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Traumatherapie Teil2 - Scham und Schutz, Das Trauma-selbst heilen

Scham, Schutzreaktionen und Selbstregulation bei einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS). Über Scham als Überlebensmechanismus, innere Arbeit und Wege, wieder in gesunde Beziehung zum eigenen Selbst zu treten.

Vielleicht fragen Sie sich, warum gerade Scham im Mittelpunkt steht, wenn ich über Entwicklungs- und Komplextrauma spreche. Als Selbstüberlebende und mit drei Jahrzehnten Erfahrung in der Begleitung von Menschen mit kPTBS weiß ich: Scham ist oft der stille und verborgene Begleiter, der tief im Inneren, ja sogar in der Identität verwurzelt ist und Fortschritte der Heilung erschwert. Deshalb verdient sie zugleich unsere besondere Aufmerksamkeit und Einfühlsamkeit.


SCHAM ALS ÜBERLEBENSMECHANIS-MUS BEI ENTWICKLUNGSTRAUMA

Scham gilt laut Léon Wurmser (Pionier der Erforschung des Über-Ich) als „Hüterin der menschlichen Würde“ und manifestiert sich in drei Formen. Die traumabedingte Scham ist neben der natürlichen und sozialen Scham bei vielen Menschen eine sekundäre Emotion, die sich tief im Körper und Nervensystem manifestiert. Bei Betroffenen ist diese besonders qualvoll und komplex. Denn sie geht weit über bloße Verlegenheit hinaus und fungiert als meist unbewusster Überlebensmechanismus unserer Kindheit und Jugend. Für kPTBS-Betroffene wird Scham zum ständigen Begleiter, der Selbstbewusstsein sowie die Fähigkeit, gesunde Beziehungen zu sich selbst und anderen aufzubauen, massiv schmälert. Traumabedingte Scham ist auch ein Grundpfeiler dafür, dass Überlebende das Selbstgefühl und das Gespür für das eigene Selbst verlieren.

SCHAM ALS SCHUTZ FÜR DAS TRAUMA-SELBST

Scham ist bei komplexer posttraumatischer Belastungsstörung weit mehr als nur ein unangenehmes Gefühl. Sie ist ein intrapsychischer Schutzmechanismus, der uns vor weiteren Verletzungen bewahren soll. Entstanden größtenteils in frühen, verletzenden Beziehungserfahrungen, signalisiert Scham den Betroffenen,

dass sie anders oder minderwertig seien. Aus dem inneren Erleben, nicht genug oder sogar defekt zu sein, signalisiert Scham dem Gehirn, dass Gefahr droht, nicht nur von außen, sondern auch von der eigenen Wahrnehmung.

Deshalb entwickeln viele Betroffene typische Verhaltensweisen wie Rückzug, Vermeidung oder Perfektionismus, um die Schamgefühle zu kontrollieren oder zu verbergen. Diese innere Botschaft schützt sie scheinbar vor weiterer Verletzung, indem sie Distanz schafft, sei es durch Rückzug, Vermeidung oder das Verstecken der eigenen Gefühle.

Doch genau diese Schutzstrategien können sich als doppelte Falle erweisen: Sie bewahren kurzfristig vor Schmerz, verhindern aber gleichzeitig heilende Begegnungen und Verständigung. Typische Verhaltensweisen, die Scham mit sich bringen, werden vom Trauma-Selbst angenommen, wie übermäßige Selbstkritik, perfektionistisches Verhalten oder das Verbergen von Schwächen.

Die manchmal heilsame, bei frühkindlicher Traumatisierung jedoch destruktive Scham-Instanz des Über-Ichs kann jede Lebensfreude lähmen und quälende Scham ebenso wie Rachsucht verursachen. (Abb. 1)

SELBSTREGULATION UND IHRE HERAUSFORDERUNGEN BEI KPTBSBEDINGTER SCHAM

Selbstregulation ist die Fähigkeit, sich bei akuten psychischen und körperlichen Zuständen außerhalb des Stresstoleranzfensters window of tolerance wieder in einen regulierten Zustand zurück zu navigieren. Der akute Zustand kann im Nervensystem eine Überregulation (z. B. Rage) oder eine Unterregulation (z. B. eine Schamattacke) bedeuten. Besonders bei kPTBS-bedingter Scham zeigt sich, wie eng Selbstregulation und einstige Schutzmechanismen miteinander verbunden sind.

Das Beispiel von Jonas veranschaulicht uns diese gegensätzliche und komplexe Situation, in der wir toxische Scham erleben und behandeln müssen. Beim Einkaufen platzt Jonas, 56, plötzlich der Kragen, als die Kassiererin den Käse mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum scannt: „Dieser Käse war doch im Angebot, was kostet er denn?“ „Haben Sie das Preisschild gesehen?“ fragt sie. Jonas faucht empört: „Auf keinen Fall war das dort, ich kaufe nur frische und gesunde Sachen!“ Sein Körper zittert innerlich, während ein dunkler Knoten seinen Magen umklammert. Trotz Wut fordert er die Stornierung des Käses. Auf dem Heimweg verbietet er sich, eine Woche Käse zu kaufen, und sucht Trost in der Kneipe mit einer Weinschorle.

Diese Szene zeigt die paradoxe Welt toxischer Scham: einen unsichtbaren Mantel, der echte Gefühle und Bedürfnisse verdeckt, Selbstwahrnehmung erschwert und die Selbstregulation herausfordert. Für Traumabetroffene wie Jonas ist es oft erst viel später möglich, zu verstehen, warum sie immer wieder in solche Muster verfallen. Die innere Alarmbereitschaft hält das Nervensystem in ständiger Spannung, während bewährte Strategien zur Beruhigung versagen. Selbstregulation wird so zu einem essenziellen Werkzeug, um stabiler durch solche Momente zu kommen. Um toxische Scham als schmerzhaft-unerträglichen Zustand zu vermeiden, entstehen unbewusste Mechanismen mit der Funktion Schutz. Dieser Schutz wird durch die unbewusste Angst der Vergangenheit angetrieben: Angst, dabei ertappt zu werden, nicht vollkommen zu sein.

NEUROSOMATISCHE FOLGEN TRAUMABEDINGTER SCHUTZREAKTIONEN WIE SCHAM

Die Entwicklung des Nervensystems in der Kindheit bildet die Grundlage für unser gesamtes Selbstgefühl und unsere Fähigkeit, mit Stress umzugehen. Traumatische Erfahrungen, insbesondere solche, die toxische Scham auslösen, wirken sich tiefgreifend auf diese Entwicklung aus. Das kindliche Nervensystem ist in dieser Phase besonders plastisch und empfindlich. Scham als Schutzreaktion, die ursprünglich dazu diente, das Kind vor weiterer Verletzung zu bewahren, kann sich festsetzen und chronisch werden. Neuropsychologisch führt dies zu einer Überaktivierung des Stresssystems, hauptsächlich des limbischen Systems, das u. a. für Emotionen und Selbstwahrnehmung zuständig ist. Die Folge ist eine dauerhafte Dysregulation des autonomen Nervensystems, die sich in erhöhtem Stressniveau, Angstzuständen und innerer Unruhe äußert.

Neurosomatisch manifestiert sich toxische Scham häufig in muskulären Verspannungen, chronischen Schmerzen und psychosomatischen Beschwerden, da der Körper die unterdrückten Gefühle einfach nicht verarbeiten kann.

Das Selbstgefühl, also die Bindung und Verbundenheit zu sich selbst als wertvolles Gegenüber, wird nachhaltig beeinträchtigt, weil die betroffene Person sich wertlos und minderwertig erlebt. Diese innere Haltung beeinflusst auch die Persönlichkeitsentwicklung negativ, indem sie Selbstzweifel und vermeidendes Verhalten fördert. In zwischenmenschlichen Beziehungen führt dies oft zu Bindungsängsten, Misstrauen und Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen. Diese verzerrte Selbstwahrnehmung beeinflusst die Persönlichkeit, indem sie Ängste, Misstrauen und soziale Rückzugstendenzen fördert.

In zwischenmenschlichen Beziehungen manifestiert sich dies durch Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen oder gesunde Grenzen zu setzen. Angehörige und Fachkräfte sollten deshalb die komplexen Wechselwirkungen zwischen neurobiologischer Entwicklung, Selbstgefühl und toxischer Scham verstehen, um traumatisierten Menschen empathisch und kompetent zu begegnen.


WENN SCHAM NICHT MEHR SCHÜTZT, SONDERN SCHADET: SELBSTREGULA-TION ALS SCHLÜSSEL

Wenn Scham nicht mehr schützt, sondern zum Feind wird, kann sie durchschlagende Auswirkungen auf das innere Erleben und die zwischenmenschlichen Beziehungen haben. Ursprünglich dient Scham als Überlebensmechanismus, der uns hilft, in sozialen Gruppen zu bestehen und uns anzupassen. Bei Menschen mit kPTBS kann jedoch Scham überwältigend werden und zu einem inneren Kritiker (oder inneren Selbstanteil) heranwachsen, der das Selbstwertgefühl und die Selbstsicherheit angreift.

In solchen Fällen können dissoziative Phänomene auftreten, bei denen Betroffene sich von ihren Gefühlen, Erinnerungen oder sogar ihrem Körper abspalten. Diese Schutzreaktionen, die ursprünglich das Überleben sichern sollten, erschweren den Zugang zum eigenen Selbst und behindern die Selbstregulation. 

Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist es dringend, die Dynamik von Schamattacken als teildissoziativen, intrusiven Zustand zu verstehen, ein besonderes Phänomen, das in der ICD-11 von Dr. Jan Gysi neu beschrieben wird. Schamattacken sind intensive emotionale Ausbrüche, die plötzlich auftreten und von überwältigender Scham begleitet werden. Diese Episoden können auch durch scheinbar unbedeutende Auslöser hervorgerufen werden.

Während einer Schamattacke erleben Betroffene oft eine verzerrte Wahrnehmung ihrer selbst, in der sie sich als grundlegend fehlerhaft wahrnehmen. „Diese Scham ist ein anhaltend beeinträchtigtes Identitätsgefühl“ schreibt Gysi. Es kann ein Gefühl entstehen, als ob die ganze Welt sie beurteilen und verurteilen würde. Schamattacken bei kPTBS sind eine besondere Form der Dissoziation, bei der Betroffene starke Gefühle von Selbsthass, Selbstekel und Selbstbeschuldigung erleben. Diese Emotionen können das Gefühl verstärken, von anderen beobachtet oder bewertet zu werden. Häufig resultieren daraus selbstschädigende Impulse wie Alkoholmissbrauch, Bulimie oder andere Formen der Selbstverletzung. Alternativ kann es zu emotionaler Taubheit, Bewegungsstörungen oder Blackouts kommen. Mein persönliches Beispiel verdeutlicht, wie unerträgliche innere Anspannung durch familiäre Missachtung entstehen kann. Seit ich 18 Jahre alt war, wurde diese durch Bulimie verzweifelt über mehr als 10 Jahre gelindert.

Ohne Verständnis für die Ursachen und Mechanismen bleibt der Betroffene in einem belastenden Kreislauf gefangen.

WEGE, WIEDER IN BEZIEHUNG ZUM EIGENEN SELBST ZU TRETEN – PRAKTISCHE ANSÄTZE

Um den Weg zurück zu einem liebevollen und stabilen Selbstverständnis, vielleicht zum ersten Mal im Leben, zu finden, sind besondere Achtsamkeit, innere Kommunikation und Körperwahrnehmung wesentliche Elemente. Diese Ansätze ermöglichen es Traumabetroffenen, sich ihrer Schutzreaktionen bewusst zu werden und sie mit Sanftmut zu hinterfragen. Es fördert die Präsenz im Moment und hilft, emotionale oder somatische Trigger zu erkennen, bevor sie überwältigend werden.

Die innere Kommunikation, das achtsame Gespräch mit dem eigenen Trauma-Selbst, unterstützt den Prozess der Selbstakzeptanz. Indem man die inneren Anteile anerkennt, ihnen zugewandt begegnet und ihnen Raum gibt, wird der Weg zur Heilung geebnet. Dabei spielen auch die Körperwahrnehmung und das Körpergewahrsein eine zentrale Rolle.

Traumasensitive Achtsamkeit (nach David Treleaven) bietet Traumabetroffenen einen sicheren und einfühlsamen Rahmen, um sich selbst auf heilsame Weise zu begegnen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Achtsamkeitspraktiken berücksichtigt dieser Ansatz die spezifischen Bedürfnisse und Grenzen von Menschen mit traumatischen Erfahrungen. Der Fokus liegt darauf, im Hier und Jetzt präsent zu sein, ohne durch belastende Erinnerungen oder Zukunftssorgen überwältigt zu werden. Diese Praxis hilft, das Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment zu schärfen und ein Gefühl der Sicherheit zu fördern.

Das Konzept des Toleranzfensters, das die Bandbreite emotionaler und physiologischer Zustände, in denen sich eine Person reguliert und wohlfühlt, beschreibt, ist auch ein zentraler Aspekt traumasensitiver Achtsamkeit. Durch diese besondere Achtsamkeit können Betroffene lernen, ihr durch Trauma verengtes Toleranzfenster und somit geringe Belastungsgrenzen zu erweitern, um besser mit Stress und emotionalen Herausforderungen umzugehen.

Das Gewahrsein des eigenen Körpers und des Nervensystems sowie das langsame Erlernen der Körpersprache sind dabei von entscheidender Bedeutung. Durch gezieltes Üben und Ausüben der Fähigkeiten der Interozeption und Exterozeption werden die innere Sicherheit und ihr Handeln unterstützt.

Selbstbeobachtung ermöglicht es uns, uns gesund und sicher von den oft bedrohlichen Gefühlen fernzuhalten. Denn durch diese Distanz lösen sich die Identifikationen mit den Zuständen wie „Ich bin ein Schandfleck“.

Durch das Erlernen der Verlagerung der Aufmerksamkeit auf körperliche Empfindungen ist es möglich, frühzeitige Symptome von Stress, Triggerzuständen, beginnender Dissoziation oder Unwohlsein zu iden-

Wenn Scham nicht mehr schützt, kann sie durchschlagende Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen haben.

tifizieren und anzugehen, bevor sie zu überwältigenden Reaktionen führen. Das ist einer der Schlüssel zur Selbstregulation.

Somatische Übungen zielen darauf ab, die Verbindung zwischen Körper und Geist zu stärken, indem sie das Bewusstsein für körperliche Empfindungen und die Fähigkeit zur Selbstregulation fördern, im Körper verankerte Stressmuster zu erkennen und aufzulösen, was zu einer gesteigerten emotionalen sowie somatischen Resilienz und Stabilität führt.

EMPFEHLUNGEN FÜR ANGEHÖRIGE UND FACHPUBLIKUM IM UMGANG MIT SCHAM UND SCHUTZMECHANISMEN

Sensibilisierung für die komplexe Dynamik der Scham bei kPTBS ist ausschlaggebend. Wie dargestellt, kann traumabedingte Scham als ein nachhaltiger Überlebensmechanismus verstanden werden, der sich in vielfältigen Schutzreaktionen äußert. Indem wir dieses Verständnis vertiefen, können wir Betroffene einfühlsam unterstützen, ohne ungewollt retraumatisierend zu wirken.

Ich empfehle, Unterstützungsmöglichkeiten zu entwickeln, die die Betroffene befähigen, sich sicher und respektiert zu fühlen. Dazu gehört, ihnen Raum zu geben, in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten und ihre Grenzen zu achten. Ermutigen Sie sie, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten, was ihnen Sicherheit und Geborgenheit bietet.


Scham kann oft dazu führen, dass sich Betroffene in ihrer Identität und ihren Bedürfnissen an anderen ausrichten. Hier liegt eine weitere Chance: Anstatt sich von der Scham beherrschen zu lassen, können wir Wege finden, um diese Emotion als Möglichkeit zur Selbstreflexion und zum Wachstum zu nutzen. Indem wir Scham als Signal für nicht erfüllte Bedürfnisse begreifen, können wir beginnen, diese Bedürfnisse auf konstruktive Weise zu adressieren.

Eine grundsätzlich motivierende Perspektive bietet die Idee, dass jede Begegnung mit Scham auch eine Gelegenheit zur Heilung und Stärkung der Beziehung zum eigenen Selbst sein kann. Gemeinsam können wir an einer nachhaltigen Selbstregulation arbeiten, die es den Betroffenen ermöglicht, ihre innere Stärke zu entdecken und in Minischritten zu entfalten. So kann der Weg aus der Scham heraus zu einer Reise der Selbstentdeckung und des persönlichen Wachstums werden.

Nur „kleine Brötchen backen“, wie ich es als Mantra stets wiederhole.

Gabriella Rist
Coaching, Beratung, Wegbegleitung zur Selbstliebe und Selbstachtung
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