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„Vom Manko zum Plus“ – radio leinehertz

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Informationen zur Sendung Psyche kompakt vom 2. Februar 2015.

2015 01 Manko2Plötzliche Arbeitslosigkeit ist für die Betroffenen häufig ein Schock, gepaart mit Unverständnis, Wut, Verzweiflung, Scham oder Schuldgefühlen. Am bedrohlichsten ist die Angst um die wirtschaftliche Existenz. Was jedoch, wenn die Bedrohung Wochen, Monate, sogar Jahre anhält? Statt staatlicher Förderung gibt es häufig staatlichen Druck. Abhilfe soll das Projekt „50plus“ schaffen. Wie das funktioniert, das hat mir Dr. phil. Jürgen Küster, Heilpraktiker für Psychotherapie aus Augsburg, erklärt.

Her(t)zlichen Dank!

Herr Dr. Küster, wie viele Menschen sind derzeit in Deutschland von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen?

Ja, ich bin kein Fachmann für die Statistiken der Arbeitsagentur und dort werden auch immer wieder Zahlen in verschiedenen Zusammenhängen genannt – ich habe nochmal auf deren Internetseite nachgeguckt und demnach sind 1,9 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte beim Jobcenter gemeldet. Davon sind etwa die Hälfte, um die 900 000, langzeitarbeitslos, das heißt, sie sind länger als ein Jahr in der Arbeitslosigkeit.

Unter welchen Bedingungen müssen Menschen, die langfristig ohne Arbeit sind, leben?

fotolia©picoNun, die Rahmenbedingungen der Grundsicherungs- bzw. der sogenannten Hartz IV-Bezieher sind ja immer wieder in der Diskussion. Es geht also einmal darum, dass mit knapp 400 Euro Grundsicherung plus Miet- und Teile der Nebenkosten, ein durchschnittliches Leben in dieser Republik kaum möglich ist. Es fehlt an Geld, es fehlt an allen Ecken und Enden und dazu kommt, jetzt auch jenseits der Rahmenbedingungen bei Hartz IV, auch das ist in der letzten Zeit in der Presse immer wieder aufgegriffen worden, ein ziemlich rigides System von Fördern und Fordern, das zumindest für Teile oder für bestimmte Gruppen dieser Langzeitarbeitslosen sicherlich das falsche Konzept ist, weil man Leute, die ohnehin schon am Boden sind, nicht noch weiter fordern kann, bzw. durch dieses Fordern nicht weiter fördert. Vor einigen Tagen war in der Süddeutschen Zeitung zu lesen, dass das Hartz IV-System als solches, insbesondere auch hinsichtlich der Sanktionen, die hier verhängt werden, Elemente der sogenannten schwarzen Pädagogik oder sogar auch Elemente des Strafvollzugs enthält und hier doch Bürgerrechte in einem Maß eingeschränkt werden, was zumindest für eine aktive Belebung dieser Langzeitarbeitslosen nicht besonders geeignet erscheint.

Welchen Stellenwert nimmt Arbeit in unserer Gesellschaft ein?

Nun, ich denke, da sind wir uns sicher einig: Arbeit ist eine zentrale Säule der menschlichen Existenz, weil sie A) sinnstiftend wirkt und B) ein eigenverantwortlich geführtes Leben ermöglicht. Und ohne Arbeit ist der Mensch in unserer Gesellschaft mit Sicherheit nur noch am Rande, fühlt sich auch so und wird auch nicht mehr wunschgemäß wahrgenommen.

Wie wichtig ist die Arbeit für unsere persönliche Identität?

Das ist eine Frage, die sicher individuell beantwortet werden muss. Ich habe Klienten, die ganz erheblich darunter leiden, dass sie keine Arbeit haben, die sich leer fühlen, die mit sich selber auch kaum etwas anfangen können – und ich habe Leute, die quietschvergnügt damit leben, dass sie eben keine Arbeit haben, und die sich in Hobbys oder gemeinnützigen Vereinen engagieren und „den lieben Gott einen guten Mann“ sein lassen.

Also das wird sich allgemein nicht beantworten lassen. Beobachtbar ist jedoch, dass die größte Zahl meiner Klienten erheblich darunter leidet, dass sie keine Arbeit hat. Insbesondere in unserer Gesellschaft definiert der Mensch sich über Arbeit und Familie. Und wer keine Arbeit hat, hat dann meistens auch nur noch Bruchstücke von Familie oder gar keine, weil die wirtschaftlichen Basisdaten gar nicht vorhanden sind, um Familie zu halten oder zu erhalten. Die Lebensgefährten laufen davon, die Kinder distanzieren sich und übrig bleibt nicht nur der Arbeitslose, sondern auch der Mensch, der seine sozialen Kontakte verloren hat.

Ich habe gelesen: Arbeit ist das „Rückgrat des Lebens“ ...

Ja, das finde ich einen sehr schönen Spruch. Wie gesagt, man muss das wohl individuell unterscheiden. Es gibt Menschen, die genau das zu ihrem Rückgrat machen. Es gibt aber auch eine Anzahl von Menschen, für die Arbeit so entscheidend dann doch nicht ist. Das ist aber ein kleiner Prozentsatz.

Ist Hartz IV für die Betroffenen Hilfe oder Fessel?

Ich denke, es kommt darauf an, über wen wir reden. Es gibt ja auch bei den sogenannten Langzeitarbeitslosen und Hartz IV-Beziehern verschiedene Einstufungen. Also, es gibt von den Jobcentern eine Art Kategorisierung in arbeitsmarktnahe und arbeitsmarktferne Profillagen und ich denke, bei diesen arbeitsmarktfernen Profillagen wird man mit den derzeitigen Methoden nicht sehr erfolgreich sein. Ein Kollege hat das mal beschrieben, die Situation von Hartz IV-Beziehern, gleiche dem griechischen Mythos des Tantalos: der sich immer wieder beugt, nach unten, um Wasser aufzunehmen, um zu trinken – und die Quellen verschwinden. Und der sich immer wieder streckt nach irgendwelchen Bäumen, die Früchte tragen – und die Zweige weichen zurück. Und das Ganze unter einem Felsbrocken, der herabzustürzen droht. Ich denke, so ähnlich sieht die Situation von Hartz IV-Beziehern aus.

Welche seelischen Folgen hat Langzeitarbeitslosigkeit für die Betroffenen?

Hier müssen wir unterscheiden. Seelische Folgen sind mit Sicherheit in erster Linie depressive Episoden, sowohl leichtere, als auch mittelschwere depressive Erkrankungen mit allen Folgeerscheinungen. Wir müssen aber auch sehen – und hier liegt vielleicht auch das Hauptaugenmerk unserer Arbeit –, dass Langzeitarbeitslosigkeit häufig verknüpft ist mit Vorerkrankungen. Das heißt also: Langzeitarbeitslosigkeit kann jeden von uns treffen. Das ist völlig klar. Aber diejenigen, die in der Langzeitarbeitslosigkeit dann wirklich oft jahrelang verharren – und ich habe Klienten, die sich teilweise bis zu 25 Jahren in der Arbeitslosigkeit befinden – die sind häufig von Vorerkrankungen, sowohl psychischer, als auch physischer Natur, betroffen. Und hier, das kann ich einfach aus Erfahrung sagen, finden Sie im Prinzip sämtliche im „ICD-10“ beschriebenen Symptome und Syndrome, zwar in unterschiedlicher Gewichtung, aber es gibt kaum etwas, was nicht vorkommt.

Im psychischen Bereich sind es sicherlich Persönlichkeitsstörungen, sind es Borderline- Erkrankungen, sind es dissoziale Symptome, sind es Suchterkrankungen und – das möchte ich an dieser Stelle schon einmal betonen – es ist erschreckend, wie häufig mir sexueller und emotionaler Missbrauch in der Kindheit meiner Klienten bzw. meiner Klientinnen begegnet. Bei den physischen Erkrankungen sind es meistens Erkrankungen der Wirbelsäule, Lendenwirbel-, Brustwirbel-, Halswirbelerkrankungen, rheumatische Erkrankungen, Fibromyalgie und der gesamte Formenkreis der psychosomatischen Erkrankungen, weiterhin Allergien und auch da lässt sich im Prinzip kaum eine Erkrankung ausschließen. Zu beobachten ist, dass in der Langzeitarbeitslosigkeit sehr häufig Komorbiditäten entstehen, das heißt, wir haben es nicht nur mit einem Symptom zu tun oder nicht nur mit psychischen oder nicht nur mit physischen Erkrankungen, sondern meistens mit einer Kombination, die dann eben auch entsprechend lange braucht, um erfolgreich behandelt werden zu können.

Kann Langzeitarbeitslosigkeit als ein traumatischer Prozess verstanden werden?

Ja, das sehe ich so. Ich meine, ein Trauma ist auch vom ICD-10 entsprechend definiert. Über diese Definition hinaus meine ich aber, dass Arbeitslosigkeit immer auch mit einer Traumatisierung verbunden ist, weil Arbeit einfach ein wesentliches Element des menschlichen Daseins, also wie Sie das schon sagten, das Rückgrat des Menschen ist. Und wenn dieses wegfällt, dann steht der Mensch sozusagen ohne Rückgrat – oder mit gebrochenem Rückgrat – da. Und das bildet sich dann eben auch in den entsprechenden Erkrankungen ab.

Was ist das Projekt „50plus“?

fotolia©K.-P. AdlerDas Projekt „50plus“ ist in Augsburg – aber auch in Ulm, Weilheim und Kempten – aufgelegt worden, als Pakt zwischen den Jobcentern der Regionen und verschiedenen Bildungsträgern. Unter diesen Bildungsträgern nehmen die Volkshochschulen in den genannten Orten auch einen Teil des Projektes wahr. Das Projekt „50plus“ hat innerhalb der Volkshochschullandschaft einen eigenen Namen und heißt dort „Kurs finden 50plus“. Das hängt einfach damit zusammen, dass wir an Volkshochschulen Kurse anbieten und unseren Klienten die gesamte Palette der Volkshochschulkurse und Seminare zur Wahl stellen, damit die sich eigenverantwortlich und weitgehend auch unabhängig von irgendwelchen Vorschriften innerhalb der Volkshochschulen bis zu drei oder vier Seminare und Kurse pro Semester aussuchen können, um dann hier im Bereich Kunst oder Allgemeinbildung oder Gesundheit oder Sprachen oder berufl iche Bildung ihren Interessen nachzugehen. Das ist die eine Säule des Projektes „Kurs finden“.

Die zweite Säule besteht in der persönlichen Beratung. Wir haben in der Regel unsere Klienten hier zweimal im Monat zu einer jeweils einstündigen Beratungssitzung, in der wir dann mit Mitteln arbeiten, die weitgehend auf Konzepten, wie sie in der humanistischen Psychotherapie bekannt sind, aufbauen – und die mit einer unbedingten Wertschätzung und Akzeptanz verbunden sind. Wir gehen also auf die Leute, die hier zugewiesen werden, zu, nicht in der Absicht, irgendwelche Defizite zu markieren oder zu benennen, sondern um zunächst einmal den Menschen an sich – auch, wenn er unter der Brücke lebt – in dem, was er hier mitbringt, vollständig zu akzeptieren. Und diese Akzeptanz, die wir hier den Leuten entgegen bringen, diese Wertschätzung setzt einfach die Freiräume oder die Räume frei, in denen die Menschen sich dann verändern können und verändern wollen. Und der Erfolg gibt uns recht: Den Erfolg sehe ich nicht nur in der Vermittlungsphase, wir haben die vom Jobcenter erwartete Quote von acht bis zehn Prozent Vermittlungen jedes Jahr bei Weitem übertroffen – sondern das sehe ich vor allen Dingen in persönlichen Veränderungen, die dann wirklich spürbar dazu führen, dass die Menschen wieder auf eigenen Füßen stehen.

Literaturempfehlung

  • Rosemarie Barwinski: Erwerbslosigkeit als traumatische Erfahrung, Asanger-Verlag

Dr. phil. Jürgen Küster Gast
Dr. phil. Jürgen Küster
Heilpraktiker für Psychotherapie, VFP-Mitglied, Augsburg
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Sonja Kohn Moderatorin
Sonja Kohn
Heilpraktikerin, Dozentin, freie Redakteurin
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