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Hilfe ... meine Patienten werden älter ... na und! Teil 2

Alt – aber nicht veraltet !

Die meisten Menschen möchten gerne alt werden, sehr alt, nur alt wollen sie nicht sein. Sie, wir, auch ich, haben nicht wirklich ein Konzept, eine Idee davon, was alt sein, älter werden tatsächlich bedeutet. Wir haben keine große Erfahrung mit dem Alter. Die Menschen in unserem Land wurden nämlich noch nie so alt wie heute. Und vor allem nicht so viele von ihnen. Rund die Hälfte der Menschen in Deutschland ist älter als 55 Jahre, ca. 40 % älter als 65. Und weil das Alter gleichermaßen Ziel ist, so wie es in seinem Ergebnis erschreckend scheint, befassen sich die meisten Menschen nicht wirklich damit.

Die einen leben einfach so weiter wie bisher. Stückweise über die Jahre reduzieren sich Ansprüche und Möglichkeiten, dafür verdoppeln sich die Anzahl der Medikamente im Korb in der Küche und die der Leiden. Die anderen versuchen, dem Alter aus dem Weg zu gehen, indem sie sich beweisen, was sie „noch“ alles können. Nur nicht alt erscheinen. Die Pillen schluckt man, wenn einen niemand sieht.

Alt bedeutet für viele Menschen in unserer einerseits schnell alternden, andererseits dem Jugendwahn verfallenen Gesellschaft Ende, Siechtum, Tod. Und wir Berater (immer m/w/d) und Coaches, die sie unter Umständen aufsuchen, bedienen ebenfalls ein Bild der Jugend oder besser gesagt: Die Maßstäbe, die wir anlegen, sind die einer anderen Generation. Die „Beweispflicht“, mithalten zu können, liegt bei den Klienten. Vielleicht aber wollen diese stereotype Anforderungen nicht mehr erfüllen, wie meine Gesprächspartnerin es formuliert hatte. Heißt das, sie will einfach „nur“ alt sein oder könnte es sein, dass sie zu anderen Maßstäben finden will, die für sich genommen, genauso wichtig und richtig sind in unseren Menschenlebensabschnitten wie alle anderen auch?

Ganz wichtig im Leben sind Ernährung und Bewegung. Der Mensch ist zum Laufen geboren, nicht zum Sitzen. Aber genau das tun wir, und zwar viel zu viel. Sport, insbesondere Ausdauersport, aber auch der Muskelaufbau und ein nur angemessenes Maß an Stress sind wichtige Kriterien dafür, angenehm und gesund alt zu werden – und nicht nur immer älter.

Vor Jahren hörte ich vom Ergebnis einer Untersuchung, die zu dem Schluss gekommen war, dass die besten Autofahrer die im Alter zwischen 40 und 50 Jahren seien, aus dem simplen Grund, dass in dieser Lebensspanne eine optimale Verbindung von noch jugendnaher Energie und Flexibilität auf Reife und Erfahrung stießen. Fähigkeiten, mit denen man nachlassende Kräfte perfekt ausgleichen könne.

Wer nun also rechtzeitig beginnt, seine Ausdauer zu trainieren, die Kräfte zu stärken, seinen Geist wachzuhalten, seinen Stresslevel zu reduzieren und daran zu arbeiten, mit sich im Reinen zu sein, wer sich gut und gesund ernährt und den Konsum von Drogen aller Art im Rahmen zu halten imstande ist (dazu gehören auch Kaffee, Tee, Cola, Schokolade, Alkohol und Rauchwaren), der hat eine gute Chance, den eigenen Alterungsprozess zu verlangsamen.

Der kann dann auch in höherem Alter noch aktiv sein, was immer das für ihn bedeutet. Das ist nämlich sehr individuell und mit 60 mit anderen Schwerpunkten belegt als mit 85. Auch hier gibt es ein weites Betätigungsfeld für alle Menschen, die mit nicht mehr jungen Menschen in Therapie und Beratung arbeiten.

„Ja“, so höre ich eine Stimme aus dem OFF, die nach einem alten Herrn klingt, der einmal zu mir gesagt hat: „Ich war immer irgendwie Direktor. Und jetzt soll ich einfach aufhören und gar nichts mehr sein? Niemand?“ „Ja“, würde ich ihm heute aus der Distanz von Jahrzehnten gerne zurufen, „sei ein Niemand. Es ist wunderbar, ein Niemand zu sein. Keine Belastungen mehr, niemand, der etwas von einem will, nichts beweisen müssen, keine Stellung halten, im übertragenen und im Wortsinn – einfach sein, was und wer du willst. Du kannst doch immer noch als Experte ins Ausland gehen, eine Lehrtätigkeit in deiner Versicherung übernehmen. Du bist frei.“

Aber davon einmal ganz abgesehen, dass ich damals nichts gesagt habe, weil das Thema wirklich weit weg von mir lagt: Er hat mit dieser Erinnerung einen wunden Punkt getroffen, auch bei mir, heute, unvorstellbare 35 Jahre später. Nun bin ich zwar nie Direktorin geworden, nichtsdestotrotz war ich aber auch ein typisches Ergebnis meiner familiären Erziehung, in der Leistung viel und Nichtstun wenig gilt, protestantisch arbeitsam eben.

Mir wurde klar, dass diese Einstellung über Jahre auch meine Lebenseinstellung, auch meine Beratungstätigkeit beeinflusst hat, natürlich. Wenn vor ein paar Jahren jemand zu mir gekommen wäre, mit ebendiesen Fragen zum Älterwerden und dem Leben damit, dann hätte ich lediglich aus meinem vergleichsweise „jugendlichen“ Erfahrungsrepertoire und den bekannten Konzepten, die sich in der Regel an viel jüngeren Menschen orientieren, gehandelt.

Ich kann heute verstehen, dass diesem alten Herrn die Zeit nach dem Eintritt des Ruhestands als der Vorhof zur Hölle vorgekommen sein muss, umso schlimmer, als dass er keinen Plan hatte und es augenscheinlich niemanden gab, der einen mit ihm hätte entwickeln können. Dabei hätte doch das Raus aus dem ewigen Hamsterrad als große Chance gelten können. Endlich einmal das zu tun, was einem Freude macht, auf welcher Ebene und in welchem Umfang auch immer. Dazu muss man sich jedoch mit sich, seinen Möglichkeiten, Wünschen, Fähigkeiten und auch den eigenen Grenzen auseinandersetzen – und den Partner rechtzeitig mitnehmen. Die Frage ist, wie und wann?

Das Wann ist eigentlich gar nicht so schwer. Immer, zeitlebens können wir uns fragen, ob dieser unser Weg – noch – der richtige ist, ob man ergänzen kann oder reduzieren, ob man noch mehr lernen möchte oder von seinem Wissen abgeben.

Schwieriger ist die Frage nach dem Wie. Das herauszufinden, ist manchmal komplizierter. Aber auch hier ist es heute möglich, Unterstützung zu finden. Nicht für jeden Menschen ist jedes Ziel das gleich richtige und passende. Wer bislang stets in übergeordneter Position tätig war, wird vielleicht nicht mit einer völlig untergeordneten ehrenamtlichen Arbeit glücklich werden. Das könnte Stress bedeuten – krank machenden Stress – nur weil die Maß- stäbe in der Beratung falsch angelegt worden sind. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Wobei es hier natürlich für alle Menschen, die mit anderen Menschen arbeiten, die größte Herausforderung ist, sich selbst freizumachen von Wertmaßstäben und Zuordnungen, die nur wieder begrenzen.

Aber darüber hinaus können, müssen, dürfen wir in unserem Beruf auch die Chance ergreifen, dass zusätzlich zu bereits bekannten Problemfeldern und Aufgabengebieten neue hinzukommen, die sich mit dem Älterwerden befassen, und die mit neuen Blickwinkeln über das sehr schmale Spektrum an mit „Jugend“ verbundenen Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten hinausgehen.

Für eine Klientin übrigens war die schwerste Aufgabe nicht die, etwas anderes als bisher zu tun. Darauf hatte sie sich lange vorbereitet und sowieso öfter in ihrem Leben den Weg gewechselt. Die Frage, die sich ihr stellte, war die nach einem Wertmaßstab: Ist das quasi ehrenamtliche Tun im Familien- und Freundeskreis, also das nicht vergütete Coaching gleichwertig zum bezahlten?

Wo positioniere ich mich? Wann darf ich mir sagen: genug für heute. Jetzt kommt Sport, Spiel, Spannung? Wann ich will, wie ich will? Neue Perspektiven mit eigenem Wertmaßstab?

Vor vielen Jahren hatte ich von einer Inderin gehört, dass in den früheren Zeiten und manchmal auch heute noch, hochstehende Industrielle oder Manager in den 50ern ihren Platz räumten. Ganz bewusst und mit Plan und Ansage. Sie wandten sich dann neuen Aufgaben zu, manche machten eine Pilgerreise, andere wurden sogar Mönche und verließen ihre Familie, andere betätigten sich auf hohem Niveau ehrenamtlich oder blieben als Berater am Ball, oder, oder.

Nun kann sich solche radikalen Schnitte nicht jeder Mensch vorstellen und leisten. Schon gar nicht in Indien. So müssen dort auch heute rund 90 % aller über 60-jährigen in Vollzeit arbeiten.

Ein Rentensystem wie das unsere sucht man vergebens. Und auch hier in unserem Land ist die Frage, was man nach Eintritt des offiziellen Renteneintrittsalters tun möchte, nicht automatisch ganz auf das Wohlbefinden ausgerichtet, sondern manchmal Notwendigkeit. Aber die Idee, dass es eine Zeit gibt fürs Lernen, eine fürs Schaffen und eine fürs Soziale und auch für das eigene Wohlgefühl, ist eine sehr schöne, wie ich finde, aber auch eine, mit der man sich Zeit seines Lebens auseinandersetzen sollte.

Ich frage mich, wie es in unserer Gesellschaft geschehen konnte, dass aus einer notwendigen Erwerbstätigkeitsphase gleichermaßen ein Wertmaßstab an sich wie auch ein eigentlich gehasster Lebenszeitraum werden konnte, der darüber hinaus nur Menschen in einem ganz bestimmten Lebensabschnitt zugestanden wird. Vorher, also wenn man jung ist, heißt es: Mache du erst einmal die Schule zu Ende, lerne etwas, geh an die Schippe, dann können wir weiterreden.

Später, also spätestens ab 60: altes Eisen. Ich frage mich weiter, wie es wohl war in den alten Zeiten, in denen die Massen schufteten bis zum Umfallen, oft genug im Wortsinn, während der Adel es als Privileg, als geachtetes Privileg, ansah, nichts tun zu müssen, manchmal genau so buchstäblich, und sich niemand dafür entschuldigte. Arbeit, besonders körperliche, galt als Makel.

Beantworten konnte ich mir diese Fragen bisher noch nicht.

In meinen Seminaren zum Thema Ruhestandsplanung ermuntere ich die Teilnehmenden, sich auf eine eigenwillige Weise vorzustellen. Sie füllen drei oder vier Kärtchen mit jeweils einem Begriff aus, der sie beschreibt: Rentner, Oma, Angestellte, Neugierige, Erwartungsvolle, Sportler, Mutter, Vater ... Ich sammle diese Kärtchen ein und lese dann jeden Begriff (oft kommen sie mehrfach vor) einmal vor und bitte alle Teilnehmenden darum, sich zu erheben, wenn sie sich angesprochen fühlen, unabhängig davon, ob sie diesen Begriff persönlich erwähnt hatten.

Ganz abgesehen davon, dass es eine feine sportliche Übung ist, stellen stets alle Teilnehmenden fest: Aha, ja, das bin ich ja auch, daran habe ich gar nicht gedacht. Mit dieser Erkenntnis lässt es sich gut arbeiten. Welches sind meine individuellen Möglichkeiten? Je mehr ich von mir weiß, desto mehr Ressourcen, desto mehr Alternativen habe ich. Und je mehr ich über mein Gegenüber erfahre, desto besser kann ich es beraten oder ihm helfen.

Welche Rollen sind vorstellbar? Welche passen? Wo gibt es Stolperfallen? Denn eines ist ja klar: Konditionierungen, Erziehung, ja auch Konventionen, die sich nicht einfach abschütteln lassen, Ängste, Erfahrungen, die Familie, die Beziehungen spielen wichtige Rollen bei der Frage nach der jeweils möglichen eigenen Rolle und den persönlichen Möglichkeiten und Grenzen. Die finanziellen Aspekte wollen berücksichtigt sein, und ja, die Patienten und Klienten sind älter geworden und manche von ihnen alt, auch die Frage nach körperlichen Grenzen darf nicht außer Acht gelassen werden, wenn wir uns mit ihnen wieder einmal Gedanken darüber machen, was sie nun und in Zukunft mit ihrer Zeit anfangen wollen.

Was und wer bin ich? Welchen Weg sehe ich persönlich vor mir?

Viele Menschen ab Mitte 50 stellen sich diese Fragen. Können wir ihnen bei der Beantwortung helfen? Als ich begann, mich mit dieser Frage zu beschäftigen, vor einigen Jahren, musste ich erst die Sorge vor dem mentalen Tor – Endstation Alter – loswerden. Klar, ich wurde älter, ich würde alt werden, so ich denn nicht jung sterbe, was ich nun auf gar keinen Fall wollte. Ich finde das Leben schön und ich bin dankbar für dieses Leben, das, wie ich finde, sehr gnädig mit mir umgegangen ist.

Es mag Menschen geben, die dieses an meiner Stelle anders sehen würden, ich aber bin – meistens – sehr zufrieden und dankbar. Und ich habe Ziele und Pläne, Ängste überwunden und bin neugierig. Das waren meine Voraussetzungen dafür, mich auf eine neue Klientel einzulassen: auf die nicht mehr jungen Menschen und auf die älteren und alten.

Ich rate meinen Klienten dazu, sich immer wieder im Leben mit sich und dem eigenen Platz in der Gemeinschaft der Familie und Freunde, aber auch in der Gesellschaft auseinanderzusetzen und sich gegebenenfalls einen eigenen neuen zu suchen, eine Rolle, die zu ihnen passt. Denn bewusst ausgesuchte und sich selbst bewusst, also selbstbewusst, nach außen getragene Lebensmodelle sind sichtbar und man selbst somit auch.

Wir Menschen sind leider oft tragisch abhängig von gesellschaftlichen Festlegungen und Vorurteilen. Und plötzlich, über Nacht sind wir 65+ und in Rente und unter Umständen von Stress mehr geplagt als zuvor.

Jeder Mensch ist ein Individuum und sollte sich daher im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen eigenen Weg suchen – und finden. Glauben Sie mir: Es gibt immer einen Weg! Nur manchmal benötigt man dabei Unterstützung.

Eine Frau, Mitte 70, erzählte mir, dass ihr Mann immer noch viel beruflich unterwegs sei, er springe immer noch gern ein, wenn wieder einmal jemand fehlt. Und irgendwie erwartete er, dass seine Frau ihn weiterhin begleitet, wie sie es bald 50 Jahre lang gemacht hatte – fraglos, immer an seiner Seite. Nun wollte sie aber nicht mehr. Es wurde ihr zu viel, sie sehnte sich nach einem ruhigeren Leben für sich, ein Leben zu Hause, Freunde besuchen, Kinder, Enkel, Sport.

Sie erzählte mir, dass ihr die Anforderungen, die ihr früher normal erschienen waren, nun Stress bereiten würden und schlaflose Nächte.

Ihr Mann war irritiert, beleidigt, ließ sie das spüren – was zu noch mehr Stress führte und nach bald 50 Jahren Ehe zu Beziehungsproblemen. Um mit ihm reden zu können, musste sie sich erst einmal mit sich selbst, mit alten Mustern und neuen Wünschen und mit ihrer eigenen Position befassen.

Das machte sie und dann redete sie mit ihm, machte ihm klar, worum es ihr ging, und setzte sich durch – aber so, dass auch er mitgehen konnte mit ihren Plänen. Nun begleitet er sie öfter zu ihren Veranstaltungen in der Stadt, manchmal fährt sie weiterhin mit ihm. Und die Rede ist von einer gemeinsamen kleinen Reise, nicht mehr so weit weg, aber eben gemeinsam und ohne irgendwelche Aufgaben dahinter.

Perfekt betreut werden ist nicht alles

Stellen Sie sich vor, zu Ihnen kommt eine Patientin, etwas älter als Sie selbst, gerade um so viele Jahre, dass sich Ihre Lebensmodelle unterscheiden. Nun kommt sie aber gar nicht primär um ihrer selbst willen. Es geht vielmehr um einen alten Mann, viele Jahre älter als sie beide. Sagt Sie – aber stimmt das? Oder geht es vielleicht doch um die Patientin selbst, um ihre Lebensplanung, ihre Ängste, ihr Selbstverständnis und das Bewusstsein ihrer selbst, das endlich nach außen will, leben will?

Das ist zunächst gar nicht so eindeutig. Der alte Herr ist perfekt versorgt. Alles, was das Gesundheitssystem, die Pflegestufe, eine professionelle Planung und sorgende Kinder tun können, wird getan. Er kann in seiner Umgebung bleiben. Wo also liegt das Problem? Ihre Patientin findet alles großartig, bis auf die Tatsache, dass genau diese exquisite Pflege in ihren Augen dreierlei bedingt:

Zum einen wird dem Mann der Eindruck vermittelt, alles dreht sich um ihn – denn jede Anordnung an die Therapeuten, die Reinigungskräfte, die Pflegenden, die Familie bezieht sich auf das, was dem Pflegebedürftigen guttut. Dieser muss überhaupt nicht mehr selber handeln, eigene Entscheidungen treffen. Jeder, der einmal sehr lange Urlaub gemacht hat oder in einer längeren Reha war, weiß, was Rundumbetreuung mit einem macht: Sie macht satt und faul. Das eigene Engagement verkümmert.

Ihre Patientin macht sich zudem Gedanken über die wichtigen Punkte: sich Zeit nehmen und Respekt. Diese Aspekte hält sie für besonders wichtig, wenn es darum geht, ihr Gegenüber als erwachsenen Menschen zu betrachten, vielleicht mit Beeinträchtigungen belastet, aber ein Mensch.

Die perfekte Pflege ist ihr da zu wenig, Einfluss auf die Gesamtsituation hat sie jedoch von allen Beteiligten am wenigsten. Zum anderen hat Ihre Patientin, die den alten Herrn sehr schätzt, nicht vor, sich selber so weit hinten anzustellen, nur damit es dem Mann gut geht.

Ist sie einfach nur neidisch oder missgünstig? Nimmt sie sich zu wichtig? Sieht sie Probleme, wo keine sind? Oder muss sie erst ihren eigenen Platz für sich selbst finden? Hat sie Angst, die durch den Umgang mit noch Älteren für sie spürbar wird? Oder sollte sie sich zurückziehen und sagen: nicht meine Baustelle? Oder, oder, oder?

Was raten Sie Ihrer Patientin? Wie können Sie ihr helfen? Das Thema ist komplex und natürlich gibt es keine einfache schnelle Antwort. Was ich an dieser Stelle aufzeigen möchte, ist, dass jede Lebenssituation, jede Lebensstufe ihre eigenen Herausforderungen beinhaltet, die wir in Beratung und Behandlung nur dann positiv angehen können, wenn wir uns auf uns nicht vertraute Lebenssituationen einlassen.

Weniger kann mehr sein und ein kleines Ziel ein großes

Einmal empfahl mir ein Seminarteilnehmer das Buch: „Frau Magnussons Kunst, die letzten Dinge des Lebens zu ordnen“. Der Titel versetzte nicht nur mir einen Schrecken. Auch der eine oder andere Teilnehmer blickte erschrocken. Die letzten Dinge regeln? Jetzt? Schon jetzt?

Ich kaufte mir das Buch und legte es zunächst zur Seite. Irgendwann nahm ich es, las darin und stellte fest, dass es nicht darum geht, alsbald zu sterben, sondern um den Umgang mit dem, das man in einem schon länger andauernden Leben angeschafft hat und das einen oft genug belastet, weil es sehr viel Raum einnimmt im Leben, im übertragenen, aber auch im wörtlichen Sinn.

Voller Interesse stellte ich fest, dass ich längst begonnen hatte, diese letzten Dinge zu regeln, um hernach freier zu leben!

Wir hatten uns verkleinert, schon vor Jahren, relativ jung. Von 120 m2 auf 50 m2. Und ich miste immer noch aus, immer mal wieder, habe meinem „Kind“ die letzten Kartons mit Jugenderinnerungen aufs Auge gedrückt, ein Testament gemacht, die Konten geregelt, die Akten sind auf Stand. Aber immer noch liegt viel zu viel Krempel rum. Schmuck und Geschirr, da muss ich noch ran. Irgendwann werden die Fotos dran sein, die alten Schallplatten, die Briefe. Vielleicht erlebe ich einen Teil des Erlebten, das aus jedem Brief, aus jeder Platte durch die Jahrzehnte zu mir durchdringt, noch einmal, was ich körperlich eventuell nicht mehr kann oder nicht mehr möchte. Ein schöner Plan.

Dann sitze ich dem alten Mann gegen- über und wir machen das, was Menschen schon immer gemacht haben „Weißt du noch?“

Seither habe ich in Beratungsgesprächen und Seminaren dieses Thema schon öfter angesprochen und sehr zahlreiche positive Rückmeldungen erhalten.

Neulich sprach ich mit einer Klientin, die zu mir kam, weil sie nicht wirklich einen Sinn mehr darin sieht, morgens aufzustehen. Sie ist 87, eigentlich noch recht fit, lebt selbstbestimmt in ihrem eigenen Umfeld. Es geht ihr um Motivation. Sie sagt, dass sie als alte Frau und ohne wirkliche Aufgaben und Ziele ebensolche sucht und gleichermaßen Angst hat, irgendwas zu tun. Sie stimmte mir zu, als ich sagte, dass sie als komplett private und eigentlich freie Person wie eine Selbstständige sei, Unternehmerin quasi.

Und da ist das Zauberwort: Ziel!

Habe ich etwas, das ich erreichen möchte? Doch sie fragte mich, was sie denn nun in ihrem Alter „noch“ erreichen sollte, außer ... Hier schwieg sie.

Mir fehlten die Worte. Stattdessen fühlte ich eine unbestimmte Furcht davor, dass diese Zeit auch für mich nicht mehr fern sein könnte. Was dann?

Ich dachte an meine jungen Jahre, als ich, eine junge Mutter, mit meinem Kind Nepal und Indien bereiste und einige Jahre in diesen Ländern verbrachte.

Deutschland war in den 1980ern kein Land für alleinerziehende voll berufstätige Mütter. Außerdem war ich jung und voller Sehnsucht nach der Weite der Welt. Natürlich musste ich mich damals auch rechtfertigen. Aber unterm Strich tat ich das, was ich für mich und mein Kind als das beste erkannte, und ich empfand mein Leben als frei, rund und schön.

Als ich 1990 entschied, wieder zurückzukehren, nun gut über 30, das Kind reif fürs Gymnasium, begab ich mich ganz in unser Gesellschaftssystem zurück, das besagt: Leistung und der materielle Gegenwert dazu sind die Parameter, an denen ein Leben als sinnvoll gemessen wird. Und als es wieder an der Zeit war, diesen Kreislauf zu verlassen, hatte ich zunächst mehr Schwierigkeiten als mit 25, mich an selbstbestimmte Freiheit zu gewöhnen und diese zu genießen und ganz selbstbewusst zu leben.

Das war doch absurd. Und ich besann mich der Stärke, die mich mein ganzes Leben bis zu diesem Punkt geführt und gestützt hatte. Als mir dieses klar geworden war, fiel mir ein Stein vom Herzen.

Ich konnte daher meiner Klientin antworten: „Wir werden bei A geboren und werden bei Z sterben. Auf Ersteres haben wir keinen Einfluss, auf Z nur einen sehr bedingten. Worauf wir aber Einfluss haben, ist, wie wir leben. Da wir hier in diesem Land in aller Regel nicht täglich damit beschäftigt sind, unser nacktes Überleben zu sichern, haben wir den Vorteil, dass wir darüber nachdenken können und sollten, uns unser Leben im Rahmen unserer jeweiligen ganz persönlichen Möglichkeiten für uns – und ggf. für andere – so angenehm wie möglich zu gestalten. Unabhängig von allen amtlichen und ehrenamtlichen Möglichkeiten.

Was möchte ich für mich, heute und wenn möglich morgen? Was tut mir gut? Wie kann ich mir jeden Tag zumindest eine Freude machen ...? Das ist doch schon ein gutes Ziel, finde ich.

Die ältere Dame lächelte mich an. „Es sind nicht immer die großen Ziele, oder?“

„Nein“, erwiderte ich, „ganz und gar nicht. Sie dürfen es sein. Aber die Stunde in der Abenddämmerung draußen vor der Tür, im Gespräch mit der Nachbarin, die letzten Sonnenstrahlen auf der Haut, die Luft, die einen plötzlich an irgendein ganz anderes schönes Ereignis aus der Vergangenheit erinnert, der Spaziergang am Morgen, die Amsel, die einen weckt, der Duft des Kaffees, das knusprige Brötchen ... das Gefühl, der Tag und die Zeit gehören mir, zumindest jetzt, in diesem Moment.

Diese Momente zu erleben und wahrzunehmen und zu genießen, sind Ziele ganz eigener Art und mit viel Wert für ein schönes Leben.“

Tomorrow never comes ... es gibt kein Morgen. Es ist immer das Jetzt.

Wenn Sie also die Möglichkeit haben, dieses Jetzt zu leben, tun Sie es, auf Ihre Weise, lassen Sie Träume und Ziele zu und setzen Sie diese um – so viele wie möglich. Denn nicht nur unsere Patienten werden älter – auch wir.

Wenn wir es uns deshalb leisten, weiter zu lernen, gängige Wert- und Rollenzuweisungen abzulehnen, zumindest aber zuzulassen, mit unserem jeweiligen Gegenüber wertfrei neue, ganz eigene zu finden, dann haben wir in unseren Berufen nicht nur unser Portfolio an Möglichkeiten erweitert.

Wir wissen mehr, wir haben mehr Handlungsspielraum, erweitern das Spektrum unserer Zielgruppen, besonders, wenn auch wir selbst älter werden. Ansprüche und Bedürfnisse ändern sich im Laufe des Lebens ständig. Sie passen sich unserem Alter, unserer Kondition, unseren Erfahrungen, unseren Konditionierungen an. Gleichzeitig sind diese Faktoren wiederum abhängig von den Möglichkeiten und Grenzen, die zum einen in uns liegen, zum anderen durch gute Beratung, Unterstützung und Therapie beeinflussbar sind.

Da kommen wir Therapeuten ins Spiel, wenn wir wollen, wenn wir uns auf ältere und alte Menschen einstellen, und zwar aus unvoreingenommener ganz eigener Sicht.

 

 

Carola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Trainerin, Coach, Buchautorin

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Foto: ©Robert Kneschke