Gewalt in der Pflege – Gewalt in der zwischenmenschlichen Beziehung
Viel zu häufig hören wir in den Nachrichten von „Gewalt“ in der Pflege, vom Pflegenotstand, von unhaltbaren Zuständen in manchen Heimen und auch im häuslichen Umfeld mit oder ohne Unterstützung durch ambulante Pflegedienste.
Der Pflege-TÜV, der ursprünglich einmal eingerichtet worden war, um die Suche nach einem guten Heim zu erleichtern, soll nun wohl wieder eingestellt werden. Das zeigt unter anderem, wie schwierig und vielfältig die Beurteilung von guter Pflege ist, wenn eine gute Küche mangelhafte pflegerische Versorgung in der Endnote nach oben korrigieren kann.
Jeder kennt in seinem Umfeld Pflegekräfte, die hochmotiviert an Feiertagen, Wochenenden und im Schichtdienst arbeiten, die jahrelang mehr oder weniger klaglos mit großem persönlichen Engagement für „ihre“ zu Pflegenden da sind. Und viele kennen auch ehemalige Pflegekräfte, die nach etlichen Jahren aus dem Beruf ausgestiegen sind – vielmehr aussteigen mussten, aus Gründen körperlicher oder seelischer Erschöpfung.
Die Verweildauer von Beschäftigten in der Alten- und Krankenpflege (neu: Gesundheitspflege) sinkt stetig. Neben vielen strukturellen Vorgaben, die wirklich ein hohes Maß an persönlicher Disziplin und festem Willen voraussetzen, ist auch der Pflege-Alltag häufig einem zufriedenstellenden Arbeiten nicht zuträglich.
Einer von vielen Punkten sind dabei die familienunfreundlichen Arbeitszeiten (Wie soll eine Pflegekraft im Regelbetrieb der stationären oder häuslichen Pflege Arbeitszeit und Kinderbetreuung organisieren? Ohne ein stabiles soziales Netzwerk kann die Kinderbetreuung an Wochenenden und Feiertagen nicht funktionieren!). Ein weiterer Punkt ist die psychosoziale Belastung. Alten- und Krankenpflege bedeutet nicht ausschließlich, hochbetagten Senioren eine Mahlzeit anzureichen oder frisch operierte Menschen nach der Operation mit Medikamenten zu versorgen. Die ständige Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens (auch dem junger Menschen!) und der Ohnmacht bei wiederkehrenden Erkrankungen, wie Krebstumor-Rezidive oder die Akzeptanz des kontinuierlichen Fortschreitens von Erkrankungen wie z. B. bei Morbus Parkinson oder auch ALS sowie ein Berufsalltag mit Sterbebegleitung erfordern von den Pflegekräften ein hohes Maß an persönlicher Kompetenz. Und auch eine ganze Reihe sicherer Bewältigungsstrategien – ohne dabei Empathie oder Fachlichkeit einzubüßen.
Befragt man neu einsteigende Pflegekräfte, pflegende Angehörige oder auch Unbeteiligte zum Thema „Gewalt in der Pflege“, erhält man ein sehr klares Bild davon, was meist darunter verstanden wird: Schläge, Übergriffe, Verletzungen von Seiten der Pflegekräfte gegenüber den Schutzbefohlenen. Das ist sicher zu eng gefasst.
Was genau verstehen wir unter Pflege?
Und wie definieren wir Gewalt?
„Pflege“ bedeutet in unserem Zusammenhang die Unterstützung eines Menschen („Patienten“) bei der Bewältigung des Alltags durch andere Menschen („Pflegende“) in den Punkten Körperpflege, Nahrungsaufnahme, Toilettengänge bzw. Versorgung mit Inkontinenzmaterial, medizinische Versorgung (Tabletten/Wundversorgung), psychosoziale Betreuung, Angebote zur Tagesstrukturierung usw.
„Gewalt“ bedeutet nach unserem Verständnis in diesem Kontext, dass ein Mensch die Macht hat, an einem anderen Menschen Handlungen durchzuführen, die den Betroffenen schädigen oder die der Betroffene ausdrücklich nicht wünscht. Gewalt kann dabei auch verbal ausgeübt werden. Gewalt kann physisch, psychisch und strukturell bedingt sein.
Ist „Wegschauen“ schon Gewalt?
Allgemein denken Befragte bei diesem Thema häufig nur in eine Richtung: Gewalt in der Pflege ist körperliche Gewalt gegen schutzlos ausgelieferte Pflegebedürftige, die sich nicht wehren können.
Gewalt beginnt jedoch schon viel früher. Betrachten wir das klassische Beispiel: Ein Bewohner einer stationären Einrichtung benötigt Hilfe beim Gang zur Toilette und Unterstützung beim An- und Ausziehen. Der Bewohner sitzt in seinem Zimmer und schellt, er möchte zur Toilette.
Im Idealfall ist eine Pflegekraft unmittelbar abkömmlich und ihm behilflich. Sie wartet vor der Badezimmertür und auf Zuruf hilft sie beim Wiederankleiden, Händewaschen und begleitet den Weg zurück zum Sessel.
Was, wenn nicht? Wenn soeben ein weiterer Bewohner des Wohnbereichs gestürzt ist, medizinischer Erstversorgung bedarf und andere Kollegen mit weiteren Bewohnern in deren Zimmern beschäftigt sind? Wie viele examinierte Pflegekräfte sind für wie viele Bewohner zuständig, die „examinierter“ Arbeit bedürfen?
In diesem Fall sind die Pflegekräfte nicht in der Lage, den Toilettengang zu begleiten. Der Bewohner hat mehrere Möglichkeiten: Er begibt sich selbst auf den Weg und stürzt vielleicht; er bleibt sitzen und kann irgendwann nicht mehr einhalten. In beiden Fällen ist davon auszugehen, dass die Situation schamhaft belegt ist und nicht zur Zufriedenheit aller abgewickelt werden kann. Mit Sicherheit ist hier auch die Pflegekraft nicht zufrieden.
Wer hat hier Gewalt ausgeübt?
In diesem Fall sprechen wir von struktureller Gewalt; der „Pflegeschlüssel“ berechnet exakt, wie viele Pflegekräfte mit welcher Qualifikation (examiniert/nicht examiniert) zu welcher Zeit in den Wohnbereichen/ auf den Stationen arbeiten. Zugrunde gelegt wird hier auch, wie die Verteilung der Pflegestufen aussieht – die einzelnen Pflegestufen geben genau vor, wie viele Minuten für Körperpflege, Nahrungsaufnahme und Toilettengänge pro Bewohner zur Verfügung stehen. Die gewinnbringende Durchführung unterliegt dem geschickten und planvollen Arbeiten der pflegenden Fachkraft.
Die Gewalt in der Pflege ist keine Einbahnstraße. Nicht zu unterschätzen ist auch der Dokumentationsdruck, der von Seiten der Geldgeber (Krankenkasse, Pflegekasse, Angehörige!) und durch den MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) vorgegeben wird. Auch diese unterliegen Vorgaben, das steht außer Frage. Die Pflegedokumentation ist ein umfassendes, schriftliches Werk der zuständigen (examinierten!) Pflegekraft, in der die AEDLs, die „Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens“ des zu Pflegenden in den 13 Bereichen (z. B. sich bewegen, ruhen und schlafen, kommunizieren, essen und trinken ...) schriftlich erfasst werden müssen – in Bezug auf die Kriterien Ressourcen, Nah- und Fernziel, Pflegemaßnahmen. Die Pflegeplanung muss stets aktualisiert und allen Veränderungen des zu Pflegenden angepasst werden mit dem Ziel, dass alle pflegerischen Maßnahmen erkennbar und geplant sind und dass jede Fachkraft auf höchstem Niveau bewohnerbezogen arbeitet.
Ein weiteres Beispiel: Das Trinkprotokoll – fachlich korrekt: Bilanzierung der Ein- und Ausfuhr. Das „Trinkprotokoll“ soll nachweisen, dass jeder Bewohner (im Heim), Kunde (im ambulanten Dienst) und Patient (im Krankenhaus) ausreichend Flüssigkeit zu sich genommen hat. Die Kontrolle der Ausfuhr wird auf unterschiedliche Weise gemessen. Nicht bei allen Pflegebedürftigen muss derartig dokumentiert werden.
Wenn nun ein solches Protokoll geführt werden soll, muss nachgewiesen werden, dass der Bewohner die Trinkmenge xy auch erhalten hat. In der Praxis bedeutet dies, dass verschiedene Getränke zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten angeboten werden.
Die Pflegekräfte reichen also die Getränke an und auch hier gibt es verschiedene Szenarien: Der zu Pflegende trinkt die gereichte Menge; oder er verschließt die Lippen, dreht den Kopf weg; oder schlägt der Pflegekraft gar den Becher aus der Hand. Wer wird dafür verantwortlich gemacht, wenn die Trinkmenge nicht verabreicht werden kann? Nehmen wir auch das als Gewalt wahr?
Die eigentliche Gewalt, die körperlichen Übergriffe, an die viele Menschen denken, hat zahlreiche Abstufungen, viele Vorstufen und bietet auch uns etliche Möglichkeiten, einzugreifen.
Ich möchte gar nicht verleugnen, dass es im Pflegealltag zu schmerzhaften Handgreiflichkeiten kommen kann – aber von beiden Seiten. Es gibt durchaus Pflegekräfte, die den ihnen anvertrauten Menschen nicht immer in sanfter Art und Weise behilflich sind. Es gibt viele Gründe, weshalb es zu einem solchen Verhalten kommen kann (was damit natürlich nicht zu entschuldigen ist). In den wenigsten Fällen wird hier vorsätzlich Schaden zugefügt. Häufig ist es ein Zusammentreffen vieler ungünstiger Faktoren. Ein sorgfältiges Zeitmanagement, eine gute Einarbeitung von Pflegehilfskräften sowie die Einbindung aller am Pflegeprozess Beteiligten (Angehörige, Therapeuten wie Physio- oder Ergotherapeuten, Sozialdienst, Ehrenamtliche etc.) und der ständige Austausch aller Beteiligten über Ergebnisse nehmen hier etwas den Druck. Ebenso sollte Pflegekräften vermittelt werden, dass sie offen über ihre Situation sprechen können – formal gibt es hier die sogenannte Überlastungsanzeige. Gespräche mit der Stations- bzw. Wohnbereichsleitung sind in jedem Fall erstrebenswert. Eine weitere Facette der Gewalt verbirgt sich potenziell allerdings auch in der Dienstplangestaltung. Leider findet sich auch im sensiblen Bereich der Pflege das Thema „Mobbing am Arbeitsplatz“.
Mit der anderen Seite meine ich Pflegebedürftige, die ihrer Pflegekraft (sei es bewusst aggressiv oder auch unbewusst) nicht immer wohlwollend begegnen: Menschen, die um sich schlagen, spucken, kneifen, beißen oder auch mit Gegenständen werfen. Auch in einem solchen Fall muss die Pflege in der vorgegebenen Zeit und mit höchster Qualität erbracht werden.
Ungern wird auch darüber gesprochen, dass es durchaus zu sexuell motivierten Handgreiflichkeiten meist männlicher Pflegebedürftiger kommen kann: Grapschen an Brust oder Po oder gar der Versuch zu küssen. Ganz abgesehen von den verbalen Übergriffen. Ein enormer Anspruch an die soziale und pflegerische Kompetenz der Pflegekraft!
Was können wir tun?
Wie können wir helfen?
Mir ist es wichtig, unter dieser Überschrift zu verdeutlichen, dass Gewalt nicht erst bei Tötungsdelikten oder dem aktiven Schlagen beginnt. Wie bei vielen Themen werden in der Öffentlichkeit unattraktive Themen gern übergangen, verschwiegen oder auch heruntergespielt, frei nach dem Motto „Was geht es mich an“ oder „Was sollte ich ändern können“. Die Pflegekräfte brauchen Verständnis und positive Zuwendung, Angehörige sowie zu Pflegende brauchen Aufklärung. Über strukturelle Vorgaben allgemein und über die Abläufe in der jeweiligen Einrichtung. Freundliches Interesse am Pflege-Alltag hat schon manche kritische Situation entschärft, die Einbeziehung von Angehörigen schafft Vertrauen auf beiden Seiten, hiervon profitieren nicht zuletzt die zu Pflegenden!
Häufig sind Angehörige und Pflegekräfte unsicher im Umgang miteinander – Angehörige haben häufig ein schlechtes Gewissen, wenn Vater oder Mutter in einem Heim untergebracht werden sollen, hier ist auch Feingefühl für die Lebensbiographie der ganzen Familie notwendig. Rivalitäten unter Geschwistern der zu Pflegenden sind auch keine Seltenheit, denn wir reden hier von Menschen, die häufig selbst schon den Ruhestand ansteuern. In vielen Familien wird nicht miteinander gesprochen. Pflegekräfte verunsichert dies in der Umsetzung der ganzheitlichen Pflege – die Pflegequalität leidet, denn Diskrepanz bei der theoretisch geplanten und praktisch umsetzbaren Arbeit frustriert ungemein.
Auf Seiten der Supervision und der Therapie ist die vertrauensvolle Beziehung zu Pflegekräften unerlässlich. Es muss einen Ort geben, an dem auch Pflegekräfte über ihren Frust und die sich womöglich anstauende Aggression offen reden können, das kann übergreifende Handlungen verhindern. An sich sollte diese Möglichkeit auch im kollegialen Rahmen gegeben sein, aber auch hier ist mitunter bereits ein latent vorhandenes Ungleichgewicht vorhanden; nicht alle Pflegekräfte haben dieselben Handlungsstrategien im Umgang mit Stress und Unzufriedenheit und nicht alle Leitungskräfte erkennen die Gefahr.
Sicherlich kann es auch hilfreich sein, selbst aktive Unterstützung anzubieten, um den Pflegealltag zu entlasten. Ehrenamtliche Hilfe findet großen Anklang – und hierzu ist kein pflegerisches Wissen notwendig. Ehrenamtliche Mitarbeiter (schon zwei Stunden pro Woche werden dankbar angenommen) können mit wirklich geringem Einsatz wertvolle Arbeit leisten und über die Heimleitung oder den Sozialdienst einer Einrichtung gibt es hier vielfältige Angebote: Im Frühling Blumentöpfe bepflanzen, vorlesen, stricken, spazierengehen, gemeinsam singen. All das sind kleine Hilfen, die in einer vollstationären Einrichtung gern gesehen sind! Ebenso die Unterstützung bei Ausflügen, Sing-Nachmittagen, in der Vorweihnachtszeit, zu Ostern … Es gibt schließlich viele Senioren, die keine Familie haben.
Wenn auch das Thema in der Öffentlichkeit häufig brisant diskutiert und immer wieder durch schreckliche Einzelfälle in Erinnerung gebracht wird – die tatsächliche Gewalt in der Pflege findet nicht nur am Pflegebett statt, während keiner etwas sieht. Und es ist nicht ausschließlich Sache der Politik, neue Vorschläge zu der wirtschaftlichen Versorgung von zu pflegenden Angehörigen zu machen. Jeder Einzelne kann hier aktiv eingreifen und die Situation im Kleinen positiv verändern – im unmittelbaren Umfeld sicherlich genauso wie in stationären Einrichtungen.
Patricia Schönsee
Heilpraktikerin für Psychotherapie in eigener Praxis, Schwerpunkte: Entspannungsverfahren, Störungen der Sexualpräferenz, Paartherapie,