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Der siebte Sinn: Fluch oder Segen?

Eine Ode an intuitiv arbeitende Therapeuten!

Machen wir uns nichts vor. In einer Industrienation wie Deutschland zählt (Fach-)Wissen meist mehr als alles andere. Schließlich will die Wirtschaft expandieren und nur innovative, konkurrenzlose Produkte können erfolgreich exportiert werden. Dazu bedarf es einer Form angestrengten, konzentrierten Nachdenkens, das auf Logik beruht, nicht auf Ahnung oder Intuition. Das ist die Grundlage unserer gesamten Schulbildung.

Schon in der ersten Klasse werden wir mit kopflastigem Denken und mit Theorien konfrontiert, deren Beherrschen uns gute Noten einbringt – Ausgangslage für gute Zeugnisse, einen super NC, erfolgreiche Bewerbungen, ein Studium usw. Damit sind wir Wirtschaft und Industrie von Nutzen und bekommen ein gesichertes Einkommen. Der Deutsche (immer m/w/d) wird nach Leistung bewertet und besonders nach seiner Intelligenz. Das führt dazu, dass jeder Zweite studiert, ein explosionsartiger Anstieg seit 30 Jahren.

Rund 90 % aller Bundestagsabgeordneten sind Akademiker, darunter zahlreiche Doktoren und Professoren. Angela Merkel war Doktor der Physik, Helmut Kohl Doktor der Philosophie, Karl Lauterbach Professor der Medizin, nebst unzähligen „Bachelors“ und Jura-Absolventen in der Politik.

Zu welchem Chaos diese Art von „Intelligenz“ geführt hat, will ich nicht näher erläutern, doch das erübrigt sich, wenn man Zeitungen zwischen den Zeilen liest.

In deutschen Denkfabriken – auch Schule genannt – wird rationales und theoretisches Verstehen belohnt, während Werte wie Lebenssinn, Freundschaft, Zufriedenheit, Familie, aber auch ganzheitliches Erfassen von Problemen unter den Tisch fallen. Die Richtung, in die wir gedrängt werden, schaltet ein intuitives Erfassen von Situationen sowie ein gefühlsmäßiges Erkennen von Problemursachen von vornherein aus. Wozu auch? Wie will ein Lehrer das bewerten?

Besonders leiden hierunter solche, die schon von klein auf ein höheres Bewusstsein haben sowie eine große innere Antenne. Diese Sorte von Sensitiven und Weitsichtigen hat stark zugenommen. Ihre innere Welt des Spürens steht im Widerspruch zur äußeren, wo es auf intellektuelles Verstehen ankommt. Dieser innere Konflikt führt u. a. zu seelischem Stress, ADHS, Schlaf- und Verdauungsproblemen – wie ich in meiner Beratungspraxis immer wieder erlebe. Hierüber schrieb ich bereits ein Lehrbuch (Das Vata-Syndrom). Zwar gibt es Einrichtungen (Waldorf-, Montessori-, Privatschulen), welche die individuelle Einzigartigkeit begnadeter Kinder fördern, doch den Massen bleibt dieser Ausweg vorenthalten.

Kopf- vs. Bauchgefühl

Im Austausch mit psychologischen Beratern und Psychologen stelle ich seit 30 Jahren fest, dass jene, die intuitiv vorgehen, äußerst beliebt sind und den größten Patientenzulauf haben. Man könnte eine umgekehrte Gleichung ziehen: Je akademischer ein Berater „vorbelastet“ ist, desto kopflastiger und intellektueller sein Lösungsansatz. Und der richtet sich meist nach dem, was Universitäten vermitteln: Pathogenese, Diagnose und Therapie anhand eines Schemas, anhand eines Krankheitsbildes und von Kriterien. Das liegt daran, dass schemenhafte Lösungsansätze leichter zu unterrichten, einfacher zu reproduzieren sind. Gerade in Deutschland will man gerne alles standardisieren, normen und vorgeben. Die Effizienz zählt, nicht der Mensch, schon gar nicht in seiner Gesamtheit.

Psychologen mit Zusatzausbildung im ganzheitlichen Bereich oder mit spiritueller Ausrichtung, mit reichlich Lebenserfahrungen und dergleichen, sind da etwas anders. Und natürlich gibt es einige unter ihnen, die die auferlegten Theorien über Bord werfen und rein vom Bauch her agieren. Das sind die wahren Genies. Sie erfassen die Not und Problematik anderer intuitiv und können am ehesten helfen.

Die Frage, die ich mir immer wieder stelle, ist, ob intuitives Erfassen und – im weitesten Sinne – ganzheitliches Denken erlernbar ist. In der Schule des Lebens sicherlich eher als in einer Denkfabrik – vorausgesetzt man ist offen für neue Impulse und bereit für ein Umdenken. So erlebte ich auf Sri Lanka, wo ich mehrere Gruppen unterschiedlicher Nationalitäten in Ayurveda unterrichtete, dass schon nach zwei Wochen ein anderes Bewusstsein einsetzte. Die Mehrheit der Studenten konnte Krankheitsursachen erkennen, auf die kein Arzt gekommen wäre.

Am schwersten taten sich Mediziner, die seit mehreren Jahren einer bestimmten Arbeitsweise nachgingen. Die Theorie verstanden sie schnell, schneller als weniger akademische Teilnehmer. Doch kaum dass sie an „echten“ Patienten Beratungen und Therapievorschläge üben sollten, versagten sie kläglich. In der Praxis war der neu gelernte Ansatz gehemmt und ihr altes Denken übernahm die Führung. Das erlebte ich sowohl in Deutschland als auch in Kanada und in Japan. Die Theorie, die auf Naturgesetzen beruht, haben sie mit Bravour gemeistert, doch die Umsetzung an Hilfesuchenden funktionierte nicht, weil ihr rationales Denken die ganzheitlichen Ansätze verwarf bzw. die Führung übernahm, als es darauf ankam.

Doch die größten Fortschritte machen Teilnehmer, die schon immer, also von Geburt an, ein höheres Bewusstsein haben. Zusammen mit einer ganzheitlichen Diagnosemethode und Beratungstechnik spüren sie Faktoren treffsicher auf, die zur Entstehung psychosomatischer Erkrankungen führen. Der indische Arzt Charaka, ein berühmter und viel zitierter Ayurveda-Pionier der Antike, schrieb in einem seiner Lehrbücher: „Es gibt etwas zwischen Arzt und Patient, was für Außenstehende unerklärbar ist, etwas wie eine Art ‚stille Kommunikation‘, die letztendlich zum Verständnis der Krankheit und zur Genesung führt.“

Gemeint ist eine Art von Wissen, das nicht erlernbar ist. Hier sehe ich eine Gelegenheit für all jene, denen logisches Denken, so wie es uns in der Schule eingetrichtert wird, zuwider ist, nicht ausreicht und die gleichzeitig mit einer guten Antenne, einem guten Gespür ausgestattet sind. Sie sind prädestiniert zum Erkennen von Ursachen und Faktoren, die seelisches Leid auslösen. Bedenkt man, dass psychosomatische Störungen mittlerweile die Hauptursache für Krankschreibungen bzw. krankheitsbedingte Arbeitsausfälle sind, während schulmedizinisch ausgerichtete Psychologen oft monatelang ausgebucht sind, so wäre dies ein Betätigungsfeld, in dem sie voll aufgehen und dabei auch noch anderen helfen können.

Vergessen wir nicht, dass „Psyche“ im Griechischen eigentlich „Seele“ bedeutet und damit zum feinstofflichsten Bereich eines Menschen zählt. Zugang zu diesem Bereich hat nur der, der sich in die Lage des anderen versetzen kann, nicht der, der am längsten Psychologie studiert hat.

Bewusstsein ist somit höher zu bewerten als reines Wissen oder pure Intelligenz.

Hier sehe ich großes Potenzial unter den Feingeistigen, den Hoch-Sensitiven, die sich schwertun in der normalen Arbeitswelt. Wir brauchen sie heute mehr denn je und wir sollten sie fördern und auf diesen Weg aufmerksam machen.

Prof. h. c. Manfred Krames
Praxis für seelische Gesundheit, Trier, Lecturer/Author on holistic health, Autor „Gefährliche Intelligenz“, Amadeus Verlag, Mai 2023

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