Achtsamkeit in der Familie! Familienkompetenzen fördern – aber wie?
Wenn von Achtsamkeit in der Familie gesprochen wird, geht es um komplexe Fähigkeiten. Denn Achtsamkeit setzt in einem hohen Maße Empathiefähigkeit voraus. Und wer einfühlsam ist, kann auch achtsam zuhören, um ein gutes Miteinander in der Familie zu kultivieren.
Eine vertrauensvolle und wertschätzende Haltung steht im Mittelpunkt der ElternKind-Beziehung und ist enorm wichtig für eine gesunde Entwicklung von Kindern. Und da geht es auf der emotionalen Ebene erst einmal darum, dass eine Familie wahrzunehmen lernt, dass sich jeder in sich selbst und in die anderen Familienmitglieder einfühlen kann. Gewiss wird eine Familie auf diesem Weg des Kommunizierens entdecken können, dass Kinder und Eltern unterschiedliche Gefühle und Bedürfnisse haben.
Wie Achtsamkeit im System Familie gelingen kann, ist laut der soeben veröffentlichten Achtsamkeitsstudie der Universität Bielefeld im Ergebnis beunruhigend: „Fast jedes dritte Kind (31 %) und jeder fünfte Jugendliche (17 %) fühlt sich von seinen Eltern nicht beachtet. Das sind 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland. Das hat weitreichende Folgen und Nachteile für deren Entwicklungs- und Widerstandsfähigkeit. Nicht beachtete Kinder und Jugendliche weisen Defizite in ihrem Selbstbewusstsein, ihrem Vertrauen, ihrer Lebenszufriedenheit und Empathiefähigkeit auf.“
Prof. Dr. Holger Ziegler warnt in einem Artikel auf der Homepage der Universität Bielefeld: „Wenn Kinder das Gefühl haben, dass innerhalb der Familie nicht auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird, ist das eine erschreckende Erkenntnis und ist für die Entwicklung von Kindern so gravierend wie ein Leben in Armut.“
Wie können also Familienkompetenzen achtsam gefördert werden? Denn Konflikte sind natürlich – aber sie wollen auch wahrgenommen, verstanden und letztlich zur Zufriedenheit von Eltern und Kindern gelöst werden.
Achtsamkeit im Familienalltag
So kann es im Alltag von Familien leicht passieren, dass die Verbindung zu sich selbst und zu den Kindern nicht von Achtsamkeit geprägt ist, das berühmte Fass mit dem heißen Tropfen zum endgültigen Überlaufen gerät und eine Situation eskaliert. Nonverbal, wo die Worte schweigen, spricht dann der Körper. Mimik, Gestik, Rückzug finden statt, die Bandbreite an Möglichkeiten und Formen von Verhalten und emotionalen Reaktionen ist groß. Oder es gibt Worte, die im Eifer des Gefechts schnell und wütend geäußert werden, die beleidigend sind und weitreichende Folgen haben. Das können Worte sein, die noch lange nachklingen, sie liegen dann wie dunkle Gewitterwolken über der Familie.
Sprachlosigkeit, Rückzugstendenzen bis hin zu einer Verweigerung können dann Ausdruck einer Familiensituation sein, in der sich keiner wohlfühlt.
Als Heilpraktikerin für Psychotherapie begleite ich Kinder, Jugendliche, Eltern und Familien therapeutisch mit meinem ganzheitlichen Konzept „HERZWESEN®-Lernen mit allen Sinnen“. Außerdem bin ich direkt in Kitas und Grundschulen tätig. In Institutionen arbeite ich mit Kindern und Eltern sowie Erziehern und Pädagogen in Kursen und Fortbildungen. Die Achtsamkeit, das Gewahrsein für das, was im Hier und Jetzt, in diesem Augenblick lebendig ist, steht dabei im Fokus meiner Arbeit.
In meiner Praxis werde ich häufig von Eltern um Unterstützung für die ganze Familie gebeten. Dies erscheint mir hilfreich und auch bedeutend, da die Kinder am Modell der Eltern lernen, wie in der Familie Alltägliches und Persönliches angesprochen werden. Wenn es um Achtsamkeit geht, ist natürlich das ganze Familiensystem gefragt.
In der systemischen Beratung habe ich in den nunmehr 15 Jahren erfahren, dass bereits die Wahrnehmung und die Akzeptanz der unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern und Eltern ein guter Einstieg ist, Kommunikation achtsamer zu gestalten.
In einem Coaching sagt dann z. B. Tom, ein neunjähriger Junge, der die vierte Klasse der Grundschule besucht, zum ersten Mal vor seinen Eltern, dass er gerne von diesen am Nachmittag zuerst einmal gefragt werden möchte, wie es ihm nach dem langen Schultag gehe. Er sei schließlich auch müde, habe Hunger und wolle in Ruhe essen. Stattdessen wurde aber noch beim Essen nach der Note im Mathetest gefragt. Wenn der dann gut ausgefallen war, hat die Familie ein ruhiges Abendessen gehabt. Leider war der Test aber richtig danebengegangen – trotz reichlichen Lernens und Unterstützung durch eine kontinuierliche Lernförderung. So wurde die Stimmung durch die verhauene Klassenarbeit mit einem „Ungenügend“ vermiest.
Der Junge zog sich in sein Zimmer zurück, war traurig, machte sich selbst Sorgen und fühlte sich als Versager. Er stellte sich selbst infrage und hatte keine Idee, wie es wohl mit ihm weitergehen würde. Es fiel allen in der Familie schwer, das anzunehmen, was gerade war.
Die Achtsamkeitsstudie 2017 der Universität Bielefeld stellt die Frage: „Kommen unsere Kinder zu kurz?“ und geht dezidiert auf die Belange von Kindern ein. Laut Studie zeigt sich das Erleben von Achtsamkeit im Alltäglichen. Eine Nachfrage der Eltern, wie der Tag für die Kinder war, gemeinsame Unternehmungen und Zuneigungsbekundungen wie „Ich hab dich lieb“ zeigen die für Kinder so wichtige Aufmerksamkeit und Zuwendung. Auf eine entsprechende Frage äußern Kinder häufig, dass sich ihre Eltern nicht gerne mit ihnen beschäftigen.
Im Gespräch mit den Eltern des Viertklässlers meinten diese, dass sie sich sehr wohl Gedanken um das Wohlergehen ihres Sprösslings machten. Sie überlegten, was zu tun sei, denn immerhin ging es jetzt im vierten Schuljahr um eine gute Empfehlung der Grundschulpädagogin für das Gymnasium. Hier kann auch gleich das Bedürfnis der Eltern erkannt werden, wenn der Vater sagt, dass sein Sohn das Gymnasium besuchen solle, denn auch er hätte dies damals mit Fleiß und Disziplin geschafft. Aber leider gelang es trotz reichlicher Nachhilfe nicht, den Notenspiegel anzuheben.
Letztlich brachten die Pädagogen der Grundschule den Ball ins Rollen, als sie der Familie eine therapeutische Unterstützung empfahlen, denn innerhalb des ersten Halbjahrs der vierten Klasse stand der Junge permanent unter Druck und die Belastung hinsichtlich seiner Noten nahm zu. Ängste, Sorgen, Enttäuschung, Wut, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der Hilflosigkeit wurden auf allen Seiten erkennbar und beeinträchtigten mittlerweile das Verhalten und die Kommunikation des Jungen in der Klasse. Auch hier zeigte er bereits ein auffälliges Verhalten und sah die einzige Möglichkeit darin, mit Schimpfwörtern und Hauen zu reagieren. Es gelang ihm kaum, bei Rückgabe einer Hausarbeit ruhig zu bleiben. Er brach, selbst wenn er die Note noch nicht kannte, in Tränen aus. Wenngleich die Klassenlehrerin viel Verständnis für die Tränen hatte und sich Zeit nahm, tröstende Worte zu finden, wurde er nun auf dem Schulhof in der Pause von seinen Mitschülern als Heulsuse ausgelacht.
Der Druck nahm in der Schule weiter zu. Auch durch die Klassenlehrerin geriet Tom immer wieder in Loyalitätskonflikte, wenn diese ihm sagte, dass seine Eltern mehr Zeit für ihn finden sollten. Hier verteidigte er natürlich nach außen hin seine Eltern.
In der Bielefelder Studie wird auch das Teilen der eigenen Ängste und Sorgen als Lern- und Erfahrungsprozess eines achtsamen und kommunikativen Miteinanders in der Familie beschrieben. Die Studie zeigt jedoch, dass Kinder und Jugendliche hier häufig allein bleiben. 29 % aller befragten Kinder teilen ein konkretes Angstempfinden nicht mit den Eltern. Katia Saalfrank, Schirmherrin und Förderin dieser Achtsamkeitsstudie, sieht hier eine Wechselwirkung: „Wenn Eltern die Ängste ihrer Kinder nicht wahrnehmen oder als unwichtig abtun, lernen Kinder, dass ihre Gefühle nicht wichtig sind. Sie werden sich dann langfristig ihren Eltern gegenüber nicht öffnen. Sie lernen zu schweigen oder werden in ihrem Verhalten auffällig. So oder so fühlen Kinder sich nicht gehört und mit ihren Anliegen nicht willkommen, was dann zur Folge hat, dass sie auch in ihrer späteren Entwicklung mit ihren Sorgen und Gedanken allein bleiben.“
Und ähnliche Erfahrungen machte nun auch Tom. Er fühlte sich nicht ernst genommen und unverstanden von seinen Eltern, die Lehrer waren eher ratlos und auch Freunde konnte er nicht finden. Die Kinder in der Schule zogen ihn immer mehr auf, der morgendliche Gang zur Schule wurde zum Spießrutenlauf, er selbst reagierte darauf mit einem kompletten Rückzug und stand alleine in der Pause da oder verdrückte sich in eine Ecke.
Ängste und Sorgen von Kindern ernst nehmen
Nachdem nun der Konflikt und vor allem die Ängste der Eltern und des Kindes so massiv waren und die Entscheidung für eine weiterführende Schule wie ein Damoklesschwert über allem und allen schwebte, unterstützte ich die Eltern in Form von Elterncoachings.
Hier gaben sich die Eltern das erste Mal den Raum, über ihre Gefühle, Sorgen und Ängste zu sprechen. Ängste über die Zukunft ihres Kindes, aber auch die eigene Betroffenheit und Hilflosigkeit wurden bekundet. Ich besprach mit den Eltern, dass es hilfreich sei, wenn sie wiederum im Gespräch mit ihrem Sohn unvoreingenommen, zugewandt, offen und interessiert zuhören, nachfragen und seine Äußerungen nicht kritisieren oder bewerten. Denn längst war es für Tom klar, dass er das Gymnasium nicht besuchen wollte. Er war eher der praktisch Veranlagte in der Grundschule und hatte viel Spaß daran, sich genau Abläufe anzuschauen. Besonders das Mechanische an Autos hatte es ihm angetan.
Im Training arbeitete Tom gern und leicht mit den HERZWESEN®-Handpuppen und sprach vieles sehr konkret an. Er äußerte dann z. B. in einer Stunde, dass er glaube, dass er mit den Handpuppen schon gute Gespräche über seine Gefühle geführt habe. Er fühle sich ernst genommen. Es half ihm, wenn er sich selbst wieder einmal unter Druck gesetzt fühlte, achtsamer mit sich selbst umzugehen. Er konnte dann besser zu sich selbst sagen, dass er am heutigen Tag sein Bestes gegeben habe. Und dass morgen ein neuer Tag mit neuen Chancen sei. Die HERZWESEN®-Handpuppe „Naseweis“ mochte er besonders. Der Name gefiel ihm gut, denn ein wenig naseweis und neugierig sei er selbst, erzählte er. Und die Neugier, das entdeckte er in der Arbeit mit den Handpuppen, war eine große Ressource des Jungen.
Achtsamkeitsübungen für Kinder
Kindgerechte Achtsamkeitsübungen, die Tom das aufmerksame und wertfreie Beobachten des Augenblicks ermöglichten, sowie Übungen, die seine Sinne anregten, bis hin zu Übungen, wie er die eigene Innenwelt (Gedanken, Gefühle, Stimmung) erkunden konnte, ließen ihn wieder hoffnungsvoller und gegenwärtiger zu den Terminen erscheinen. Seine Kreativität half ihm weiter, auch Situationen, die er in der Familie erlebt hatte, mithilfe des Kartensets HERZWESEN®-Gefühle zu einer Geschichte auszubauen – das Storytelling gefiel ihm besonders gut.
In der Kommunikation mit den Eltern wurde das Thema der Achtsamkeit immer wieder fokussiert. Auch sie verstanden im Laufe des Trainings besser, dass Tom bislang lieber seine Bedürfnisse unausgesprochen ließ, schlechte Noten verschwieg, die Unterschrift der Eltern fälschte und eher in seinem Verhalten auffällig wurde, weil er sich in seinen Bedürfnissen „nicht ernst genommen“ fühlte.
Jetzt, im zweiten Grundschulhalbjahr ist die Entscheidung für die Gesamtschule zusammen mit dem Jungen getroffen worden. In Rollenspielen mit den HERZWESEN®- Handpuppen lernt die Familie aktuell achtsam miteinander umzugehen und mehr das auf den Punkt zu bringen, was die Einzelnen auf dem Herzen haben.
Und das geht sehr viel einfacher im Übertragungsprozess, weil die HERZWESEN®- Handpuppen von Schwierigkeiten in der Kommunikation berichten, die davon erzählen, wenn ein Kind sich nicht gehört, achtsam behandelt fühlt oder Sorgen und Ängste nicht ernst genommen werden.
Und auch die Eltern können viel von den Handpuppen lernen: Mit dem Abstand zur eigenen Lebenssituation dürfen sie Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Zuschreibung von Versagen, Unfähigkeit bis hin zu Schuld auf diese übertragen und lernen so, ihr eigenes Kommunikationsverhalten besser kennen und reflektieren.
Die Bielefelder Studie stellt die Frage, wie Eltern die Achtsamkeit gegenüber ihren Kindern verbessern und deren Entwicklung fördern können. Katia Saalfrank äußert sich hierzu wie folgt: „Eigene emotionale Bedürfnisse wahrzunehmen, sie zu erkennen und zu befriedigen, ist wichtig für die seelische und körperliche Entwicklung des Menschen. Eltern übernehmen das zunächst für die Kinder, indem sie die wahrgenommenen Bedürfnisse achtsam regulieren und Gefühle benennen. So können Kinder langfristig ihre eigene ‚emotionale Landkarte‘ kennenlernen. Dies bedeutet jedoch auch, zunächst einmal Achtsamkeit für sich selbst zu entwickeln.“
Ein Ergebnis der Studie gibt den Forschern besonders zu denken: Nur 54 % der befragten Kinder geben an, dass sie sich in andere hineinversetzen können und mit ihnen mitfühlen. Prof. Dr. Ziegler sieht die Ursachen unter anderem in der gesellschaftlichen Entwicklung: „Die Gesellschaft fühlt nicht mehr mit. Die Vermittlung von Solidaritätswerten nimmt ab – auch in der Erziehung.“
Die Förderung von Achtsamkeit ist tatsächlich in unserer heutigen Zeit zu einer riesigen Herausforderung geworden – die Erfahrung, dass Zuwendung, Einfühlung sowie eine achtsame Kommunikation Verbindungen in der Familie schaffen und sich gut anfühlen, ist ein essenzieller Schritt zum Erlernen dieser Fähigkeit.
Eltern unterstützen langfristig ihre Kinder darin, ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, sich gut in sich selbst einfühlen zu können und auch empathisch gegen- über anderen zu sein. Sie lernen damit, ein größeres Selbstvertrauen für ihr Leben zu entwickeln und zu stärken.
Literatur
- Achtsamkeitsstudie Universität Bielefeld, 2017: Kommen unsere Kinder zu kurz?
http://www.presseportal.de/pm/113164/3670683
Marie-Anne Raithel
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Coachin DVNLP, EMDR-Therapeutin, Leitungswissen Kinderschutz in Institutionen, Traumapädagogin, Dozentin an der Paracelsus Schule Aachen, HERZWESEN®-Lernen mit allen Sinnen
Das Buch zum Thema
Raithel, Marie-Anne:
HERZWESEN®–Lernen mit allen Sinnen.
Sozial-emotionales Kompetenztraining.
Shaker Media Verlag,
ISBN 978-3-84401-054-1
Fotos: fotolia©JackF