Der innere Kritiker: Was tun, wenn er zu stark wird
Es ist schon erstaunlich, wie stark der innere Kritiker uns beeinflusst. Immer wieder in Einzelgesprächen, aber auch in Workshops zeigt sich, dass er oft übermächtig ist. Er hemmt, lässt zaudern, bewirkt, dass sich Menschen infrage stellen.
„Hast du genug getan?“
„Bist du überhaupt kompetent genug?“
„Du bist schuld daran, wenn dein Klient unzufrieden ist!“
„Du bist schuld, dass deine Beziehung gescheitert ist!“
„Du musst, du sollst, du bist verpflichtet …!“
„Als gute Mutter/Tochter/Ehefrau/ Fachkraft ... ist es deine Aufgabe, für andere zu sorgen!“
Diese und andere Introjekte (im Laufe des Lebens von außen eingegebene und verinnerlichte Überzeugungen, die nicht dem eigenen Ich-Verständnis entsprechen müssen) benutzt der innere Kritiker für sich und macht uns klein. Folge ist oft ein innerer Kampf.
Introjekt vs. eigenes Ich-Verständnis
Je nachhaltiger diese Überzeugungen in uns verankert sind, desto schwerer ist es, sie abzuwehren.
Beispiel 1
Eine Krankenschwester arbeitet im Schichtdienst unter Druck und hoher Belastung. Die Personaldecke ist dünn, krankheitsbedingte Doppelschichten fordern sie zusätzlich, chronische Überbelegung auf der Station führt zu überdurchschnittlichem Arbeitsaufwand. Sie kann in dieser Situation nicht jeder Aufgabe in der Form gerecht werden, wie sie es gerne wollte. Sie hadert mit sich und ihren Fähigkeiten!
„Du hast dich zu wenig um die einzelnen Patienten gekümmert!“
„Du bist unkollegial, weil du so viel Arbeit liegen gelassen hast!“
„Du bist eine schlechte Mutter und Ehefrau, wenn du schon wieder die Wochenendschicht übernimmst!“
Beispiel 2
Ein Reiseveranstalter plant eine zehntägige Fotosafari auf Farmen in Südafrika. Sowohl die Route als auch die Unterkünfte haben sich bereits bei früheren Aufenthalten bewährt. Am Tag der Anreise kommt es zu Verspätungen seitens der Fluglinie, auf der ersten Farm kam es durch ein Unwetter zu Überschwemmungen, sodass kurzfristig umgebucht werden muss – schwierig, da die meisten Unterkünfte belegt sind und die Gruppe getrennt wird. Geplant sind Ausfl üge in die Wildnis und der Versuch, alle „Big Five“ zu sehen. Bei der Nachtsafari ist es bewölkt und diesig – ungünstig für Fotoaufnahmen. Am Ende der Reise hat ein Teil der Teilnehmer nur drei der „Big Five“ gesehen. Die Bewertungen fallen dementsprechend negativ aus, der Veranstalter wird mit Vorwürfen konfrontiert und macht sich selbst verantwortlich für den Unmut der Gäste.
„Du hättest dich mehr bemühen sollen!“
„Bist du den Anforderungen überhaupt gewachsen?“
Beispiel 3
Eine Frau wurde als Kind sexuell missbraucht. In der Therapie gibt sie sich selbst die Schuld am Geschehen.
„Du bist selbst schuld! Hättest du auf deine Eltern gehört und wärst nicht alleine mit dem Nachbarn in dessen Wohnung gegangen.“
So unterschiedlich die Beispiele auch sind, so ist doch eines immer wieder erkennbar; unreflektiert meldet sich der innere Kritiker zu Wort, verweist auf Schuld und klagt an.
Oder wie es ein Seminarteilnehmer so treffend formuliert hat:
„Das ist doch genau das, was wir von klein auf eingetrichtert bekommen haben! Wenn wir eine schlechte Note geschrieben haben, hieß es, du musst dich eben mehr anstrengen! Wenn wir Widerworte gegeben haben, hieß es, du bist ein böser Junge, und wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund gestellt haben, waren wir egoistisch!“
Wenn uns der innere Kritiker zu sehr in unserem Befinden beeinträchtigt, ist es höchste Zeit, ihm die Stirn zu bieten. Damit ist nicht gemeint, dass wir ihm den Kampf ansagen, das würde unnötig Energie kosten, sondern, dass wir unsere Selbststeuerung aktivieren.
Danke innerer Kritiker, dass du mich aufmerksam machst!
Innere Konflikte bieten uns die Möglichkeit zur Reflexion.
„Danke für deinen Hinweis! Mir ist wichtig, auch meine Sicht zu äußern! Ich habe mich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, habe mich verausgabt – mehr war leider nicht möglich!“
Zahlen, Daten, Fakten
Bekräftigen Sie diese durch Beispiele! Im Fall des Reiseveranstalters:
„Fakt ist, dass ich keinen Einfluss auf das Wetter habe!“
„Die Big Five zu sehen ist ein Optimum und nicht von vornherein versprochen!“
„Leider gibt es in dieser Region nur wenig alternative Übernachtungsmöglichkeiten und die meisten waren ausgebucht!“
Programm umschalten!
Verlassen Sie die Gefühlsebene und betrachten Sie das Geschehen auf der Vernunftebene!
„Klar bin ich unzufrieden mit dem Ergebnis! Allerdings waren bestimmte Umstände außerhalb meines Handlungsbereichs!“
Im Fall der Krankenschwester:
„Ich bin nicht verantwortlich für den Personalmangel. Im Rahmen meiner Möglichkeiten habe ich das Beste getan!“
Hilfreich dabei ist eine Unterbrechung des Gedankenkreislaufs durch ein aktives
„Stopp!“
Bremsen Sie den inneren Kritiker mit einem aktiven „Stopp!“
„Stopp! Bevor du mir weiter aufzeigst, was nicht funktioniert hat, muss ich dir sagen, dass ...“
Dem Versagensgefühl Positives entgegensetzen!
Klar, die Sache lief nicht optimal. Allerdings ist vieles auch gelungen! Im Fall der Krankenschwester hat jeder Patient seine Medikamente bekommen, wurde grundversorgt, die Verbände wurden gewechselt ...! Die Konzentration auf das Positive schwächt die Selbstvorwürfe!
Perspektivwechsel
Auch eine Methode, die uns hilft, den inneren Kritiker auszublenden. Stellen Sie sich die entsprechende Szene auf einer Theaterbühne vor. Sie sind nicht mehr aktiv am Geschehen beteiligt, sondern Zuschauer. Wie würden Sie als Außenstehende/-r die Situation beurteilen, wenn diese anderen widerfahren wäre. In der Praxis zeigt sich, dass die Bewertung aus der Distanz viel objektiver ausfällt.
Am Beispiel 3 lässt sich dies ganz deutlich zeigen. Als Betrachterin der Szene hat die betroffene Frau dem achtjährigen Mädchen (aus der Distanz auf der Bühne) keine Schuld zugewiesen, sondern im Gegenteil, ausschließlich das Verhalten des Nachbarn verurteilt:
„Ein so kleines Kind ist noch gutgläubig und ihm fehlt die nötige Reife, um die Konsequenzen/die Gefahr einzuschätzen!“
Heute vs. früher - Selbstreflexion
Betrachten wir noch einmal die Bemerkungen des Seminarteilnehmers:
„Wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund gestellt haben, hieß es, wir sind egoistisch!“
Und jetzt beziehen wir dies auf das Beispiel der Krankenschwester.
Rational gesehen arbeitet sie am Rande ihrer Kräfte: überdurchschnittlicher Einsatz, ausgesprochenes Verantwortungsgefühl, extremer Arbeitsaufwand. Folgt sie dabei dem inneren Kritiker, die Bedürfnisse der Patienten in den Vordergrund zu stellen, schadet sie ihrer Gesundheit. Sie braucht Pausen und Ausgleich, um den Anforderungen gerecht zu werden. Für ihr eigenes Wohlbefinden ist es unerlässlich, sich die Möglichkeit zu gewähren, ihre Kraftreservoirs wieder aufzutanken.
Mag sein, dass sie als Jugendliche vermehrt auf die eigene Bedürfnisbefriedigung konzentriert war. Mag sein, dass dies in ihrem Umfeld als egoistisch bewertet wurde. Das war früher. Heute hat sie sich weiterentwickelt, ist reifer und hat einen harten und kräftezehrenden Job. Diesen Unterschied gilt es zu begreifen:
„Ich bin nicht mehr die scheinbar egoistische Jugendliche von damals. Heute arbeite ich mit einem überdurchschnittlichen Leistungsanspruch, sodass ich gut daran tue, auf meine eigenen Bedürfnisse zu hören, damit ich meinen Beruf noch lange ausüben kann!“
Stärken den Schwächen entgegensetzen
Schreiben Sie sich den Vorwurf des inneren Kritikers in die Mitte eines Papierbogens. Am besten mit einem schwarzen Stift. Zeichnen Sie nun sternförmig Strahlen oder Pfeile in einer fröhlichen Farbe, z. B. grün rings um den Kritikpunkt (je mehr desto effektiver), sodass die Zeichnung an eine Blume erinnert. Schreiben Sie auf jeden Strahl/Pfeil eine Ihrer Stärken.
Betrachten Sie das Bild in aller Ruhe. Es zeigt sich, dass Ihre Stärken gegenüber dem Vorwurf deutlich überwiegen. Die Visualisierung des Ganzen verstärkt den Effekt.
Konsequenzen ziehen!
Es ist entscheidend, wie wir selbst eine Begebenheit bewerten. Lassen wir zu, dass sie (und der innere Kritiker) unser Selbstwertgefühl schwächt oder übernehmen wir die Verantwortung und gehen in die Selbststeuerung. Fehler passieren, Aktionen laufen nicht immer optimal. Wir entscheiden selbst, welche Konsequenzen wir daraus ziehen.
Im Fall der Krankenschwester könnte diese für sich entscheiden, dass sie sich Hilfe sucht. Die Missstände beim Betriebsrat meldet, die Leitung darauf aufmerksam macht, im Kollegium klar definiert, dass sie auf Dauer nicht mehr so weiterarbeiten kann, weil sie sonst die eigene Gesundheit gefährdet/ihre Familie vernachlässigt. In erster Linie geht es nicht darum, sofort eine Lösung zu finden, sondern aktiv an einer Lösung zu arbeiten.
Auch der Reiseleiter kann Konsequenzen aus dem Geschehen ziehen. Er könnte die Kunden in Zukunft darüber informieren, dass es im Winter in diesem Gebiet mehrfach zu Überschwemmungen kommen kann und deshalb eine andere Unterkunft als Alternative gewählt werden muss. Oder, dass aufgrund der klimatischen Verhältnisse nicht immer gewährleistet ist, alle „Big Five“ zu sehen, da die Tiere je nach Jahreszeit den Ort wechseln. Somit wären die Kunden vorbereitet und würden weniger dazu neigen, den Veranstalter für Enttäuschungen verantwortlich zu machen.
Frage nach dem Einflussbereich
Liegen bestimmte Faktoren, die das Geschehen beeinflussen, in unserem Einflussbereich?
Wir haben kaum Einfluss auf den Personalschlüssel, dies entscheidet die Geschäftsleitung.
Wir haben keinen Einfluss auf äußere Umstände, wie das Wetter, können uns lediglich im Vorfeld einen Plan B überlegen.
Auch dies ist gegenüber dem inneren Kritiker ein Argument:
„Bestimmte Umstände lagen außerhalb meines Handlungsspielraums bzw. Einflussbereichs!“
Im Sinne der Selbststeuerung ist es hilfreich, den inneren Kritiker in seine Schranken zu weisen.
Wir sind nicht mehr das kleine Kind, der/ die Jugendliche von früher. Heute haben wir Verantwortung, haben uns weiterentwickelt, haben zusätzliche Kompetenzen erworben und ja, wir dürfen konstruktive Kritik äußern. Auch und gerade, wenn es ihm nicht passt!
Gabriele Kemmer
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Psychologische und Systemische Beraterin, Praxis in Tauberbischofsheim
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