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Die Suche nach dem sicheren Hafen

Bindungsstörungen als Ansatzpunkt für die Entstehung und Therapie von Suchterkrankungen

Sucht- oder Abhängigkeitserkrankungen (die ICD-10 spricht von „Abhängigkeitssyndrom“) sind ein allgegenwärtiges Phänomen in unserer Gesellschaft, das schwerwiegende Auswirkungen auf Psyche und Körper der Betroffenen haben kann. Zunehmend sind bereits Kinder und Jugendliche von Süchten unterschiedlicher Art betroffen. Oft wird durch eine Suchterkrankung auch das familiäre und soziale Umfeld der Erkrankten in Mitleidenschaft gezogen.

Dieser Artikel will Heilpraktiker, Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychologische Berater (immer m/w/d) und generell Menschen in pädagogischen und Gesundheitsberufen für die Rolle von Bindungsstörungen bei der Entstehung von Suchterkrankungen sensibilisieren sowie Wege der Prävention und Therapie aufzeigen, die dem Bindungsbedürfnis des Menschen Rechnung tragen.

1. Suchterkrankungen

Suchterkrankungen sind komplexe Krankheitsbilder, die meist mit unterschiedlichen Co-Erkrankungen einhergehen. Zum Thema Sucht gibt es eine Fülle von Fachliteratur. Eine kleine Auswahl davon finden Sie im Literaturverzeichnis. Im Rahmen dieser Abhandlung gebe ich lediglich einen groben Überblick über die unterschiedlichen Arten von Suchterkrankungen und die allgemeinen Diagnosekriterien gemäß ICD-10.

Generell wird bei diesen Suchterkrankungen zwischen stoffgebundenen und stoffungebundenen Abhängigkeiten unterschieden. Die stoffgebundenen Suchterkrankungen sind in Kapitel F1 der ICD-10 unter dem Oberbegriff „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ beschrieben. In den einzelnen Unterkapiteln werden die psychischen und Verhaltensstörungen durch unterschiedliche psychotrope Substanzen wie Alkohol, Opioide, Cannabinoide usw. beschrieben.

Gemeinsame Diagnosekriterien für die in Kapitel F1 genannten Abhängigkeiten von psychotropen Substanzen sind:

  • ein starker Wunsch oder Zwang, die betreffende Substanz zu konsumieren
  • die verminderte Fähigkeit, Beginn und Ende des Konsums zu kontrollieren
  • körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduzierung des Konsums
  • Entwicklung einer Toleranz, d. h. es muss immer mehr von der Droge konsumiert werden, um eine bestimmte Wirkung (z. B. Entspannung) zu erreichen
  • die zunehmende Vernachlässigung von sozialen Beziehungen oder Interessen, weil immer mehr Zeit für Beschaffung und Konsum der Substanz und die anschließende Erholung davon aufgewandt werden muss
  • fortgesetzter Substanzgebrauch trotz bereits erkennbarer schädlicher Folgen

Die Diagnose „Abhängigkeit“ sollte laut ICD-10 nur gestellt werden, wenn zu irgendeinem Zeitpunkt während des letzten Jahres drei oder mehr der genannten Kriterien gleichzeitig gegeben waren.

Die stoffungebundenen Abhängigkeitserkrankungen werden in Kapitel F63 der ICD-10 unter der Überschrift „Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ erfasst. Hierzu gehören z. B. pathologisches Spielen (Spielsucht) oder pathologische Brandstiftung (Pyromanie). Die in den letzten Jahren zunehmend auftretenden Phänomene Internetsucht, Porno-/Sexsucht, Kaufsucht gehören zu den in F63 genannten Störungen. In der IDC-11 gibt es hierfür unter den Oberbegriffen „Störungen der Impulskontrolle“ und „Störungen durch Verhaltenssüchte“ eigene Diagnoseziffern.

Im Wesentlichen können die allgemeinen Diagnosekriterien aus Kapitel F1 der ICD-10 auch auf Verhaltenssüchte angewandt werden. Lediglich der körperliche Entzug entfällt hier bzw. zeigt sich in einer anderen Form wie etwa durch Frustration, Reizbarkeit, Ruhelosigkeit u. Ä.

An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass Menschen mit körperlichen Entzugserscheinungen, etwa bei bestehender Alkohol- oder Opiatabhängigkeit, zwingend zunächst eine stationäre Entzugsbehandlung in einer Fachklinik durchlaufen müssen, weil durch das Entzugssyndrom lebensbedrohliche Zustände auftreten können. Als Therapeuten können wir unsere Klienten hierzu im Vorfeld beraten und nach ihrem stationären Aufenthalt die Nachsorge begleiten. Diese ist in der Regel notwendig, da eine Rückfallgefahr besteht, wann immer die Betroffenen im Alltag in Situationen geraten, in denen sie früher zu „ihrem“ Suchtmittel gegriffen haben. Viele „trockene“ Patienten gehen nach einer Entzugsbehandlung in Selbsthilfegruppen (z. B. Anonyme Alkoholiker). Eine individuellere Nachsorge können wir mit unserem Fachwissen und unseren therapeutischen Kompetenzen bieten.

Wie bereits angedeutet treten Suchterkrankungen in der Regel nicht allein auf, sondern sind Ausdruck oder Begleiterkrankung einer tiefer liegenden Verletzung oder Störung. Im folgenden Abschnitt möchte ich die Aufmerksamkeit auf das Thema Bindung lenken und erläutern, inwieweit eine Bindungsstörung der Auslöser für eine Suchterkrankung sein kann. Generell sollten wir bei einem Patienten mit Suchtproblematik prüfen, welche andere Störung ggf. im Vordergrund steht und mit- oder zuerst behandelt werden sollte. Dabei sollten wir selbstverständlich immer auch unsere Grenzen im Blick haben.

2. Bindung

Bei meiner Tätigkeit als Heilpraktikerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie konnte ich immer wieder feststellen, wie viele Menschen unter Verwundungen aus ihrer Kindheit leiden und wie diese das seelische und teilweise auch das körperliche Wohlbefinden der Erwachsenen beeinträchtigen. Wo wir auf Wunden aus der Kindheit stoßen, haben wir es oft auch mit einer Bindungsstörung zu tun. Aber was bedeutet eigentlich „Bindung“?

Menschliche Bindung als Grundvoraussetzung für unser psychisches Gesundsein wurde ab den 1950er-Jahren von dem englischen Psychiater und Psychotherapeuten John Bowlby (1907–1990) und der amerikanischen Psychologin Mary Ainsworth (1913–1999) in den Blick genommen. Damit wurde die Betrachtung von den innerpsychischen Vorgängen etwa in der psychoanalytischen Psychologie Freuds auf den Aspekt des Zwischenmenschlichen verlagert.

Bowlby (1979) stellte dar, dass wir von Geburt an Bindungsstrukturen zu anderen Menschen, in erster Linie zu unserer Mutter, aufbauen und dass diese emotionale Bindung an die Mutter (oder eine andere stabile Bezugsperson) überlebensnotwendig ist (vgl. auch Ruppert, 2015: 31–64). Ohne liebevollen Kontakt zu einer Bezugsperson verkümmern Neugeborene oder sterben sogar, auch wenn sie ausreichend mit Nahrungsmitteln und Körperpflege versorgt werden (Spitz, Wolf, 1946). Bindung ist also im wahrsten Sinne des Wortes existenziell.

Der Psychologe und Psychotherapeut Franz Ruppert bezeichnet die Bindung an die Mutter als grundlegende Bindungsform des Menschen, die durch den Körperkontakt, den Geruch der Mutter, ihre Stimme, den Blickkontakt u. v. m. vermittelt wird. Beim Aufbau der Mutterbindung geht es laut Ruppert nicht darum, dass die Mutter da ist, sondern wie sie da ist, d. h. ob sie emotional beteiligt ist und dem Kind angemessene Rückmeldungen zu seinen Äußerungen gibt oder nicht (Ruppert 2015: 34).

Nach den Erkenntnissen Bowlbys (1979: 130) sind Menschen dann am glücklichsten und können ihre Talente und Fähigkeiten am besten entfalten, wenn sie die Gewissheit haben, dass eine oder mehrere Personen hinter ihnen stehen, denen sie vertrauen können und die ihnen bei Schwierigkeiten zu Hilfe kommen. Die Person, der man auf diese Weise vertraut, wird als Bindungsperson bezeichnet. Sie stellt quasi eine „sichere Basis“ dar, von der aus ein Kind und später ein Jugendlicher operieren, die Welt erkunden und schließlich neue, tragfähige Beziehungen eingehen kann. Menschen mit einer solchen Bindungserfahrung haben in der Regel auch Vertrauen zu sich selbst, zu anderen Menschen und zum Leben im Allgemeinen.

Kinder in den ersten prägenden Lebensjahren haben verständlicherweise ein besonders starkes Bindungsbedürfnis, weil sie existenziell auf eine umfassende und liebevolle Fürsorge angewiesen sind. Umso schmerzlicher und traumatischer ist es für sie, wenn dieses Bedürfnis aus welchen Gründen auch immer nicht erfüllt wird. Bowlby (ebd.: 89– 104) weist auf den statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen unterbrochener bzw. gestörter Bindung und psychischer Krankheit hin. Neben Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Suchterkrankungen wird hier auch eine erhöhte Anfälligkeit für Selbstmord genannt (ebd.: 94 f.).

Während bei Kindern das Bindungsbedürfnis besonders sichtbar ist, kann es bei Erwachsenen durch unterschiedliche Kompensationsmechanismen (wie z. B. Konsum von Substanzen, Flucht in Arbeit, Materielles usw.) unterdrückt und dadurch mehr oder weniger unsichtbar gemacht werden. Dennoch haben natürlich auch Erwachsene ein Bindungsbedürfnis. Dies sollten wir besonders bei der Begleitung von Menschen mit Abhängigkeitsproblematik im Blick haben.

Die Bindung an die erste Bindungsperson, bei der es sich meist um die Mutter handelt, wird häufig zum Muster für spätere Beziehungen, im guten wie im schlechten Sinne. Das bedeutet, dass sichere Bindungserfahrungen in der Herkunftsfamilie ein entsprechendes Bindungsmuster im Kind etablieren, das auch im späteren Leben gelingende Beziehungen ermöglicht, während eine unsichere Bindung an die Bezugsperson häufig zu einer Wiederholung des Bindungstraumas bei Beziehungen im Jugend- und Erwachsenenalter führt.

3. Bindungstrauma

Was genau ist ein Bindungstrauma? Dazu gehe ich zunächst kurz auf die Frage ein, was generell ein psychisches Trauma ist. Die ICD-10 beschreibt die nach einem solchen Trauma auftretende posttraumatische Belastungsstörung als eine „Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes […], die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.“ Hierzu gehören „eine durch Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophe, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall oder Zeuge des gewaltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen zu sein“. Ein psychisches Trauma wird demnach durch eine Bedrohung von Leben, Existenz oder zumindest körperlicher Unversehrtheit hervorgerufen.

Zu den Symptomen eines Psychotraumas können u. a. Flashbacks, ein Gefühl des Betäubtseins, Gleichgültigkeit und emotionale Stumpfheit gegenüber anderen Menschen, die vegetative Übererregtheit, Schlaflosigkeit, Angst und Depression gehören (vgl. ICD-10).

Franz Ruppert spricht im Zusammenhang mit dem Erleben von lebensbedrohlichen Situationen, denen wir als Menschen hilflos ausgesetzt sind, von einem Existenztrauma (Ruppert, 2015, S. 97 ff). Vielfach wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff des Existenztraumas verwendet. Das zentrale Gefühl einer solchen Traumasituation ist nach Ruppert die Todesangst. Diese Todesangst und alle begleitenden Gefühle wie Ohnmacht oder Schuldgefühle können bei den Betroffenen erneut aktiviert werden, wenn sie auf irgendeine Weise an die Traumasituation erinnert werden.

Inwieweit kann nun eine mangelnde Bindung oder eine gravierende Störung oder Unterbrechung der Bindung ein Trauma sein? Bindung entsteht natürlicherweise zwischen einem Neugeborenen und seiner Mutter. Ein neugeborenes Kind ist komplett auf die Versorgung durch seine Mutter oder ggf. eine andere Bezugsperson angewiesen. Wie die Untersuchungen von Spitz/ Wolf (1946) gezeigt haben, geht es dabei nicht nur um die Versorgung mit Nahrung und Körperpflege, sondern auch um Blickkontakt, Berührungen, liebevolles Eingehen auf die Äußerungen des Kindes, angemessene Reaktionen der Mutter, wenn das Kind schreit usw.

All diese Verhaltensweisen, die die allermeisten Mütter ganz natürlich gegenüber ihrem Kind zeigen, führen dazu, dass eine Bindung zwischen Mutter und Kind aufgebaut wird, dass das Kind die Mutter als verlässlichen Partner erlebt, dass es sich auf dieser Welt und in seiner Familie willkommen und geliebt fühlt und im Laufe der Zeit in der Lage ist, auch anderen Menschen, dem Leben an sich und sich selbst zu vertrauen.

Bekommt ein Kind in seiner frühesten Lebenszeit diese Rückmeldungen von der Mutter nicht, verhält sich die Mutter ambivalent oder wird der Kontakt zur Mutter aus welchen Gründen auch immer unterbrochen, fühlt sich das Kind existenziell bedroht, weil es spürt, dass seine körperliche und vor allem emotionale Versorgung nicht gewährleistet ist. Verschärft wird die traumatische Erfahrung für das Kind dann, wenn es über die Gleichgültigkeit oder emotionale und/ oder physische Abwesenheit der Bindungsperson hinaus Gewalt gegen seinen Körper erlebt. Es kommt zu einem Existenztrauma in dem von Franz Ruppert beschriebenen Sinne. Karl Heinz Brisch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, verwendet für diese Form der Traumatisierung den Begriff des Bindungstraumas.

Bei einer solchen Form der Traumatisierung sind zwei Faktoren zu beachten, die das Trauma und die Folgen besonders schlimm machen. Zum einen geschieht es in einem sehr frühen Lebensstadium, in dem sich die Gehirnstrukturen gerade erst ausbilden und das Trauma – anders als bei Erwachsenen – nicht angemessen verarbeitet werden kann. Das Kind hat nur die Möglichkeit, das psychisch nicht Erträgliche abzuspalten, zu resignieren, emotional abzustumpfen. Um die in der Traumasituation erlebte Wut, Angst und Ohnmacht zu unterdrücken und aushaltbar zu machen, gehen betroffene Kinder häufig in eine Position der körperlichen Anspannung hinein, aus der sie von allein kaum wieder herausfinden (vgl. Ruppert, 2015: 38 f.).

Die seelische und körperliche Anspannung ist einer von vielen Gründen, warum Menschen zu Suchtmitteln wie Alkohol oder anderen Drogen greifen.

Der zweite Faktor, der das hier beschriebene Existenz- oder Bindungstrauma so dramatisch macht, ist darin zu sehen, dass die Traumatisierung durch die Personen erfolgt, die eigentlich Bindungspersonen sein sollten bzw. denen das Kind natürlicherweise vertraut und die dem Kind eigentlich Schutz und Geborgenheit bieten sollten. Karl Heinz Brisch bezeichnet die Traumatisierung durch Bindungspersonen als „eine stressvolle Extremerfahrung“ (Brisch, 2018: 16), deren Folgen vielfältig sein können (vgl. z. B. Ruppert, Franz/Brisch, Karl Heinz).

4. Bindung und Abhängigkeit

Bei der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Bindung bzw. Bindungstraumatisierung und Abhängigkeit möchte ich vier Aspekte herausarbeiten, die mir besonders wichtig erscheinen und die zugleich Ansatzpunkte für uns Therapeuten bieten.

Wie bereits angedeutet, haben Menschen mit einem Bindungstrauma häufig eine erhöhte Körperanspannung, mit der sie die aus der frühen Traumatisierung resultierenden massiven Ängste abzuwehren versuchen. Körperanspannung und Ängste gehen häufig auch mit einer erhöhten seelischen Anspannung, Grübelzwang usw. einher, die in Kombination mit Muskelanspannungen u. a. Schlafstörungen auslösen können.

Betroffene greifen daher zu Alkohol oder anderen dämpfenden Suchtmitteln wie Cannabinoiden oder Opioiden. Nicht selten verschreiben Ärzte auch Schlaf- und Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine, die ein hohes Suchtpotenzial aufweisen. Hiermit werden natürlich nur die Symptome, nicht aber die Ursachen der Angst und der daraus folgenden Spannungszustände behandelt. Innerhalb kurzer Zeit kann eine Abhängigkeit entstehen. Die Ängste und andere unangenehme Emotionen treten im Zustand der Nüchternheit umso deutlicher wieder zutage.

Zur Veranschaulichung dieser Dramatik möchte ich einige Passagen aus dem Buch Die Revolte des Körpers von Alice Miller (2005: 126–130) zitieren [Anm.: an die neue Rechtschreibung angepasst]:

„Möglicherweise gelingt es der Droge, die Ängste und Schmerzen so weit zu unterdrücken, dass der Betreffende die wahren Gefühle nicht spüren muss – solange die Droge wirkt. Um so mehr aber schlagen diese ungelebten Emotionen zu, wenn die Wirkung der Droge nachlässt. […] Die verbannten Emotionen verschaffen sich wieder Zugang und bestürmen den Körper. […]

Der Mann [aus dem Fallbeispiel] bringt sehr deutlich zum Ausdruck, mit welcher Kraft die wahren Bedürfnisse und Gefühle auftauchen, wenn die Droge nicht zur Verfügung steht. Die authentischen Gefühle des Mangels, der Verlassenheit und der Wut erzeugen aber Panik, so dass sie wieder mit Hilfe des Heroins bekämpft werden müssen. Zugleich soll der Körper durch die Droge zur Produktion erwünschter, positiver Gefühle manipuliert werden. Derselbe Mechanismus ist natürlich auch beim Konsum legaler Drogen, wie Psychopharmaka, wirksam. Die zwanghafte Abhängigkeit von Substanzen kann katastrophale Wirkungen haben, gerade weil sie den Weg zu den wahren Emotionen und Gefühlen verbaut. […]

Häufig geht es beim Konsum von legalen Drogen (wie Alkohol, Zigaretten, Medikamente) um den Versuch, das Loch zu füllen, das die Mutter hinterlassen hat. Das Kind hat nicht die Nahrung bekommen, die es von ihr brauchte, und konnte sie später auch nicht mehr finden.“

Diese „Nahrung“, nach der sich der Suchtkranke sehnt und die er von der Bindungsperson nicht bekommen hat, ist ein Ansatzpunkt für der Behandlung von Suchterkrankungen.

Ein Bindungstrauma ist in der Regel ein sehr frühes Trauma, das zu einer Persönlichkeitsstörung führen kann. Bestimmte Persönlichkeitsstörungen gehen wiederum auffallend häufig mit Sucht als Begleiterkrankung einher. Dies sind vor allem die ängstlich-vermeidende, die abhängige, die narzisstische und die emotionalinstabile oder Borderline-Persönlichkeitsstörung (vgl. Heinz-Peter Röhr (2014: 75-101).

Wenn wir als Therapeuten einen Patienten mit Abhängigkeitssyndrom betreuen, sollten wir bedenken, dass die Sucht möglicherweise nur die Co-Erkrankung ist und dass vor allem bei der narzisstischen und der Borderline-Persönlichkeitsstörung die mangelnde oder instabile Krankheitseinsicht auch eine Genesung von der Sucht behindern kann und hier besonders mit Rückfällen zu rechnen ist. Wir sollten dann auch prüfen, ob hier zunächst eine Behandlung der „Grundstörung“ im Vordergrund stehen sollte und, falls ja, inwieweit wir dies leisten können.

Das von Karl Heinz Brisch herausgegebene Buch „Bindung und Sucht“ widmet sich speziell dem Zusammenhang zwischen Bindungsstörungen und den verschiedenen Formen von Sucht. In den verschiedenen Beiträgen kommt zum Ausdruck, dass sowohl das stoffgebundene als auch das stoffungebundene Suchtmittel bei Kindern und Jugendlichen ohne stabile Bindung tatsächlich zum Bindungsersatz werden kann. Bei Kindern und Jugendlichen spielen hierbei besonders Internet- und Computerspielsucht eine Rolle. Dies wird sicherlich dadurch begünstigt, dass dieses „Suchtmittel“ im Gegensatz zu Alkohol oder Drogen den meisten Kindern ab dem Schulalter mehr oder weniger unkontrolliert, unbeaufsichtigt und kostenfrei in der elterlichen Wohnung zur Verfügung steht.

In seiner Monografie „Bindungsstörungen“ schildert Brisch den Fall einer 17-jährigen Patientin mit kombinierter Alkohol- und Drogenproblematik (Brisch, 2017: 227- 233). Die Familienanamnese ergibt, dass die junge Frau das „einzige Kind reicher Eltern“ ist, die viel unterwegs sind und zu denen die Patientin „schon seit zwei Jahren keinen regelmäßigen Kontakt“ mehr hat (ebd.: 228). Um die familiären Gegebenheiten, die im Hinblick auf den Faktor Bindung relevant sind, zu veranschaulichen, zitiere ich im Folgenden einige Ausschnitte aus dieser Familienanamnese wörtlich (ebd.: 228):

„Sie lebe jetzt in einer Jugendwohngruppe. Sie habe eine Ahnung, dass sie irgendwie künstlich gezeugt wurde und dass ihr Vater vielleicht auch nicht ihr leiblicher Vater sei. […] Ihre Mutter habe eigentlich nur ihre Karriere im Kopf gehabt. Als Kind sei sie ein hübsches ‚Ausstellungsstück‘ gewesen, neben den vielen Museumsstücken, die ihre reichen Eltern aus Liebhaberei gesammelt hätten. Es habe ihr an nichts gefehlt, Spielsachen und Geschenke habe es im Überfluss gegeben, Kindermädchen – sie wisse nicht wie viele und wann welche gekommen und gegangen seien. Immer waren irgendwelche Mädchen da […].

Gelegentlich habe sie zwischendurch auch ihre Mutter gesehen, die dann jeweils mit ihr allein Ausflüge […] unternommen habe […]. Sie habe sich immer wahnsinnig auf diese ‚Highlights‘ gefreut, aber irgendwie sei sie dann doch stets enttäuscht gewesen, weil ihre Mutter zwar einmal den ganzen Nachmittag mit ihre verbracht habe, aber so richtig sei sie ‚doch nicht da gewesen‘“.

Die Patientin berichtet von wechselnden Beziehungen in der Pubertät, in denen sie immer wieder eine Art „sicheren Hafen“ gesucht, aber nie gefunden habe. Es habe viele Enttäuschungen gegeben, sodass sie zu dem Schluss gekommen sei, auf Männer sei kein Verlass. Ich zitiere weiter aus der Anamnese (Brisch, 2017: 229):

„Irgendwann habe sie schließlich angefangen, aus lauter Frust auf Feten Alkohol zu trinken; so sei der Schmerz nicht mehr so groß gewesen, wenn sie wieder von einem Jungen verlassen wurde. Ihre erste sexuelle Erfahrung habe sie mit zwölf Jahren gemacht, sie sei halt von einer Beziehung auch sexuell in die nächste geschlittert. […] Der Therapeut fragt, ob sie sich vielleicht irgendwo ‚Halt‘ gewünscht habe.

[…] ‚Ja, einen Halt, gehalten werden, nicht mehr allein sein, jemanden haben, der immer für mich da wäre, aber das sind doch nur blöde Phantasien, die nicht in Erfüllung gehen.‘ […] Nach einer Weile berichtet sie, dass sie […] begonnen habe, Drogen auszuprobieren, nie regelmäßig, aber immer dann, wenn es besonders schlimm war und sie ihren Schmerz, ihre Trauer und ihre Sehnsucht nicht mehr ausgehalten habe.“

Die Schilderungen der jungen Frau zeigen, dass die Bindung zu beiden Elternteilen gestört ist. Zum Vater besteht wenig Kontakt, die Treffen mit der Mutter laufen ritualisiert und ohne emotionale Beteiligung seitens der Mutter ab. Auch die Kindermädchen können keine stabile Bindung bieten, weil sie häufig wechseln. Das führt dazu, dass die Patientin innerlich resigniert und abstumpft, ohne dass dadurch der Bindungswunsch verschwindet.

So versucht sie als Jugendliche schließlich, die fehlende Bindung zu den Eltern durch (sexuelle) Beziehungen zu jungen Männern zu kompensieren. Das Bild des sicheren Hafens beschreibt diese Suche sehr gut. Allerdings konnten die jungen Männer in diesem frühen Alter einen so intensiven Bindungswunsch selbstverständlich nicht erfüllen. Die alte Wunde der Bindungstraumatisierung bricht wieder auf. Der damit verbundene Schmerz ist so groß, dass die Patientin nun zu Alkohol und Drogen greift. Das Bindungstrauma wird auch dadurch natürlich nicht geheilt. Brisch (ebd.: 230) ist der Ansicht, dass hier eine „Dynamik entsteht, in der das Suchtmittel selbst zum sicheren Pseudo-Bindungsobjekt wird, das eine echte Bindung ersetzen soll. Das Suchtmittel ist immer da, allzeit verfügbar, tröstet über schmerzliche Gefühle, hinterlässt ein Gefühl von Getragensein, Entspanntsein“.

Dieses Fallbeispiel veranschaulicht, wie aus einem Bindungstrauma eine Suchterkrankung entstehen kann. Im dargestellten Fall kam die Patientin in der Pubertät mit Alkohol und Drogen in Berührung. Als Therapeuten sollten wir, wie oben angedeutet, auch an die Suchtmittel denken, die per Internet bereits ins Kinderzimmer kommen. Diese können ein Einstieg in eine spätere stoffgebundene Sucht sein.

Destruktive Beziehungen können Folge einer Bindungsstörung und gleichzeitig Auslöser von Sucht sein. Wie wir gesehen haben, ist die allererste Bindung eines Menschen, in der Regel die zur eigenen Mutter, eine Art Blaupause für alle späteren Bindungen, die ein Mensch eingeht. Menschen mit Bindungsstörung suchen sich deshalb unbewusst Freunde und Partner, bei denen sich ihr inneres Kind „zu Hause“ fühlt, d.h. sie gehen Beziehungen zu Menschen ein, die bei ihnen dasselbe „emotionale Klima“ erzeugen, das sie vom Elternhaus her kennen. Sie inszenieren damit quasi eine Wiederholung des Dramas und meist auch des Traumas, das sie in der frühen Kindheit erlebt haben. Der seelische Schmerz der wiederaufbrechenden Wunde kann dabei so groß sein, dass die Betroffenen ihn mit psychoaktiven Substanzen betäuben. Das Beispiel der jungen Frau veranschaulicht dies. Auch Beziehungen an sich können in dieser Dynamik Suchtcharakter haben (vgl. Röhr, 2014: 113 ff.).

Menschen mit Bindungsstörungen gehen folglich mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit destruktive Beziehungen ein, in denen sie gerade keinen sicheren Halt und keinen sicheren Hafen finden, sondern in denen ihr Bindungsbedürfnis weiter frustriert wird. Häufig kann das Verharren in solchen destruktiven Beziehungen ein zusätzlicher Auslöser für das Entstehen einer Sucht sein, weil der Partner unbewusst dafür sorgt, dass die Wunde der Kindheit, das Bindungstrauma, immer wieder neu aufgerissen wird.

Heinz-Peter Röhr (2014: 113-119) identifiziert vor allem destruktiv-abhängige Beziehungen als solche, aus deren Dynamik heraus eine Sucht entstehen kann. Nach seinen Beobachtungen sind diese Beziehungen häufig symbiotischer Art. Dabei suchen nach Röhr vor allem Menschen mit Borderline-Störung „extremsymbiotische Beziehungen“ (ebd.: 115). Dahinter steckt der sehr große Wunsch nach Liebe und Aufmerksamkeit, der von der primären Bindungsperson nicht erfüllt wurde und dessen Erfüllung nun unbewusst vom Partner erwartet wird. In einer solchen Konstellation wird der Partner dazu „benutzt“, die seelischen Probleme und Defizite des anderen auszugleichen. Damit gerät die Beziehung von vornherein in eine Schieflage, die durch einen Missbrauch und eine Überforderung des einen Partners durch den anderen gekennzeichnet ist. Bekommt der bindungsgestörte Partner die erwartete Liebe und Aufmerksamkeit nicht, kann sich dies in endlosen Klagen und einer Art Betteln um Aufmerksamkeit und Zuwendung äußern. Letztlich wird das Bindungsbedürfnis jedoch frustriert, weil der Partner hiermit heillos überfordert ist. In dieser Konstellation liegen nach Röhrs Beobachtungen (ebd.) oft die Wurzeln einer Suchterkrankung. Der Hunger nach Liebe und Bindung wird durch psychotrope Substanzen gedämpft, ebenso der Schmerz der Wunde aus der frühen Kindheit sowie die Angst vor dem Verlassenwerden und Alleinsein.

Die Dynamiken destruktiver Beziehungen können sehr vielfältig und vielschichtig sein und können an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden. Mit den Ausführungen sollte gezeigt werden, dass aus einer Bindungsstörung im späteren Leben gestörte Beziehungen entstehen können, in denen aufgrund des weiterhin unbefriedigten Bindungswunsches eine Suchtproblematik entstehen kann. Im folgenden Abschnitt wenden wir uns nun der Frage zu, wie wir den Faktor Bindung in die Begleitung von Menschen mit einer Suchterkrankung einbeziehen können.

5. Bindung als Bestandteil der Therapie

Aus den bisherigen Ausführungen ist die Bedeutung der frühkindlichen Bindung für die seelische Gesundheit des Menschen und u. a. für seine späteren Beziehungen deutlich geworden. Daraus lässt sich ableiten, dass eine starke Bindung an die Mutter oder eine andere verlässliche Bezugsperson im Prinzip die beste Prävention gegen Suchterkrankungen und weitere psychische und letztlich auch körperliche Leiden ist.

Da Bindungsstörungen in der frühen Kindheit entstehen, setzt Prävention logischerweise bei Schwangeren und jungen Müttern an. Hier können wir den genannten Personenkreis mit unserem Fachwissen informieren und beraten. Der oben zitierte Satz von Franz Ruppert (2015: 34) bringt dabei das Wesentliche auf den Punkt: Es kommt nicht darauf an, dass die Mutter da ist, sondern wie sie da ist. Durch Blickkontakt gibt die Mutter dem Kind Rückmeldung auf seine Lebensäußerungen und signalisiert ihm, dass es von der Mutter gesehen wird. Das Kind lernt, dass es über den Blick und die Mimik mit der Mutter und anderen Menschen kommunizieren kann. Dies ist die Grundlage für spätere kommunikative und soziale Kompetenzen.

Ich betone den Faktor Blickkontakt an dieser Stelle so sehr, weil in Zeiten des allgegenwärtigen Mobiltelefons der Blick vieler Mütter, etwa beim Spaziergang mit dem Kind im Kinderwagen, auf das Mobiltelefon gerichtet ist. Das Kind sucht den Blickkontakt der Mutter in dem Fall vergeblich und spürt, dass die Aufmerksamkeit der Mutter woanders ist. Der Kontakt ist unterbrochen. Das Bindungsbedürfnis des Kindes wird frustriert.

Neben dem Blickkontakt sind natürlich auch Stimme, Körperkontakt und generell die stetige, liebevolle Präsenz der Mutter im Sinne von Achtsamkeit für das Kind wesentlich für den Aufbau einer sicheren Bindung.

Wenn es um Suchterkrankungen geht, kommen natürlich in den meisten Fällen Erwachsene zu uns. Sofern hier eine Bindungsstörung zugrunde liegt, ist diese logischerweise bereits eingetreten, Prävention also nicht mehr möglich.

Im Rahmen der Anamnese wäre zu prüfen, ob eine Bindungsstörung gegeben sein könnte. Wir können hierzu im Rahmen der Familienanamnese nach den Beziehungen zu Eltern und Geschwistern, dem Gefühlsklima in der Herkunftsfamilie und den späteren Freundschaften und Beziehungen des Patienten fragen. Gibt es viele gescheiterte Beziehungen, könnte man versuchen, einen „roten Faden“ des Scheiterns zu finden.

Ferner sollten im Rahmen der Anamnese etwaige Co-Erkrankungen der Sucht ermittelt werden. Ich hatte diesbezüglich bereits auf Persönlichkeitsstörungen hingewiesen, die ebenfalls Folge einer Bindungsstörung bzw. eines Bindungstraumas sein können. Auch Depressionen gehen häufig mit Suchterkrankungen einher. Dies kann bedeuten, dass die Suchterkrankung erst zweitrangig behandelt werden kann oder sollte.

Schließlich sollten wir auch nach dem aktuellen sozialen Umfeld des Patienten fragen und prüfen, ob er ggf. in destruktiven, „suchtfördernden“ Beziehungen lebt, die einen Rückfall in den Substanzgebrauch oder das Suchtverhalten begünstigen. Idealerweise sollte die Familie des Suchtkranken in die Behandlung miteinbezogen werden. Wichtig ist auch, dass der „trockene“ Patient Kontakte mit noch „aktiven“ Suchtkranken überdenkt und für eine gewisse Zeit meidet.

In Verbindung mit dem sozialen Umfeld von Suchtkranken wird häufig davon ausgegangen, dass die Partner und Familienangehörigen von Suchtkranken „Co-Abhängige“ sind (vgl. Wilson Schaef, 1986), die aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur unbewusst das Suchtverhalten fördern oder zumindest aufrechterhalten. Dies ist jedoch nach meinen Beobachtungen längst nicht immer der Fall. Vielmehr können Suchtkranke gleichzeitig Co-Abhängige sein. Sowohl Sucht als auch Co-Abhängigkeit können Folgen eines Bindungstraumas sein. Auch diesen Aspekt sollten wir beim Umgang mit den Patienten im Blick haben.

Wie können wir nun die verletzte Bindung in unsere Therapie von erwachsenen Patienten mit Suchtproblematik integrieren? Nach allem, was wir über Bindung wissen, sollten wir uns bewusst sein, dass unser Patient nach der „Nahrung“ sucht, die er in seiner frühen Kindheit nicht bekommen hat, d. h. nach einem Menschen, der für ihn die Rolle der Bindungsperson übernehmen wird, der ihm endlich einen sicheren Hafen bietet. Diese Rolle können wir als Therapeuten für die Dauer der Therapie übernehmen, um dem Patienten die Erfahrung einer sicheren, verlässlichen Bindung und Beziehung zu vermitteln. Dies tun wir, indem wir dem Patienten zeitlich und emotional zur Verfügung stehen und ihm eine verlässliche und sichere Basis bieten, von der aus er sein Leben in Nüchternheit und seine Probleme mit emotionaler Stabilität bewältigen kann (Brisch, 2017: 122 f.).

Alles, was für die Herstellung der Bindung zwischen Mutter und Kind wichtig ist, kann hierbei direkt auf die therapeutische Situation übertragen werden. Das bedeutet z. B., dass wir feinfühlig auf die Signale des Patienten achten und diese prompt beantworten, Termine pünktlich einhalten und bei Unterbrechungen der Therapie durch Urlaub oder Wochenende stets seine bindungs- und trennungsbezogenen Ängste im Blick haben. Signale für die Trennung im Sinne einer Beendigung der Therapie sollten vom Patienten ausgehen (Brisch, 2014: 124, 129).

Wir können den Patienten behutsam ermutigen, seine Beziehungen zu seinen heute wichtigen Bezugspersonen zu reflektieren, aktuelle Wahrnehmungen und Gefühle zu beobachten und sie mit denen aus der Kindheit zu vergleichen. Dabei sollten wir ihm verständlich machen, dass seine traumatischen Erfahrungen mit Bindungspersonen und die daraus entstandenen „Überlebensstrategien“ für die Gestaltung der gegenwärtigen Beziehungen vermutlich nicht mehr angemessen sind (vgl. ebd.: 123).

In manchen Fällen wird eine Bereinigung des familiären und/oder sozialen Umfelds notwendig sein, wenn dieses Umfeld suchtfördernd ist. Auf die Rolle von destruktivabhängigen Beziehungen bei der Entstehung von Sucht habe ich bereits hingewiesen. Für eine nachhaltige Genesung eines „trocken“ gewordenen Patienten kann deshalb eine vorübergehende oder dauerhafte Trennung vom Partner oder von anderen Familienmitgliedern ggf. unumgänglich sein. Bei der Klärung und Umsetzung dieser Thematik können wir den Patienten mit unserem Fachwissen beraten und emotional unterstützen.

Da sich ein Bindungstrauma durch Spannungszustände im Körper zeigen kann, können wir dem Patienten darüber hinaus zeigen, wie er mit Entspannungstechniken für Entlastung sorgen kann, speziell wenn er in eine Drucksituation gerät, in der Rückfallgefahr besteht. Ferner können wir ihm z. B. mit kunsttherapeutischen Verfahren wie Schreiben oder Malen helfen, die schmerzhaften Gefühle, die aus dem Bindungstrauma resultieren und bisher mit dem Suchtmittel unterdrückt wurden, nun tatsächlich zum Ausdruck zu bringen und zu verarbeiten (vgl. Heimes, 2012, 2015).

Selbstverständlich steht uns bei einem Bindungstrauma auch das gesamte Repertoire an Traumatherapieformen zur Verfügung, die wir beherrschen. Hier seien z. B. das Somatic Experiencing nach Levine oder die Anliegenmethode nach Ruppert genannt.

Eine Genesung von einer Suchterkrankung ist in der Regel eine Langzeittherapie, gerade wenn hierbei die gestörte Bindung durch die Erfahrung einer sicheren, tragfähigen Bindung geheilt werden soll. Um die Kosten für unsere Patienten im Rahmen zu halten und dennoch eine individuelle Betreuung anzubieten, kann eine Therapie in der Klein(st)gruppe eine gute Lösung sein.

Sie kombiniert die Vorteile einer Selbsthilfegruppe mit denen einer Einzeltherapie, da wir bei diesem Setting in besonderer Weise auf die Bindungsbedürfnisse der Gruppenteilnehmer Rücksicht nehmen können.

Literatur

  • Batra, Anil/Bilke-Hentsch, Oliver: Praxisbuch Sucht. Therapie der Suchterkrankungen im Jugendlichen- und Erwachsenenalter. Thieme, 2016
  • Bowlby, John: Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen. Klett-Cotta, 1979
  • Brisch, Karl Heinz: Bindung und Sucht. Klett-Cotta, 2019
  • Brisch, Karl Heinz: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Klett-Cotta, 2017
  • Brisch, Karl Heinz: Bindungstraumatisierungen. Wenn Bindungspersonen zu Tätern werden. Klett-Cotta, 2018
  • Feuerlein, Wilhelm/Küfner, Alfred et al.: Alkoholismus – Missbrauch und Abhängigkeit: Entstehung, Folgen, Therapie. Thieme, 2011
  • Heimes, Silke: Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie. Vandenhoeck & Ruprecht, 2012
  • Heimes, Silke: Schreib dich gesund. Übungen für verschiedene Krankheitsbilder. Vandenhoeck & Ruprecht, 2015
  • Miller, Alice: Die Revolte des Körpers. Suhrkamp, 2005
  • Müller, Astrid/Wölfling, Klaus/Müller, Kai: Verhaltenssüchte – Pathologisches Kaufen, Spielsucht und Internetsucht. Hogrefe, 2018
  • Röhr, Heinz-Peter: Wege aus der Abhängigkeit. Destruktive Beziehungen überwinden. dtv, 2014
  • Röhr, Heinz-Peter: Sucht – Hintergründe und Heilung. Abhängigkeit verstehen und überwinden. Patmos, 2014
  • Ruppert, Franz: Trauma, Bindung und Familienstellen. Seelische Verletzungen verstehen und heilen. Klett-Cotta, 2015
  • Spitz, René/Wolf, A./Katherine, M.: Anaclitic Depression. An Inquiry into the Genesis of Psychiatric Conditions in Early Childhood, In: The Pychoanalytic Study of the Child. International Universities Press, Vol. 2, 1946: 313-342.
  • Wilson Schaef, Anne: Co-Abhängigkeit. Die Sucht hinter der Sucht. Heyne, 1986

Dr. phil. Andrea Faulstich
Heilpraktikerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Schreibtherapeutin, Schwerpunkt: Missbrauch und Trauma in Familien und Beziehungen
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