und Nervosität stellen sich nicht automatisch bei jedem Wartenden ein, sondern sind eine Kombination aus Persönlichkeitseigenschaften und Charakteren. Es gibt Menschen, die sich schnell aufregen, und andere, die relativ gelassen bleiben. Das hat auch etwas mit Erfahrungen zu tun. Wer oft in einer Schlange steht, erinnert sich bewusst daran, dass es gleich vorbeigehen wird, beruhigt sich, holt eine Zeitung aus der Tasche und beginnt zu lesen. Wer häufig mit der Bahn fährt, kennt den „Halt auf freier Strecke“ und fängt ein Gespräch mit dem Nebenmann an, um sich abzulenken. Wer ohnehin ein nervöser und ungeduldiger Zeitgenosse ist, reagiert auf das Warten allergisch. Wer insgesamt ausgeglichener ist, wird einen Umstand, der sich nun mal nicht ändern lässt, als gegeben hinnehmen, ohne sich daran groß aufzureiben.
Nur, wie kann man es schaffen, gelassener zu warten? Nadja Huthmann vom Baseler Institut für Visuelle Kommunikation hat in ihrer Studie: „So warten sie“ anhand von Hunderten Interviews herausgefunden, dass Lesen die häufigste Beschäftigung ist: 61,1 % der Frauen und 51,6 % der Männer lesen, während sie warten. Männer bevorzugen Zeitungen, Frauen Zeitschriften. Laut Nadja Huthmann gab über die Hälfte der Frauen an, dass sie sich außerdem auch gern damit ablenkt, ihre Mitmenschen zu beobachten, über etwas Bestimmtes nachzudenken oder mit anderen ins Gespräch zu kommen.
Die meisten Menschen haben beim Warten das Gefühl, Zeit zu verlieren oder zu vergeuden – was so aber nicht stimmt, denn der Tag hat bekanntlich immer 24 Stunden. „Man sollte sich bewusst machen“, so Olaf G. Klein, „dass es sich immer um ein Stück Lebenszeit handelt, die man nicht durch andere entwerten lassen darf. Wir müssen versuchen, sie trotz der negativ erlebten Gefühle sinnvoll zu nutzen – und wenn man sich an den Blumen am Weg erfreut oder an den letzten Urlaub am Meer denkt.“
Warten können ist eine Frage der inneren Haltung. Es gibt diese schöne Geschichte von einem Zen-Buddhisten, der sitzt und meditiert. Plötzlich hört er einen Hund bellen und ihm ist klar: Er kann sich darüber aufregen, doch wird er ihn deswegen nicht zum Schweigen bringen. Besser wäre, sich so zu entspannen, dass dieses Bellen die Meditation nicht stört, sondern ein Teil des Augenblicks wird. Das will gelernt sein.
Deshalb ist es wichtig, sich in Gelassenheit zu üben – rät der Hamburger Coach für Persönlichkeitsentwicklung Thomas Hohensee: „Innere Ruhe ist ein Gefühl, das wir mit entsprechendem Denken hervorrufen können. Es funktioniert auf dieselbe Weise, wie wir auch Angst, Wut, Trauer und Freude auslösen können. Wir werden wütend, wenn Dinge anders verlaufen, als wir uns das vorgestellt haben, und glauben, ein Recht auf die Erfüllung unserer Erwartungen zu haben. Der Widerstand der Welt gegen unsere Pläne frustriert uns – doch da haben wir die Verdrehung der Realität: Nicht der Widerstand der Welt gegen unsere Erwartungen macht uns wütend, sondern wir machen uns wütend, weil wir dies partout nicht akzeptieren wollen.“
Also, Luft holen, sich bewusst machen, dass diese unangenehme Situation vergehen wird: Es ist, wie es ist, und lässt sich im Moment nicht ändern. Und wird keinesfalls besser, wenn man sich aufregt. Was hilft? Die Gedanken vom Ziel weg zum jetzigen Augenblick leiten: Was sehe ich, was umgibt mich, was kann ich gerade tun, um mich abzulenken? Das hilft natürlich nicht in jeder misslichen Lage, aber ein Versuch ist es wert, um den Ärger über das ungewollte Ausharrenmüssen zu mildern.
Der Zeitexperte Prof. Karlheinz Geißler wirft angesichts des drohenden Nichterreichens dringender Termine die Frage auf: „Sind sie wirklich so wichtig? Ist nicht oft das, was dringend wirkt, drei Stunden später schon nicht mehr dringlich? Dringlichkeit soll oft Wichtigkeit implizieren und ist Bestandteil unseres Konkurrenzsystems. Man macht sich damit wichtig. Wir führen einen Zeitkrieg, weil wir an Mythen glauben wie ‚Der Schnelle frisst den Langsamen‘. Doch wer schnell ist, kann manchmal auch schnell am Ende sein.“
Uminterpretieren, Zusammenhänge herstellen und Informationen beschaffen, das kann auch helfen: Denn es fällt leichter, sich in Geduld zu üben, wenn man abschätzen kann, wie lange es wohl noch dauern wird. Manchmal lindert auch – wenn möglich – ein Ortswechsel in ein anderes Abteil im Zug oder einen anderen Warteraum auf dem Bürgeramt: Vielleicht ist da das Ambiente etwas angenehmer oder man kann dort ungestört telefonieren oder lesen.
Apropos lesen: Ohne das Phänomen des Wartens wäre die Weltliteratur wohl um etliche Werke ärmer – man denke nur an den Klassiker „Warten auf Godot“, wo das Warten an sich das Ziel wird. Und auch viele Filme würden uns nicht so unter die Haut gehen ohne dieses ungewisse Ziel.
Erinnern Sie sich noch an das Ende von „Spiel mir das Lied vom Tod“?: „Das wird mal eine schöne Stadt, Sweetwater“, sagt der Mundharmonikaspieler. Und Jil antwortet: „Sweetwater wartet auf dich.“ Darauf er: „Irgendeiner wartet immer.“ Dem ist wirklich nichts mehr hinzuzufügen …
Birgit Weidt
Autorin, Journalistin
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