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Narzisstische Kränkung bei Machtverlust

fotolia©psychoshadow„Dann haben Sie das immer noch nicht richtig verstanden.“ Klaus M. ist genervt. Seit Tagen versucht er einem Mitarbeiter zu vermitteln, was er von ihm erwartet. Aber zwischen seiner Erwartungshaltung und den erzielten Ergebnissen liegen tiefe Gräben. Man könnte auch sagen „Schützengräben“, denn Klaus M. rüstet auf. Seine Äußerung ist mehr als ein Warnschuss, denn sie zielt mitten in das Selbstbild des Mitarbeiters. Oft ist das ein Treffer ins Schwarze. Implizite „Du bist nicht o.k.“-Botschaften werden von Mitarbeitern durchaus registriert, woraus eine Abwärtsspirale entsteht: Abwertungen oder Zweifel begünstigen oft das unerwünschte Verhalten. Unsicherheit und Rückzug sind die Folge.

Führungskräfte deuten solche Reaktionen in aller Regel als Widerstand. Unterstützung findet diese Bedeutungsgebung durch die selektive Wahrnehmung. Sie sucht unbewusst nach Bestätigung für die Vorannahmen und lenkt die Aufmerksamkeit automatisch auf die Schwächen des Mitarbeiters.

Hinter diesen Leitungsfeldzügen tarnt sich in vielen Fällen eine sehr menschliche Reaktion: die narzisstische Kränkung. Gerade Führungskräfte in Organisationen mit strenger Hierarchie wie der Bundeswehr, der Polizei, der Politik und auch im Gesundheitswesen sind anfällig für narzisstische Kränkungsreaktionen. Narzisstische Persönlichkeitsanteile können immer dort gut gedeihen, wo die Macht des Amtes oder der Funktion überproportional stark wirkt, unabhängig von der persönlichen Führungseignung.

Hier greift der „Kaiser-Effekt“, bekannt aus dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ nach Hans Christian Andersen. In intensiv erlebten Abhängigkeitsverhältnissen fällt die ungefilterte Kritik der Linientreue zum Opfer. Loyalität wird als höchster Wert betont. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“, könnte die vereinfachte Zusammenfassung lauten. In der Bundeswehr wird dieser Effekt noch durch ein „feierliches Gelöbnis“ untermauert. Die Soldaten verpflichten sich, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen“. Ranghöhere Militärs könnten in die Versuchung kommen, den Staatsnamen durch ihren Nachnamen zu ersetzen.

Die narzisstische Kränkungsreaktion ist keine Störung im pathologischen Sinne. Im Gegenteil: Sie ist Teil der Homöostase und kann dafür sorgen, dass wir unser inneres Gleichgewicht wiederfinden. Vorausgesetzt, wir gestehen uns ein, dass uns etwas aus der Bahn geworfen hat. Die narzisstische Kränkung kann dabei unterstützen, den vorübergehenden Selbstbetrug zu beenden. Bei Klaus M. bestand der Selbstbetrug z. B. in der Ausblendung der Frage: Welchen Beitrag leiste ich selber zum Misserfolg? Ein heißes Eisen, das nicht jede Führungskraft bereit ist zu schmieden.

In Abgrenzung zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist die narzisstische Kränkung eine normale Reaktion auf eine als „unnormal“ erlebte Situation. Problematisch ist nicht das Kränkungserleben an sich, sondern die oft inadäquaten Bewältigungsmechanismen im Anschluss. Hier greifen nämlich in aller Regel Reaktionsweisen, die durch den narzisstischen Anteil in uns gespeist werden. Dieser Teil wird vorübergehend zum Hauptdarsteller auf der inneren Bühne und macht „großes Theater“. Warum? Dafür müssen wir tiefer in die Wirk-Kiste des Narzissmus einsteigen.

Jeder Mensch hat das tiefe Bedürfnis nach Anerkennung, Gesehenwerden, Aufmerksamkeit und Autonomie. Das sind ganz normale soziale Bedürfnisse – und deren Erfüllung oder Nichterfüllung leisten einen entscheidenden Beitrag zum Selbstbild. Unser „Ich“ braucht ein Mindestmaß an Achtung und Wertschätzung, damit wir uns selbst bejahen und lieben können. Wird ihm dieses Mindestmaß vorenthalten, in aller Regel durch enge Bezugspersonen, können daraus starke Akzentuierungen der Persönlichkeit entstehen, von der depressiven bis zur narzisstischen Persönlichkeit. Insofern gibt es durchaus einen „gesunden“ Grad an Narzissmus, der für unser Selbstbewusstsein sorgt und uns innerlich stark macht. Funktionale narzisstische Reaktionen können damit einen wichtigen Beitrag zur Resilienz leisten.

Im Falle einer narzisstischen Kränkung wird der narzisstische Persönlichkeitsanteil vorübergehend überbetont und somit zum Samurai. Die hilfreichen narzisstischen Wirkungen gehen verloren. Was sich stattdessen äußert, sind die charakteristischen und problematischen Eigenschaften des Narzissmus, die keine Begrenzung mehr erfahren: Aus der Selbstliebe wird die Unfähigkeit, sich selbst oder andere zu lieben. Daraus resultiert ein erheblicher Empathiemangel. Die Selbstakzeptanz mutiert zur Abhängigkeit von der Bestätigung durch andere. Die Abhängigkeit von Bewunderung und Aufmerksamkeit, der Anspruch auf die eigene Makellosigkeit löst Verhaltensweisen aus, die in Teilen tatsächlich den Entzugserscheinungen bei Substanzabhängigkeiten nahekommen. Statt zu deeskalieren wird aufgerüstet: Drohungen, Erniedrigungen oder Kontaktabbruch können die Folge sein. Die Überbetonung der narzisstischen Bedürfnisse führt dauerhaft zu Beziehungsstörungen, nicht selten enden sie in Stellungskriegen.

Der Mitarbeiter von Klaus M. fühlt sich durch dessen Äußerung gekränkt. „Der hält mich wohl für total bescheuert.“ Seine Motivation, sich auf einen lösungsorientierten Dialog einzulassen, sinkt. In ihm entsteht vielmehr das Bild von „dem da oben und wir hier unten“. Was ihm hilft, sein Kränkungserleben zu verdauen, ist sein stützendes kollegiales Umfeld und seine „multiplen Persönlichkeitsanteile“, die ihm ausgewogen zur Verfügung stehen. Daraus resultieren adäquate Bewältigungsmuster, die sich z. B. aus einem Mix von Selbstzweifel, Akzeptanz, Wut und Galgenhumor zusammensetzen. Wichtig scheint mir der Hinweis: Gekränkt fühlen sich beide. Der Unterschied liegt in der Annahme und den Konsequenzen aus dem Kränkungserleben.

Jedes Verhalten und Nichtverhalten hat das Potenzial, Kränkungserleben auszulösen. In hierarchischen Systemen geht es dabei häufig um Macht bzw. Machtverlust. Machtverlust bezieht sich dabei nicht nur auf das Degradieren (zurück ins Glied), sondern auch und vor allem auf das subjektive Erleben von Ohnmacht: „Ich weiß mir wirklich keinen Rat mehr.“ Völlig hierarchiefreie Organisationen sind mir in meinem Berufsleben noch nicht begegnet. Auch in sich selbst steuernden Arbeitsteams entwickeln sich inoffizielle Rollen, die das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung bedienen.

Narzisstisch strukturierte Persönlichkeiten wirken in der Regel charismatisch, überzeugend und haben die Fähigkeit, andere Menschen zu begeistern. Deswegen begegnen wir ihnen häufig in leitenden Positionen. Macht kraft des Amtes ist für sie eine gute Ausgangsbasis um wirksam zu sein. Dabei ist Macht noch kein Wert an sich.

Was Führungskräfte aus ihr machen, liegt in ihrer Hand. Wie ein Messer, das sowohl hilfreiches Werkzeug als auch Mordinstrument sein kann. Wer als Führungskraft narzisstische Kränkungsreaktionen zeigt, tendiert eher zum Brudermord.

Supervisionen, Coachings, kollegiale Beratungen und auch die regelmäßige Selbstreflexion unterstützen dabei, narzisstische Kränkungsreaktionen zu identifizieren. Die in ihnen wirksamen Kräfte können durch adäquate sprich zielführendere Verhaltensweisen kanalisiert werden. Das Schlachtfeld wird zum Lernfeld.

Hinweise auf eine narzisstische Kränkung – und wie man ihr begegnen kann

1. Egozentriertheit

Die narzisstische Kränkung löst eine Verteidigungshaltung aus, um den verletzten Selbstwert wieder herzustellen und zu stabilisieren. Es ist die „Feste Ego“, die verteidigt wird. Besonders deutlich wird die Abwehrhaltung durch einen eingeengten Sprachgebrauch, der sich in vielen „Ich“- und „Man“-Botschaften äußert: „Ich hab es doch nur gut gemeint“ oder „Man wird doch auch mal was sagen dürfen“ oder „Das brauche ich mir doch gar nicht bieten zu lassen“ sind typische Aussagen.

Diese Ich-Botschaften sind allerdings kein Zeichen von Eigenverantwortung. Sie sind eher als Trennungslinie zu verstehen: „Bis vor die Tore und nicht weiter, mich trifft das gar nicht.“ Hilfreich ist es, dem „Gekränkten“ seine Einflussmöglichkeiten deutlich zu machen. Dadurch wird nicht nur seine Wichtigkeit betont, sondern indirekt auch an seine Eigenverantwortung angeknüpft. Unterstützen Sie narzisstisch gekränkte Menschen dabei, ihre Kraft in die Geländeerkundung zu stecken statt in den Ausbau des Verteidigungsrings.

2. Empfindlichkeit

Wer sehr darum besorgt ist, sein Image zu polieren und am Fremdbild zu arbeiten, der reagiert sensibel auf kleinste Unpässlichkeiten. Jede Äußerung hat das Potenzial, eine narzisstische Kränkungsreaktion auszulösen. In gewisser Weise sind narzisstisch strukturierte Menschen immer auch hypersensible Menschen: Am Bild der Mimose, die sich bei der kleinsten Berührung sofort schließt, wird dies besonders deutlich. Die Empfindlichkeit ist es aber auch, die dem „Gekränkten“ den Weg aus seiner Festung bahnt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Sensibilität bisher in der Verbannung lebte. Um sie wieder zurück in die Erfahrungswelt zu bringen, brauchen narzisstisch strukturierte Menschen sehr viel Sicherheit und Vertrauen. In der professionellen Begleitung werden sie daher immer wieder testen, wie verlässlich die Zusammenarbeit ist. Bestärken Sie daher den „Gekränkten“ möglichst oft, wenn er auch nur kleinste Schwächen zeigt. Machen Sie deutlich, dass Schwächen überbetonte Stärken sind.

3. Entwertung

Wer stark empfindlich reagiert, versucht durch kompensatorische Maßnahmen schnell wieder Stabilität herzustellen. Narzisstisch gekränkte Menschen tendieren dazu, „weit über das Ziel hinauszuschießen“. Zu diesen überkompensatorischen Effekten gehört die Entwertung anderer Menschen. Beschimpfungen und Beleidigungen gehören ins Sprachrepertoire. Oft bedienen sie sich zynischer und sarkastischer Äußerungen. Die Entwertung anderer, die auch im Beziehungsabbruch bestehen kann, soll dazu beitragen, die eigene Überlegenheit umso deutlicher zu machen. Diffamierungen und Beleidigungen sind eine andere Art grenzwertiger Erfahrungen, die unbedingt angesprochen werden sollten. Wer narzisstisch gekränkt reagiert, merkt nicht, welche Grenzen er gerade überschreitet.

Da bedarf es eines Spiegels, der dem narzisstischen Anteil sowieso kein fremdes Utensil ist. Aber anstatt als Spiegelhalter für die Grandiositäten zu dienen, reflektieren wir dem „Gekränkten“ die Entwertungen. In Coaching und Beratung ist eine sich anschließende Werteklärung oft ein hilfreicher Weg.

4. Empathiemangel

Kränkungen versetzen Körper und Geist in eine Art Alarmbereitschaft. Das führt dazu, dass unsere Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt ist und sich ein Tunnelblick einstellt. Wie bei körperlichen Verletzungen nehmen wir den Schmerz zuerst gar nicht wahr. Narzisstisch Gekränkte fühlen auch die psychische Betroffenheit nicht und wirken daher oft „über den Dingen schwebend“ oder „abgehoben“. Sie haben weder Zugang zu ihren eigenen noch zu fremden Gefühlen und Bedürfnissen. Als wirksam haben sich Körpererfahrungsübungen herausgestellt. Sie unterstützen bei der Wiederentdeckung der Selbsterfahrung. Auch konkrete Beobachtungen wie die Änderung der Physiognomie, flacher Atem und auch Hautrötungen können angesprochen und nutzbar gemacht werden.

Ganz nach Christian Morgenstern:

Der Körper
ist der
Übersetzer
der Seele
ins Sichtbare.

Horst LempartHorst Lempart
Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychologischer Berater, Systemischer Coach

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