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Schulische Förderung hochbegabter Kinder

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hat Ende der 2. Klasse noch immer Probleme mit dem Zehnerübergang und rechnet nach wie vor mit den Fingern – das aktuelle Übungsblatt überfordert ihn völlig.

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hingegen rechnet schon sicher Sachaufgaben im Zahlenraum bis 1 000. Sie fragt die Lehrkraft bereits nach fünf Minuten nach neuen, „spannenderen“ Aufgaben.

©tourneeLehrer zu sein ist im Grunde genommen ein bisschen wie auf einer Bergtour: 25 Mann in der Truppe, zwei davon mit Gipsbein, vier Leistungssportler und die breite Masse irgendwo dazwischen. Auf halbem Weg stellt man fest, dass ein Kamerad trotz des wirklich marginalen Anstiegs schon aus der Puste ist, ein zweiter seinen Rucksack vergessen hat, man also im Grunde umkehren müsste, und der dritte kaum mehr in Sichtweite ist und bereits etwa einen Kilometer vorauseilt. Eigentlich müsste man Letzteren zurückrufen und ausbremsen. Schließlich soll die ganze Mannschaft mehr oder weniger zeitgleich am Ziel ankommen.

Der Bergführer steckt sichtlich in einer Zwickmühle, die jedoch den Schulalltag ganz gut illustriert.

Einerseits möchte man schwächere Schüler fördern, weil es der pädagogischen Grund- überzeugung widerspricht, sie „einfach auf der Strecke zu lassen“. Andererseits steht das Anrecht auf begabungsgemäße Förderung leistungsstarken Schülern gleichermaßen zu. Gerade im Hinblick auf die bildungspolitische Forderung nach „Inklusion“ ist jedoch die Gefahr gegeben, dass insbesondere die Bedürfnisse leistungsstarker Kinder aus dem Blickfeld geraten. Es gibt jedoch mehrere einfach umsetzbare Möglichkeiten, begabte Kinder im Schulalltag zu berücksichtigen.

Eine Methode, die gut in den regulären Schulalltag integrierbar ist, ist das sogenannte Enrichment (Heinbokel, 2006). Darunter subsummiert man Maßnahmen zur Anreicherung des individuellen Lernumfelds, sodass eine förderliche, anregende Lernumwelt für das Kind entsteht. Dazu stehen den Lehrkräften mehrere didaktische Methoden zur Verfügung. Bewährt hat sich beispielsweise die innere Differenzierung, worunter man die Anpassung von Lernstoff und -methodik an die individuellen Voraussetzungen der Kinder versteht.

Mit dieser Unterrichtsmethode, die zum Standardrepertoire jedes Pädagogen gehört, wird man starken wie schwachen Schülern gleichermaßen gerecht: Während schwächeren Schülern zusätzliche Übungsphasen ermöglicht werden, können sich begabte Schüler mit tiefer gehenden oder eventuell vorauseilenden Lerninhalten auseinandersetzen. Viele Schulbuchverlage bieten hierzu mittlerweile eigens konzipierte Förderhefte an, die komplexere Aufgabenstellungen zum jeweiligen Themengebiet beinhalten (z. B. Förderhefte des Westermann Verlags).

Sehr motivierend sind auch computerbasierte Lernprogramme (z. B. mauswiesel. bildung.hessen.de, www.schlaukopf.de.). Ist ein Kind früher mit den Aufgaben fertig, so kann es eigenständig Lehrplanthemen nach Interesse auswählen und vertieft bearbeiten.

Freie zeitliche Ressourcen im Unterricht können aber auch im Sinne sozialen Lernens genutzt werden: Leistungsstarke Kinder können hierbei als Tutoren den schwächeren helfen. Dabei gilt es jedoch zu beachten, diese Maßnahme nicht inflationär und nur bei entsprechend positivem Klassenklima anzuwenden. Sie birgt die Gefahr, dem Begabten eine Sonderrolle zukommen zu lassen, was nicht für jedes begabte Kind und dessen Klassenkameraden günstig ist (Preckel und Vock, 2013).

Sehr etabliert sind hingegen Freiarbeitsecken mit ansprechendem Lernmaterial, das die Kinder herausfordert. Das hierbei zur Verfügung gestellte Material muss nicht zwingend curriculare Inhalte aufweisen – im Gegenteil – der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt!

Egal ob Denk- und Knobelaufgaben, die das logische Denken fördern (z. B. Sudoku, Kakuro, Lük-Kästen), kreative Aufgaben (Anregungen findet man u. a. im Buch „Begabte Kinder individuell fördern – Fach Deutsch“) oder Projektarbeit (z. B. Wetterstation bauen und betreuen, Modell des Sonnensystems basteln) – hier kann man den Fokus ganz auf die Interessen des Kindes richten.

Die Förderung der Kinder kann aber auch im Sinne des Akzelerationsansatzes über die eigene Klasse hinaus erfolgen: Grundidee ist, begabte Schüler zeitweise in einer ihrer Begabung angemessenen Umgebung zu beschulen (Ziegler, 2018). Das klassische Beispiel hierfür ist die fachbezogene Hospitation im Unterricht höherer Jahrgangsstufen. Bei Mittel- oder Oberstufenschülern ist auch eine (zeitweise) Unterrichtsfreistellung denkbar, um diesen die Teilnahme an universitärer Lehre zu ermöglichen.

Ein weiteres Beispiel für eine akzelerative Maßnahme ist das Überspringen von Jahrgangsstufen. So wird es begabten Kindern in vielen Bundesländern ermöglicht, beispielsweise mit dem Zwischenzeugnis der 1. Klasse gleich in die 2. Jahrgangsstufe zu wechseln. Ein über den regulären Schulalltag hinausgehendes Element der Förderung begabter Kinder besteht im Besuch spezieller AGs oder Interessengruppen: Schach-AG, Philosophieren mit Kindern, LEGO-Robotik oder Schulorchester – die Palette hierbei ist sehr bunt gemischt.

Großen Anklang findet erfahrungsgemäß auch die Teilnahme an Wettbewerben (z. B. Känguru der Mathematik, Jugend forscht, Jugend musiziert ...), bei welchen die Kinder die Möglichkeit haben, sich mit Gleichaltrigen aus ganz Deutschland fachlich zu messen. Einen Überblick über verschiedene Wettbewerbe einschließlich differenziert nach Jahrgangsstufen/Fächern finden Sie auf der Homepage der Lehrerakademie Dillingen (Bayern): https://besondersbegabte.alp.dillingen.de/

Begabte brauchen Förderung – diese soll jedoch nicht in eine Art überambitionierten „Förderwahn“ ausufern. Grundlegend bei schulischer wie auch außerschulischer Förderung ist die Faustregel: „Weniger ist mehr“. Die Förderung soll Spaß machen, nicht Leistungsdruck und Stress verursachen. Das Kind soll nach wie vor Kind sein dürfen – mit all seinen Wünschen, Bedürfnissen, Stärken aber auch Schwächen.

Besonders problematisch ist, wenn für Eltern oder Lehrer der Leistungsaspekt singulär in den Vordergrund rückt und mit (zu) hohen Erwartungen verbunden ist. Gerade Kinder, die zum Perfektionismus neigen, tendieren zur Selbstüberforderung, weil Leistungen, die Eltern und Lehrer anfangs noch begeisterten, nun unter dem Etikett der Hochbegabung zunehmend als selbstverständlich hingenommen werden. Andererseits kann die übermäßige Betonung der Hochbegabung zu problematischen Attributionsmustern führen. So kommt es vor, dass (schulische) Erfolge fast ausschließlich auf die hohe Begabung zurückgeführt werden – andere Aspekte, wie etwa Anstrengung, gute Prüfungsvorbereitung, Lerntechniken o. Ä. spielen eine sehr untergeordnete Rolle.

Steigen dann die Leistungsanforderungen (z. B. aufgrund des Wechsels von der Grundschule aufs Gymnasium), besteht die Gefahr, dass sich die Kinder nach wie vor rein auf ihre Begabung verlassen und die Rolle aktiven Handelns (Anstrengung, gute Prüfungsvorbereitung ...) unterschätzen. Somit droht ein starker Leistungsabfall. Unter diesen Gesichtspunkten ist es umso wichtiger, bereits im Grundschulalter auf gutes Arbeits- und Lernverhalten Wert zu legen.

Gelungene Förderung zeichnet sich durch das Hand in Hand der Förderung solcher Stützfaktoren wie auch der kognitiven Herausforderung des Kindes aus. Erstere ist jedoch im Unterricht relativ einfach umsetzbar, z. B. indem man vom Kind erwartet, bei aller Begabung auch Routineaufgaben ohne Meckern sorgfältig zu Ende zu führen oder sich genauso wie alle anderen an Gesprächs- und Arbeitsregeln zu halten.

Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass begabten Kindern Förderung zusteht. Gelingen kann diese aber nur, wenn Eltern und Lehrer gemeinsam an einem Strang ziehen, beide ihren Beitrag leisten und das Kind mit seinen Stärken und auch Schwächen annehmen.

Dabei ist jedoch Folgendes zu beachten: Der letzte Satz gilt für jedes einzelne der 25 Kinder in der Klasse!

Dr. phil. Alexander Prölß Dr. phil. Alexander Prölß
staatlicher Schulpsychologe, Beratungsrektor, Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT), Hypnosecoaching, Lehr- und Forschungstätigkeiten im Bereich „Hochbegabung“ an der Technischen Universität Kaiserslautern und am L‘Institut de formation de l‘Education nationale (Luxemburg)
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