Ganz (wunder)schön verrückt
Wie der Fotokünstler Patrick Kaut das Wesen der Borderline-Persönlichkeitsstörung einfängt
Patrick Kaut ist 1975 in der Ruhrmetropole Essen geboren. Hier arbeitet er freiberuflich als Fotograf und Grafikdesigner. Spezialisiert hat er sich auf die Peoplefotografie, Businessfotografie und Werbefotografie. Seine Stärke ist die Komposition von inszenierten Arrangements und der Blick für Details mit Reduktion auf das Wesentliche, die Kernaussage.
Seine freien künstlerischen Arbeiten beschreibt er wie folgt: „Meine fotografischen Welten wirken manchmal artifiziell und drapiert, sind oft bewusst inszeniert und weisen einen grafischen Duktus auf. Meist existiert eine diagonale Linienführung, die Dynamik und Tiefe erzeugt und den Betrachter förmlich in das Geschehen transportiert. Das Objektiv wird zu meinem Skalpell, mit dem ich die Persönlichkeit meiner Modelle würdevoll seziere.“
Durch den Kontakt zur Heilpraktikerin für Psychotherapie, Sabine Thiel, wurde der Versuch unternommen, Menschen mit psychischen Erkrankungen gemäß ihrem individuellen Erleben mit der jeweiligen Störung so abzulichten, dass sich die Essenz ihrer Zwänge, Nöte und Empfindungen dem Betrachter der Bilder vermittelt. Entstanden sind mehrere Serien mit eindrucksvollen Fotos als ausdrucksstarkes Zeugnis von Menschen, die anders denken, fühlen, handeln als der Durchschnitt. Die Bilder bestechen durch ihre ergreifende Aussage, eine immer würdevolle Distanz fernab von Voyeurismus und verleihen auf diese Weise einer selbst schwerwiegenden psychischen Störung eine eigene unerwartete Ästhetik.
Herr Kaut im Interview mit Psychologiestudent Moritz Rohde und Heidi Kolboske, Heilpraktikerin für Psychotherapie.
Herr Kaut, wie sind Sie zur Fotografie gekommen?
Zur Fotografie bin ich während meines Fachabiturs und meiner Ausbildung zum Gestaltungstechnischen Assistenten, Schwerpunkt Grafik und Design, vor 25 Jahren gekommen. In dem Fach gestaltungstechnologische Übungen haben wir in der Mittelstufe das Thema Fotografie experimentell erarbeitet. Zu dieser Zeit waren die Entwicklung und der Aufnahmeprozess der Fotografie noch analog besetzt. Der Prozess der Entwicklung in der Dunkelkammer, das Handwerk der Entstehung eines Bilds, von einem weißen Blatt Fotopapier bis hin zu dem langsam sich aufbauenden finalen Fotomotiv, waren geprägt von Spannung und Aufregung und wurden belohnt mit einem haptischen, anfassbaren Abzug meines Motivs. Nach den ersten Entwicklungen hat mich das Fotovirus gepackt.
Die Fotografie habe ich autodidaktisch erlernt, viel experimentiert, gelesen und mich schon früh mit der Bildbearbeitung befasst.
Das klingt nach Passion und Berufung. Was macht Ihnen an der Fotografie denn am meisten Spaß?
Am meisten treibt mich die Herausforderung an, die jedes Motiv und jedes Thema mit sich bringen. Zum einen gibt es hier die technischen Herausforderungen wie Licht, Objektivauswahl, Arbeitsblende, dann die kompositorischen Entscheidungen wie Bildelemente, Perspektive und Beschnitt bis hin zu den expressiven Stilelementen wie Ausdruck, Bildaussage oder Körperhaltung.
All diese Elemente werden aus mehreren Tausend Möglichkeiten bewusst entschieden und suggestiv abgestimmt. Ich mag die Abwechslung in den Motiven, aber auch die Begegnungen mit Menschen und die wechselnden Themenbereiche und Produkte stellen mich immer wieder vor neue Herausforderungen und Erfahrungen, an denen ich ständig wachsen kann.
Was inspirierte Sie dazu, Menschen mit psychischen Besonderheiten abzulichten? Was ist hierbei die besondere Herausforderung?
Ursprünglich war meine Fotografie künstlerisch geprägt, inszeniert, experimentell und in den meisten Arbeiten mit einer Aussage versehen. Private Umstände und Erfahrungen mit diesem Thema haben mich dazu veranlasst, die Besonderheiten fotografisch zu behandeln.
Vor nicht allzu langer Zeit war ich in einer Beziehung mit einer Betroffenen. Ich wusste, dass die emotionalen Achterbahnfahrten und die Ups and Downs nicht normal für eine gesunde Beziehung sein konnten. Nachdem ich ein massives Konstrukt aus Illusionen und Lügen aufgedeckt und die Person damit konfrontiert hatte, musste ich mich intensiv mit dem Thema befassen und belesen. Ich wollte begreifen, was in jenen Menschen vorgeht, denn rational konnte ich mir diese widersprüchlichen Reaktionen und Handlungen nicht erklären. Den Kontakt habe ich eingestellt. Intensiv belesen mit der komplexen Diagnose Borderline stieß ich bei einem Projektportal auf eine Jobausschreibung zu diesem Thema.
Sabine Thiel suchte einen Fotografen, um das Thema Borderline und seine Facetten für eine Ausstellung sichtbar zu machen. Die Gesundheitskasse NOVITAS BKK hat dieses und weitere Projekte dazu finanziell unterstützt.
Sind die Fotos mit der Darstellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung auf jedes Modell individuell zugeschnitten?
Die meisten Bildmotive sind persönlich auf die Teilnehmer zugeschnitten, ja. Es gab aber auch spontane Impulse von mir, die ich vor Ort mit dem Teilnehmer inszeniert habe. Vor Entstehung der Aufnahmen hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, ihre Gefühlswelt und innere Konflikte bzw. die Sichtweise auf sich selbst in einem persönlichen Gespräch mit mir zu vermitteln. Aus diesen intimen Einblicken habe ich mit mir gegebenen Mitteln, wie verschiedenen Räumen, Orten, aktiver Lichtgestaltung und unter Zuhilfenahme von Requisiten und Bildbearbeitung diese Ergebnisse schaffen können. Ohne das Vertrauen und den Mut der Teilnehmer mir gegenüber wären diese sehr intimen Einblicke und Aufnahmen nicht möglich gewesen.
Welche besondere Rolle spielen hierbei die Farben in der Fotografie?
Farbe kann lenken, leiten, schreien oder schweigen. Nach der Farbpsychologie verbindet der Mensch unterbewusst mit Farben Emotionen, Eigenschaften und Symboliken. Farbe ist ein sehr hilfreiches Instrument, das nicht nur in der Werbefotografie manipulativ und suggestiv eingesetzt wird.
Manchmal kann Farbe mit ihrer Symbolik jedoch auch ein sehr intensives und emotional geladenes Bild stören oder sogar stürzen. Die Schwarz-Weiß-Fotografie hat grade bei Porträts ihre unumstößliche Berechtigung. Formen, Ausdruck und Komposition werden hier bewusster ohne Farbe wahrgenommen.
Und welche Bedeutung hatten die Tiere für Ihre Modelle?
Der Hund auf dem Bild mit der trauernden Angehörigen, der Mutter einer suizidierten Boderline-Betroffenen wurde zu therapeutischen Zwecken für die Tochter eingesetzt. Bei dieser Aufnahme sitzt die Mutter trauernd auf zwei Stühlen, der eine ist weiß, der andere Stuhl schwarz. Der Hund hat kurz vor dem Moment der Aufnahme fragend und mitfühlend zur Mutter geschaut, als wollte er eine Antwort auf die Frage, warum sein Frauchen nicht mehr kommt. In diesem Moment habe ich den Auslöser gedrückt. Tiere sind treue Begleiter des Menschen, sie bewerten den Menschen nicht und lieben bedingungslos.
Die Zusammenarbeit mit Sabine Thiel bildet ja nur einen Teilbereich Ihres künstlerisch- beruflichen Schaffens. Was sind die größten Unternehmen, für die Sie bereits gearbeitet haben?
Die meisten Kunden sind aus dem Bereich B2C oder B2B (Business to Consumer/ Client/Business to Business). Das größte Unternehmen war sicher Coca-Cola, aber auch B|Braun ist ein weltweites Unternehmen, mit dem ich seit Jahren eng zusammenarbeite. Meine Kunden kommen aus den unterschiedlichsten Branchen: Banken, Telekommunikation, Fitness, Software, Fashion and Food …
Sie arbeiten ja schon seit über 20 Jahren als Fotograf, was war das spannendste Shooting, das Sie je durchgeführt haben?
Das spannendste Shooting war sicher eines vor vielen Jahren in Hamburg. Hier kam spontan die gesamte Band Tokio Hotel dazu, um dem Star, den ich fotografiert habe, bei der Produktion zuschauen zu können.
Mein Modell war selbst Fan von Tokio Hotel und dementsprechend sehr aufgeregt. Als Profi darf ich an dieser Stelle aber keinen Namen oder weitere Details nennen.
Nun ja, ein bisschen exzentrisch ist Tokio Hotel schließlich auch …
Lieber Herr Kaut, wir bedanken uns für das Gespräch.