Akupunktur bei traumatischen Erfahrungen. Interview mit Dr. Richard Musil
Herr Dr. Musil, Sie setzen in der Praxis bei Patienten mit traumatischen Erfahrungen unter anderem die Ohrakupunktur nach dem NADA-Protokoll ein. Was genau heißt das?
Die National Acupuncture Detoxifi cation Association (NADA) wurde 1985 als gemeinnützige Organisation in New York von dem US-Arzt Michael Smith gegründet. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Suchterkrankte dadurch besser mit ihren seelischen und körperlichen Entzugsschmerzen klarkamen und ihr Suchtverlangen gemindert wurde. In Deutschland wurde die NADA-Akupunktur erstmals 1991 ebenfalls im suchttherapeutischen Kontext eingesetzt. Inzwischen hat sich das Anwendungsgebiet erweitert. Auch bei akuten Belastungsreaktionen oder der posttraumatischen Belastungsstörung wird diese Form der Akupunktur mittlerweile sehr häufig in die Behandlung integriert. Dafür werden Nadeln an drei bis fünf bestimmten Punkten an beiden Ohren gesetzt.
Traumatische Erfahrungen können vieles umfassen. Können Sie konkrete Beispiele nennen, bei denen die Ohrakupunktur eingesetzt wird?
Das Miterleben von Naturkatastrophen, Terroranschlägen oder Krieg ist belastend für die menschliche Seele. Der Körper reagiert darauf mit akuten Belastungsreaktionen, die unbehandelt in einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) münden können. Aber auch eine schwere Geburt, die Erfahrung von körperlicher oder seelischer Gewalt können Menschen traumatisieren. Infolge des seelischen Traumas leiden die Patienten unter Angstzuständen und haben Schlafstörungen. Viele sind antriebslos und ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück.
Muss die Behandlung wiederholt erfolgen? Ist die Akupunktur immer „nur“ eine Ergänzung?
In den meisten Fällen ist die Akupunktur bei psychischen Störungsbildern Teil eines multimodalen Behandlungskonzepts. Die Häufigkeit der Behandlung richtet sich nach dem Behandlungsziel und den Möglichkeiten des Patienten.
Es gibt aber auch Beispiele, in denen die Akupunktur sozusagen „isoliert“ eingesetzt wird. So haben NADA-Teams nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 Einsatzkräfte behandelt. Sie bekamen die Nadeln gesetzt, ohne dass sie das Erlebte in Worte fassen mussten, und erlebten die Behandlung dennoch positiv. Sie fühlten sich nach eigener Aussage danach entspannt und wach.
Auch in Gegenden, in denen es häufiger zu Naturkatastrophen kommt, wie auf den Philippinen, schildern Helfer, dass die Akupunktur den Menschen vor Ort hilft, Trauer und Schmerz besser zu bewältigen. Ebenso berichten Therapeuten in der Flüchtlingshilfe von positiven Erfahrungen. Aufgrund sprachlicher Barrieren findet die Behandlung auch hier ohne Gespräch statt.
Warum das Ohr? Es gäbe doch auch andere Akupunkturpunkte am Körper?
Das hat ganz praktische Gründe. Die Ohrakupunktur ist für die Behandler einfach und sicher anzuwenden, wird von den Patienten gut akzeptiert und ist nebenwirkungsarm. In unserer Arbeitsgruppe erforschen wir aber nicht nur die Möglichkeiten der Implementierung und der Effektivität der Ohrakupunktur nach dem NADA-Protokoll. Wir entwickeln auch neue Therapieansätze mittels palpationsbasierter Körperakupunktur bei verschiedenen Störungsbildern. In diesen Fällen werden die Akupunkturpunkte an unterschiedlichen Körperarealen, wie z. B. dem Bauch, ertastet. Druckempfindliche und damit „pathologisch“ veränderte Stellen geben dem Akupunkteur vor, wo er die Nadel setzen muss.
Was genau bewirkt die Akupunktur im Körper der Patienten?
Der stimulierende Reiz der Nadeln löst im Gehirn eine vermehrte Ausschüttung schmerzlindernder und stimmungsaufhellender Substanzen aus, die oft auch als „Glückshormone“ bezeichnet werden. Dazu gehören das Serotonin und körpereigene Morphine wie das Endorphin. Allgemeiner gesprochen wirkt Akupunktur auf Regionen im Gehirn, die für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig sind (limbisches System). Beschwerden wie innere Unruhe, Ein- und Durchschlafschwierigkeiten nehmen ab. Die Patienten fühlen sich entspannt und ausgeruht; sie fühlen sich den Anforderungen des Lebens wieder besser gewachsen. Ein Teil der Betroffenen entwickelt infolge der traumatischen Erfahrungen auch chronische Schmerzen. Auch diese nehmen ab oder verschwinden ganz.
Gibt es Studien, die den positiven Effekt der Akupunktur im Rahmen der Psychotherapie belegen?
Es gibt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Studien. Leider sind viele davon unkontrolliert durchgeführt worden, sodass es schwer ist, bessere Behandlungsergebnisse allein auf den Einsatz der Akupunktur zurückzuführen. Zudem ist es schwierig, eine Placebo-Bedingung für eine Kontrollgruppe herzustellen, denn auch eine oberflächliche Akupunktur bewirkt einen neurophysiologischen Reiz und kann Auswirkungen auf das Patientenempfinden haben. Derzeit gibt es aber Wissenschaftler, die die Akupunkturbehandlung zusätzlich zur Standard-Pharmakotherapie oder bei therapieresistenten Patienten untersuchen. Insbesondere als Ergänzung zur medikamentösen Behandlung konnten positive Wirkeffekte der Akupunktur gezeigt werden.
Die Akupunktur kann nach dem aktuellen Kenntnisstand als gutes ergänzendes Verfahren zur Psychotherapie und Psychopharmakotherapie gesehen werden.
Dr. med. Richard Musil
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Der Oberarzt leitet die Schwerpunktstation für Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Bipolare Erkrankungen sowie die Tourette-Ambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum München (LMU). Ein Forschungsschwerpunkt ist die Anwendung der Akupunktur in der Psychiatrie. An der LMU leitet er eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Einsatz, den Chancen und Grenzen der Akupunktur an deutschen psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken beschäftigt.
Das Interview führte Catrin Höbling