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Transgenerationales Trauma


Wenn ein unverarbeitetes Trauma von Generation zu Generation weitergegeben wird, spricht man von transgenerationalem Trauma. Wenn in einer Familie über Generationen hinweg ein Muster dominiert und dafür kein äußerer Einfluss maßgeblich erscheint, ist ein systematischer Lösungsansatz sinnvoll. Die Weitergabe von Traumatisierungen kann in einen Teufelskreis führen.

Können psychische Traumata im Alter bzw. in der Phase des Älterwerdens eine Rolle spielen?

Psychische Krankheiten haben in unserer Gesellschaft noch immer ein Stigma, weshalb betroffene Personen meist erst spät Unterstützung suchen. Das kann im Falle von psychischen Traumata erhebliche Folgen haben.

So kann es z. B. in der Kindheit zu Bindungs- und Entwicklungstraumata kommen, wenn kindliche Bedürfnisse nicht beachtet oder psychische und körperliche Gewalt ausgeübt wurden. Wenn diese Erfahrungen nicht aufgearbeitet wurden, kann es bei Betroffenen zu posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) kommen.

Auch andere nicht verarbeitete Erlebnisse, die mit großer Angst, Schmerz oder Schreck verbunden waren, können eine PTBS nach sich ziehen. Die aktuelle Studienlage zeigt, dass Menschen mit einer PTBS im Alter bis zu doppelt so häufig demenzielle Erkrankungen aufweisen.

Betroffene Menschen durchleben unerkannte und nicht bearbeitete (integrierte) Traumen und/oder die Erinnerungen daran in sog. Flashbacks. Der Mensch durchlebt damit die traumatischen Erinnerungen immer wieder. Solche Flashbacks können z. B. durch Gerüche, Geräusche, Umgebungssituationen ausgelöst werden und die Betroffenen damit schlagartig in die ursprüngliche traumatische Situation zurückversetzen.

Die traumatisierte Person kann dann zunächst nicht erkennen, dass sie im „Hier und Jetzt“ eigentlich sicher ist. Durch Gefühle der Unruhe, Verzweiflung und Scham ist es vielen nicht möglich, sich mitzuteilen und es kann zu Vereinsamung und sozialem Rückzug kommen. Auch die Angst, geliebte Menschen mit dem eigenen Trauma zu überfordern, kann ein Grund für Rückzug und Entfremdung sein.

Was passiert, wenn ich mich einem Trauma nicht stelle und versuche, es zu verdrängen?

Wenn wir uns unseren Problemen und Traumata nicht stellen und unsere inneren Wunden z. B. durch Essen, Drogen oder Kaufrausch betäuben, wird das ursprüngliche Trauma immer wieder „anklopfen“: Die Angst bleibt! Unruhe und Hilflosigkeit führen meist zu Schlafstörungen, Gereiztheit, Grübeleien und Isolierung. Dieser Teufelskreis kann durch professionelle Unterstützung unterbrochen werden.

Im Alter kann es zudem sein, dass Strategien, die bisher geholfen haben, mit einem Trauma und den Folgen zu (über-) leben, nicht mehr greifen. So kann z. B. der Verlust der gewohnten Umgebung (Umzug in ein Pflegeheim) Ängste, Ohnmachtsgefühle und Hilflosigkeit hervorrufen. Genau diese Gefühle traten vermutlich auch in der traumatischen Situation auf, z. B. bei sexuellem Missbrauch, Kriegserfahrung, Vernachlässigung, körperlicher und/oder psychischer Gewalt.

Eine erneute Grenzüberschreitung im Pflegekontext kann dafür sorgen, dass die traumatisierte Person sich wieder genauso fühlt wie in der zugrunde liegenden traumatischen Situation und dadurch panisch und ängstlich reagiert. Dieses Gedächtnis wird auch als Leibgedächtnis bezeichnet und ist stärker und unmittelbarer als unsere bewussten Erinnerungen.

Welche Wege gibt es, mich auch im höheren Alter meinen Traumata zu stellen?

Es ist nie zu spät, Unterstützung anzunehmen, um das traumatische Erleben zu integrieren und leichter werden zu lassen. Ausradieren kann eine Traumatherapie ein Trauma nicht, aber es kann neu bewertet werden.

Der traumatisierte Mensch kann dadurch einen bedeutenden Zugewinn an Lebensqualität und Lebensfreude erreichen.

Betroffene müssen in ihrem Erleben gewürdigt werden und sich verstanden fühlen. Ziel ist, den Betroffenen zu vermitteln, dass sie nicht alleine sind, dass jemand an ihrer Seite ist und sie beschützt - anders als damals, als sie alleine und ausgeliefert waren und/oder alles alleine tragen mussten.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen einem Trauma und demenzieller Erkrankung?

Die Forschung hat nachgewiesen, dass Menschen mit Traumata ein doppelt so hohes Risiko haben, an Demenz zu erkranken, wie geheilte oder nicht traumatisierte Menschen.

Alle drei Sekunden erkrankt weltweit ein Mensch an Demenz. Bis 2050 wird es in Deutschland rund drei Millionen demenziell veränderte Menschen geben, die Pflege und Betreuung benötigen.

Zurzeit übernehmen die Angehörigen in 70 % der Fälle die Pflege selbst. Diese Arbeit umfasst durchschnittlich über 45 Wochenstunden; also mehr als eine Vollzeitbeschäftigung. Das Verhältnis zwischen Pflegendem und Angehörigem ist oft gestört, weil die stark beanspruchende Pflege im fortgeschrittenen Verlauf von Gewaltausbrüchen, Kooperationsverweigerung und dem nicht mehr Erkennen des Angehörigen durch die demenziell veränderte Person geprägt ist.

Ressourcen stärkende Maßnahmen wie Auszeiten, Austausch in einer Selbsthilfegruppe oder ein Spaziergang im Grünen sind essenziell für die Pflegekräfte. Die zu Pflegenden fühlen sich ihrerseits unsicher, ohne Macht und Kontrolle über das, was ihnen widerfahren ist bzw. auch was mit ihnen gemacht wird. Wenn Grenzen überschritten werden und das bedrohliche Gefühl wieder lebendig wird, ist es wichtig, Sicherheit und Stabilität zu vermitteln. Die Bedingungen müssen immer individuell-biographisch gestaltet werden, um dem Sicherheitsgefühl bestmöglich zu entsprechen.

Traumatisierte Personen befinden sich immer in Über- oder Untererregungszuständen, weil das Erlebte nicht verarbeitet und integriert werden konnte. Dadurch kommt es zu einer intensiven Beanspruchung des zuständigen Hirnareals und einer permanenten Hormonausschüttung, die zu zerebralen Schäden führen kann, die die Entstehung demenzieller Erkrankungen begünstigen können.

Bereits durch kleine Aufmerksamkeiten und Maßnahmen kann es zu einer Verbesserung der traumatisiert und demenziell erkrankten Person kommen. Wenn wir Gefühle ernst nehmen, Grenzen würdigen und Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Sicherheit ermöglichen, können wir dazu beitragen, dass wieder mehr Lebensfreude, Ruhe und Zufriedenheit empfunden werden. Gleichzeitig können wir verhindern, dass Traumata reaktiviert werden.

Kooperation mit dem Krankenhaus Bernkastel-Kues in Wittich

Ich habe in Kooperation mit dem Verbundkrankenhaus Bernkastel-Kues in Wittich/Rheinland-Pfalz den Video-Podcast „Demenz verstehen“ über den Zusammenhang von Trauma und Demenz aufgenommen. Die Klinik verfügt über eine Geriatrie, wo u. a. auch demenziell veränderte Menschen behandelt werden. Meine PowerPoint-Präsentation und ein Interview mit dem geriatrischen Klinikleiter, Andreas Höcker, zum Thema transgenerationale Traumatisierung finden sich ebenfalls auf meiner Website.

Jede Generation gibt der nächsten emotionale Erfahrungen auf verschiedene Art und Weise weiter. Positive wie auch negative prägende Erfahrungen werden weitergegeben, wie z. B. die Angst vor Spinnen, Schlangen, Feuer und Dunkelheit, die die Menschen an ihre Kinder weitergaben. Die archaischen Muster emotionaler Reaktion auf bestimmte Auslöser sind archaische Traumaschemata.

Sichere Bindung ist für uns Menschen überlebenswichtig

Erfahrungen zeigen, dass Mütter, die therapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen, oft als Grund angeben, ihre eigenen Probleme nicht an ihre Kinder weitergeben zu wollen. Die transgenerationale Weitergabe soll gestoppt werden. Den Müttern fällt es meist nicht schwer, ihre Kinder mit Lebensmitteln zu versorgen. Doch manche sind zwar physisch anwesend, aber emotional im Umgang mit ihren Kindern nicht präsent. Einige sind dissoziiert und reagieren mit Attacken auf das Kind. Wenn aber emotionale Begegnungen kaum stattfinden, geht es beiden, Mutter und Kind, schlecht.

Mütter mit dissoziierten, ängstlichen sowie angreifenden Erfahrungen und Verhaltensweisen haben oft Kinder mit dissoziiertem Bindungsverhalten. Ein Kindheitstrauma wird hier in der Mutter-Kind-Beziehung transgenerational weitergegeben.

Wenn Traumatisierungen nicht therapeutisch aufgearbeitet und verarbeitet werden, besteht die Gefahr, dass Mütter durch ihre Kinder getriggert und an ihre Traumatisierungen erinnert werden. Es kann für traumatisierte Mütter das Schlimmste sein, mitanzusehen, wie das eigene Kind das normale Kindsein auslebt. Statt sicherer Bindung treten Hass und Aggressionen auf, die später Schuldgefühle nach sich ziehen können. Die Mutterrolle ist für manche qualvoll und die Dissoziation das Mittel der Wahl.

Ohne Informationen über die Spätfolgen von Traumatisierungen und ohne eine Traumatherapie ist eine emotionale Bindung von Mutter und Kind ausgeschlossen. Sichere Bindung ist für uns Menschen überlebenswichtig. Unsere Psyche ist je nach Ausprägung unserer Bewältigungsstrategien, Ressourcen und Resilienz temporär sehr belastbar. Wenn aber Vernachlässigung, Trauma oder Stress für unser System zu groß werden, dissoziieren wir und schneiden uns von unseren Erinnerungen und Gefühlen und unserem Körper ab, damit wir nicht spüren, was uns angetan wurde. Erst wenn die eigene Geschichte professionell beleuchtet wird, gibt es die Chance auf Heilung.

Kriegskinder

In meiner Praxis erlebe ich auch ältere Patienten, die mit ihrer Lebensgeschichte als Kriegskinder und auch Kriegsenkel kommen, um mit etwas in sich abzuschließen, bevor sie sterben.

Kriegskinder mussten enorme emotionale Belastungen bewältigen, Themen wie Tod und Verwundung, Kriegsverbrechen, Vertreibung, Hunger, Zerstörung, fehlende Väter und die mit dem Überleben beschäftigten Mütter miterleben. Kriegsenkel tragen oft das Traumamaterial der Großeltern, also der Eltern der Kriegskinder, mit sich.

Verfolgung, Vernachlässigung und Vertreibung

Die Soziologin Uta Rüchel (*1967) fragt in ihrem Buch „Verschwiegene Erbschaften. Wie Erinnerungskulturen den Umgang mit Geflüchteten prägen“ nach den langen Schatten von Flucht und Vertreibung nach 1945. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Haltung gegenüber Geflüchteten und unserer persönlichen und gesellschaftlichen Erinnerungen an Flucht und Vertreibung? Sie vertritt die These, dass, wer nicht angekommen ist, andere auch nicht willkommen heißen kann.

Adoptivkinder

Heute wissen wir, dass die Loyalität eines Kindes zu den leiblichen Eltern sehr ausgeprägt ist, auch wenn die Beziehung von Gewalt und Vernachlässigung geprägt ist: Das Kind hält daran fest, bis zur Selbstaufgabe oder Selbstvernichtung.

Adoptivkinder stammen in der Regel aus traumatisierten Familien und haben durch ihre Angehörigen Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung erfahren, sonst wären die meisten keine Adoptivkinder. Es wird erwartet, dass sie sich in den neuen, „normalen“ Familien „normal“ entwickeln. Am besten sollen die Altlasten nicht mehr existieren und keinen Einfluss mehr auf die neue Familie haben. Die adoptierten Kinder können den alten traumatisierten Teil aber nicht wie ein Kleidungsstück ablegen. Sie sind Opfer ihrer Vergangenheit und finden bei den Angehörigen meist wenig offenes Gehör, weil doch jetzt alles viel besser ist.

Wie erfolgt die Trauma-Transmission?

Wie wird emotionales Belastungsmaterial weitergegeben? Das bewusste Hinschauen ist wichtig, damit wir unser emotionales Erbe nicht unbearbeitet an unsere Kinder weitergeben. Durch die Erziehung werden Erziehungsstile und -praktiken genau wie unbewusste Konzepte transgenerational weitergegeben: Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs haben bei den Generationen, die damals Kinder oder Jugendliche waren, Spuren hinterlassen. Diese Erlebnisse ziehen sich meist durch die gesamte Biografie. In vielen Familien waren die Väter traumatisiert oder kamen nicht aus dem Krieg zurück.

Bei Frauen, Männern und Kindern kam es zu Gefühlen von Angst, Todesangst und Ohnmacht. Wut, Trauer, Scham, Hoffnungslosigkeit und Schuld wurden verdrängt oder abgespalten. Diesen Stress können Erwachsene noch einordnen, Kinder sind damit vollkommen überfordert.

Für Menschen, die im Krieg Traumatisierung erfahren haben, war es ein „Trigger“, die nachfolgende Generation sorglos und freier aufwachsen zu sehen, weil sie durch diesen „Spiegel“ an ihre traumatische Zeit erinnert wurden. Schlagende Väter waren nach dem Krieg verbreitet, weil man die „schwarze“ Erziehung für richtig hielt und weil die Väter sich mit ihren erlittenen Traumata vermutlich nicht selbst regulieren und beruhigen konnten.

Nicht verarbeitete Traumatisierungen werden durch Vorleben nonverbal an die Kinder der traumatisierten Angehörigen weitergegeben – das ist auch über mehrere Generationen möglich. Sich Prozesse bewusst zu machen und authentisch mit sich und seiner Vergangenheit umzugehen, ist essenziell, um die eigene Geschichte aufrichtig zu erleben und verändern zu können. Erst in den letzten Jahren wurden Krieg und Kriegsfolgen im therapeutischen Setting mehr berücksichtigt.

Wie kann man extrem belastende Erlebnisse überleben?

Der Holocaustüberlebende Viktor Frankl (*1905 bis 1997) schrieb das Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ – Es erschien bereits 1946.

Der österreichische Psychiater schildert seine Erlebnisse und Erfahrungen in deutschen Konzentrationslagern, unter anderem in Auschwitz. Die zentrale Botschaft Frankls ist, dass es möglich ist, auch unter inhumansten Bedingungen einen Sinn im Leben zu sehen.

Frankls Vorstellung, dass er in der Zukunft Vorlesungen über die Auswirkungen des Konzentrationslagers auf die Psyche halten wird, halfen ihm, zu überleben. Er stellte fest, dass die KZ-Insassen, die jemanden hatten, der auf sie wartet, bessere Überlebenschancen hatten. Und: Die Menschen müssen selbst auf den Sinn ihres Lebens kommen.

 

 

Henrike Ortwein
Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Praxis in Hamburg

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Fotos: ©aletia2011, ©JOE LORENZ DESIGN, ©Mandicjovan