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Warum tut Singen der Seele gut?

2015 04 Singen1

Über die soziale Bedeutung des Singens und die heilende Wirkung der Akustik auf das vegetative Nervensystem und unser Gehirn – der Musiktherapeut und Gesangsforscher Wolfgang Bossinger im Interview mit Birgit Weidt.

fotolia©kebayHerr Bossinger, Sie sind Begründer der Initiative „Singende Krankenhäuser“, einem internationalen Netzwerk zur Förderung des Singens in Gesundheitseinrichtungen – was genau ist das?

Die Initiative „Singende Krankenhäuser“ ist eine gemeinnützige Organisation, die sich seit Anfang 2009 für die Verbreitung heilsamer und gesundheitsfördernder Singangebote in medizinischen Einrichtungen einsetzt. Geplant ist der schrittweise Aufbau eines weltweiten Netzwerks von Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen, das sich für ein gemeinsames Singen von Medizinern, Therapeuten, Patienten, Mitarbeitern und Besuchern stark macht. Neben den heilsamen und präventiven Wirkungen durch das gemeinsame Singen versteht sich unser Projekt auch als kulturelle und soziale Begegnungsgruppe im Krankenhaus. Vorausgegangen waren positive Erfahrungen mit einem gemeinsamen Singen an der psychiatrischen Klinik Christophsbad Göppingen. Dort begannen meine musiktherapeutischen Kolleginnen und ich vor vier Jahren mit einem Singprojekt: Anfangs kamen sechs Patienten – heute sind es 70 bis 100 Teilnehmer pro Woche. Das spornte uns an, wir gründeten ebenso erfolgreich auch in anderen Krankenhäusern der Region Patientenchöre.

Wer kommt zu Ihnen, wen behandeln Sie?

Wir bieten unterschiedliche Formen des psychotherapeutischen Singens an, z. B. für Krebspatienten oder Mütter frühgeborener Babys. Es kommen aber nicht nur Patienten, sondern auch Besucher, Mitarbeiter von verschiedenen psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken und ehemalige Patienten. An der Klinik Christophsbad Göppingen sind übrigens viele ehemalige Patienten in der Singgruppe, denn sie gibt ihnen Halt, hilft Einsamkeit zu überwinden und Kontakte zu knüpfen. Darüber hinaus gesellen sich gesundheitsinteressierte Menschen aus den umliegenden Städten und Dörfern sowie engagierte Krankenhausmitarbeiter zu uns, jene, die ein soziales Miteinander und Aufgehobensein suchen. In der Fachsprache nennt man das: communityoriented musictherapie – wir arbeiten also für die Gemeinde, für die Region.

Was ist Ihnen so wichtig an der Initiative?

Mich begeistert die Freude und Verbundenheit, die beim gemeinsamen Singen entsteht. Mir geht es nicht darum, mit unserem Projekt in Konkurrenz zur Schulmedizin zu treten, sondern ich will die medizinische Behandlung ergänzen – denn über das Singen erfahren die Menschen ganz unmittelbar ihre Selbstwirksamkeit, dass sie eben etwas für sich tun können, um ihre Stimmung zu heben und die psychische Verfassung zu verbessern. Ich konnte beobachten, dass singende Patienten sich aktiver für ihren Heilungsprozess engagieren und in den jeweiligen Therapien stärker mitarbeiten. Angst oder auch das Gefühl von Ohnmacht, das aufgrund der Konfrontation mit Krankheiten und Schmerz entsteht, kann gemildert und abgebaut werden. Die Patienten erleben sich neu in ihrer Fähigkeit, etwas zu bewirken, und spüren, dass sie in einem gewissen Sinne Einfluss auf die eigene Befindlichkeit haben, was sich wiederum positiv auf den Heilungsprozess auswirkt.

Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre heilenden Lieder aus?

Musiktherapeutisch gesehen empfiehlt es sich, vertraute Lieder zu singen, solche, die einem Freude bereiten, um somit positive Erinnerungen zu wecken und den Zugang zu den Selbstheilungskräften zu aktivieren. Ein solcher Ansatz kommt z. B. auch bei alten Menschen, aber auch bei Demenzerkrankten und depressiven Patienten zum Tragen.

In unserer Singgruppe sind sowohl 20- als auch 80-jährige vereint – und manche Mütter bringen sogar ihre Kinder mit. In solch gemischten Gruppen setzen wir besonders wirksame Singformen ein, man könnte sie als „Chanten“ bezeichnen. Das sind Lieder mit einfachen Melodien und Texten, auch aus fremden Kulturen, die schnell auswendig gelernt und gesungen werden können. Diese verbinden wir mit Bewegung und Tanz. Dabei kann man recht gut abschalten und begibt sich in eine Flow-Erfahrung, ist ganz versunken für den Moment. Besonders wirksam sind auch mantraähnliche Lieder mit einfachen, heilsamen Texten wie: „Ich geh meinen Weg“ oder „Fest verwurzelt in der Erde“. Zusammen mit der Singpädagogin Katharina Neubronner habe ich ein eigenes Liederbuch „Das Buch der heilsamen Lieder“ herausgegeben, das eine Fülle bewährter Songs enthält. In unseren Umfragen berichten viele Patienten, dass sie solche Lieder auch in schwierigen Alltagssituationen einsetzen, um das seelische Gleichgewicht zu stabilisieren.

Welche Auswirkungen hat das Singen auf den Organismus?

Singen ist ein Antidepressivum. Es kommt im Gehirn beim Singen – vorausgesetzt man singt mit Freude – zur Ausschüttung antriebssteigernder und stimmungsaufhellender Botenstoffe wie Serotonin, Oxytocin und Beta-Endorphin. Gleichzeitig werden Stresshormone abgesenkt, das Immunsystem gestärkt, die Atmung vertieft und das Herz-Kreislauf-System aktiviert.

Was tun, wenn man von sich behauptet, nicht singen zu können?

Es gibt beim Singen keine Fehler, sondern nur Variationen – jeder kann hier singen, so wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Singen ist eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit gegen Angst und Verzweiflung, es beruhigt und hat eine befreiende Wirkung. In allen Weltkulturen war Singen ein gemeinschaftliches Erlebnis, an dem alle beteiligt waren, so wie beim gemeinsamen Essen.

In unserer perfektionistischen und leistungsorientierten Gesellschaft ist es zu einer bedauerlichen Hemmung gekommen – viele trauen sich einfach nicht mehr zu singen, weil sie glauben, ihre Stimme ist nicht schön genug oder sie können die Töne nicht halten. Ich beobachte aber, dass fast jeder, der sich schließlich doch traut und seine Scheu überwindet, schnell merkt, wie gut ihm das tut und wie intensiv die dabei entstehenden positiven Gefühle sind. Das ist für manch einen wirklich überwältigend, denn viele unserer Patienten haben jahrzehntelang nicht mehr gesungen. Und sie erleben, wie wohltuend das Miteinander in der Gruppe sein kann.

Ist allein singen eigentlich auch hilfreich?

Selbstverständlich – dadurch kann es auch gelingen, Stress abzubauen und bei negativer Gefühlslage wieder ins seelische Gleichgewicht zu kommen. Doch fällt hierbei die soziale Erfahrung weg, samt sozialer Resonanz und Wertschätzung. Ich möchte diejenigen, die eigentlich gern singen, dazu ermutigen, den Schritt in eine Gruppe zu wagen. Das muss kein Chor sein, es reicht, wenn sich einige Interessierte zum Chanting zusammenfi nden. Passende Gruppen in der Nähe findet man im Internet oder auch auf meiner Website.

Wie das Wortspiel „stimmig sein“ andeutet, hat Ihre Methode auch einen psychischen Aspekt. Was hat die Stimme mit der Seele zu tun?

Die Stimme ist unsere psycho-emotionale Visitenkarte, wenn wir reden, klingt immer auch durch, wie es uns geht. Unser Gehirn ist schon aus evolutionsbiologischer Sicht darauf programmiert, im Klang der Stimme unseres Gegenübers unstimmige Botschaften herauszufiltern, um Gefahren abzuwenden und zu überprüfen, ob der andere z. B. vertrauenswürdig ist. Die Stimme an sich hat viel mit der jeweiligen Stimmung zu tun – wir geben den Ton an oder geben klein bei – auch da drücken sich Zusammenhänge zum Selbstwertgefühl und zur sozialen Kompetenz aus. All diese Formulierungen zeigen, wie nah die Stimme der Seele ist. Die Befreiung der eigenen Stimme durch das Singen und kompetent angeleitete Übungen zur Stimmentfaltung gehen oft einher mit der Befreiung blockierter Seelenanteile – wir werden im wahrsten Sinne des Wortes schwingungsfähiger. Mit einer warmen, resonanzfähigen Stimme erreichen wir spielerisch viel mehr im Leben, werden als sympathischer, herzlicher und offener wahrgenommen. Und das vor allem deshalb, weil die Öffnung der Stimme auch Herzen öffnen kann.

Literatur

Bossinger, Wolfgang: Die heilende Kraft des Singens. Das Buch der heilsamen Lieder. Traumzeit-Verlag

Wolfgang Bossinger Wolfgang Bossinger
Diplom-Musiktherapeut, freiberuflicher Dozent, an Hochschulen etc., seit mehr als 20 Jahren erforscht er das heilende Potenzial von Musik und Gesang

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Birgit Weidt Birgit Weidt
Autorin, Journalistin

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