Der Klient oder Patient mit suizidalen Gedanken in der Sprechstunde
Der Suizid zählt nach wie vor mit zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland. Allein im Land Brandenburg starben laut Statistischem Jahrbuch 2014 im Jahr 2012 offiziell 295 Menschen durch Suizid. Dabei legten 56 Frauen und 239 Männer Hand an sich. 41 Menschen starben durch Arzneimittel und Drogen, davon waren 18 Frauen und 23 Männer. 57 Menschen starben als Fahrer eines Personenkraftwagens, davon 9 Frauen und 48 Männer. 608 Menschen verstarben in Brandenburg in Folge einer psychischen Störung oder Verhaltensstörung.
Es nehmen sich deutlich mehr Männer als Frauen das Leben und mit zunehmendem Lebensalter lässt sich eine leichte, ansteigende Tendenz bei beiden Geschlechtern erkennen. Bei der Methodik greifen Männer oft zur sogenannten brutalen Methode wie Erhängen oder Erschießen und Frauen eher zur sogenannten weichen Methodik wie Arzneimitteleinnahmen oder das Öffnen einer Schlagader – häufig in Verbindung mit Alkohol.
Während das Statistische Jahrbuch offi ziell von 295 Verstorbenen in Folge von „vorsätzlicher Selbstbeschädigung“ spricht, gehen Experten von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. Meine Erfahrungen aus der ambulanten Krisenintervention unterstreichen diese Vermutungen.
Denn gerade bei Verkehrsunfällen erscheinen Unfallhergänge mitunter mysteriös. Und gerade beim Tod eines älteren Menschen bleibt oft ungewiss, ob die Einnahme einer Überdosis an speziellen Medikamenten wirklich versehentlich erfolgte.
Psychosoziale Zusammenhänge zwischen Suizid und Lebensstandard, persönlichen sozialen Umständen und Religionszugehörigkeit erscheinen mir eher unwahrscheinlich. Eine Motivation durch Gründe wie Angst, Depression, Psychosen erscheint eher wahrscheinlich. Aber auch Schamgefühle, Einsamkeit oder Rachegedanken und daraus versuchte Bestrafung eines Partners können eine Rolle spielen.
Die rechtliche Situation
Experten gehen davon aus, dass jeder Mensch in seinem Leben mindestens einmal über Selbstmord nachdenkt. Bei einigen können diese Gedanken jedoch in entsprechenden Lebenssituationen langsam oder auch plötzlich klare und konkrete Formen annehmen.
Grundsätzlich gilt, jeder Mensch hat das Recht auf Selbstmord. Die Hilfe zum Selbstmord ist in Deutschland aber verboten. Dem Therapeuten obliegt die Verantwortung, zu erkennen, inwieweit der von Suizidgedanken Betroffene organisch erkrankt ist, sich in einer Psychose befi ndet oder anderen psychogenen Einflüssen unterliegt.
Der Suizid ist in Deutschland kein Straftatbestand. Jedoch überprüfen die Behörden unter Umständen die Erfüllung des Straftatbestandes der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB). Eine Unterlassung könnte dann gegeben sein, wenn der Therapeut oder Psychologische Berater z. B. eine organische Störung nicht erkannt hat.
Im Grundsatz gilt: In dem Moment, in dem der Betroffene sich an den Behandler wendet, hat dieser seiner Obhut- und Fürsorgepflicht nachzukommen und nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Inwiefern ein Handeln nach bestem Wissen und Gewissen gegeben ist, muss jede Kollegin/jeder Kollege im rechtlichen Rahmen für sich entscheiden. Am Ende könnte die Beantwortung der Frage, ob der Therapeut fachlich richtig gehandelt hat, den Ausgang eines möglichen Ermittlungsverfahrens bestimmen.
Die Formen der Suizidalität
- Suizididee
- Suizidversuch (Parasuizid)
- Suizid
Beim Suizidversuch wird zwischen dem misslungenen Versuch und der Demonstrativhandlung unterschieden. Die WHO definiert den Parasuizid als eine Handlung mit dem Vorsatz des nicht letalen Endes. Also als Demonstrativhandlung.
Nach Professor Dr. Thomas Bronisch, München, kann nach folgenden Motiven und Bedeutungsmöglichkeiten der Suizidalität unterschieden werden:
- Erlösung von seelischem und körperlichem Leid (Depression, Angst, Psychose sowie Krebs, Aids, Diabetes, Niereninsuffizienz)
- Wunsch nach einem Gottesurteil bezüglich des eigenen Weiterlebens. Weder leben noch sterben können.
- Suche nach Ruhe und Geborgenheit
- Hilferuf und Hilfsappell
- Entlastung von Schuld- und Schamgefühl
- Wendung der Aggression gegen das eigene Ich, da Aggression nicht gegen den Partner gerichtet werden darf
- Primäre Aggression gegen das eigene Ich
- Identifikation mit einer Idol-Figur (Nachahm- oder Werther-Effekt)
- Erpressung, d. h. der Wunsch, die soziale Umwelt zu kontrollieren/zu manipulieren
- Racheakt im Sinne der Bestrafung eines Partners
- Kränkung aufgrund eines mangelhaft entwickelten Selbstwertgefühls (narzisstische Kränkung)
- Einzige Möglichkeit, das Selbstwertgefühl noch zu retten (Suizidversuch als narzisstische Plombe)
- Appell an menschliche Bindungen bzw. Aufkündigung aller menschlichen Bindungen
- Aktive und freie Handlung eines Menschen (Bilanzselbstmord)
- Spannungsabfuhr (kein Suizidversuch im engeren Sinne)
Wie Bronisch feststellt, ist keiner der genannten Punkte allein zutreffend. Dies deckt sich auch mit meiner Erfahrung. Der Betroffene gerät in eine Art Abwägungsprozess. Der Suizid oder der Versuch selbst tritt dann häufig auf Grund des hohen seelischen Schmerzes als Impulshandlung auf. Diese kann oftmals unterbrochen sein, was sich in einer Art äußerer Ruhe darstellt. Bleibt der seelische Druck, kann nach einer gewissen Zeit dem Impuls nicht mehr Stand gehalten werden.
Nach verschiedenen Fachmeinungen und auch anhand meiner Erfahrungen aus kriseninterventorischen Gesprächen erscheint signifikant, dass die Methode des Suizids vorab verschieden durchdacht oder sogar geplant wurde.
„Der-des-Lebens-Müde“ in der Sprechstunde
Betroffene, die sich entscheiden, in Privatsprechstunden zu kommen, unterliegen nicht selten hohem seelischen Druck und haben oft eine „Psychiatriekarriere“ hinter sich. Sie sind von bisherigen Therapien oder besser Therapeuten enttäuscht. Sie klagen darüber, bisher nicht verstanden worden zu sein oder man habe sich einfach zu wenig Zeit für sie genommen und sie daher auch nicht verstehen können.
Der aufmerksame Therapeut kann mit einer gründlichen Anamnese und Exploration eine suizidale Krise durchaus diagnostizieren. Nach meiner Erfahrung scheint es schon einen Unterschied zu machen, ob man bei der psychiatrischen Anamnese nur die Frage stellt „Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen?“ oder ob man ausführlicher vorgeht, wie z. B.: „Viele Menschen denken im Laufe ihres Lebens das eine oder andere Mal über Selbstmord nach. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?“
Fragen Sie also weiter nach, gehen Sie auf das Thema empathisch ein. Fragen Sie direkt nach: „Haben Sie schon einmal konkret darüber nachgedacht, wie Sie sich etwas antun könnten oder werden?“
Wenn in Erwägung gezogen wurde Tabletten einzunehmen, dann fragen Sie, ob und welche Arzneimittel der Betroffene sich besorgt hat. Auch ob und wie er über die Einnahme nachgedacht hat. Oder falls der Betroffene in Erwägung zieht, sich mit Autoabgasen zu töten, dann fragen Sie detailliert nach, wie er es ausführen würde.
Sagen Sie dem Betroffenen, dass Sie ihn grundsätzlich an der Ausführung eines Selbstmordes nicht hindern können und werden. Aber sagen Sie deutlich, dass Sie diesen Lösungsweg nicht verstehen. Sagen Sie dem Betroffenen, dass er es Ihnen erklären soll und das Sie ihn erst gehenlassen, wenn Sie ihn verstanden hätten.
Berichtet der Patient von stetig wiederkehrenden, sich ihm aufdrängenden Suizidgedanken, dann ist besondere Vorsicht geboten.
Cave! Je detaillierter der Betroffene Vorbereitungen getroffen hat, desdo kritischer ist die tatsächliche Suizidalität zu betrachten.
Besonders suizidgefährdet sind depressive, suchtkranke, vereinsamte Menschen. Menschen, die Suizide angekündigt haben, Betroffene, die bereits einen Suizidversuch unternommen haben oder in unmittelbarer Nähe erlebt haben, und Menschen, die sich in besonderen Lebenskrisen befinden.
Besonders für unerfahrene Therapeuten kann ich die Anwendung des 16-Punkte- Kataloges nach H.-J. Möller, München, zur Einschätzung der Suizidalität empfehlen.
Fragenkatalog zur Abschätzung der Suizidalität nach Möller
- Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, sich das Leben zu nehmen? Ja
- Häufig? Ja
- Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen, haben sich diese Gedanken aufgedrängt? Ja
- Haben Sie konkrete Ideen, wie Sie es machen würden? Ja
- Haben Sie Vorbereitungen getroffen? Ja
- Haben Sie schon mit jemandem über Ihre Selbstmordabsichten gesprochen? Ja
- Haben Sie einmal einen Selbstmordversuch unternommen? Ja
- Hat sich in Ihrer Familie oder in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis jemand das Leben genommen? Ja
- Halten Sie Ihre Situation für aussichtsund hoffnungslos? Ja
- Fällt es Ihnen schwer, an etwas anderes als an Ihr Problem zu denken? Ja
- Haben Sie in letzter Zeit wenig Kontakt zu Verwandten, Freunden und Bekannten? Ja
- Haben Sie noch Interesse an Ihrem Beruf, an den Dingen, die um Sie vorgehen, an Ihrer Umgebung? Haben Sie noch Interesse an Ihren Hobbys? Nein
- Haben Sie jemanden, mit dem Sie offen und vertraulich über Ihr Problem sprechen können? Nein
- Wohnen Sie in Ihrer Wohnung, einer Wohngemeinschaft mit Familie oder Bekannten? Nein
- Fühlen Sie sich unter starken familiären oder beruflichen Verpflichtungen stehend? Nein
- Fühlen Sie sich einer Religion zugehörig? Nein
Je mehr Fragen im Sinn der vorgegebenen Antworten beantwortet werden, desdo höher ist das Suizidrisiko anzusehen.
Therapeutische Intervention
Meine Erfahrung zeigt mir: Ist der Betroffene bereit, sich auf das Gespräch über seine Suizidgedanken einzulassen, so kann es auf diesem Weg schon zu einem ersten seelischen Druckabbau kommen. Es ist jemand da, der mich ernst nimmt, der mir zuhört.
Bei einem ernstzunehmenden Suizidrisiko gilt es, den Betroffenen zu einer Einweisung in eine psychiatrische Notaufnahme zu bewegen. Dabei empfiehlt es sich, ihm vorzuschlagen, dass man ihn in die Klinik begleitet, um die Aufnahme für ihn zu regeln. Suizidgefährdete Menschen benötigen keinen Einweisungsschein oder gar eine Einweisung durch den Hausarzt. Sie können sich in jeder psychiatrischen Notaufnahme selbst einweisen.
Befindet der Betroffene sich in einer kritischen Akutsituation, liegt das Vorhandensein einer organischen Erkrankung, eine Psychose oder Wahnvorstellungen vor oder hat er einen frischen Suizidversuch unternommen, dann lässt sich eine Einweisung in Begleitung eines Notarztes in der Regel nicht umgehen.
Grundsätzlich gilt jedoch: den Betroffenen zu einer freiwilligen Einweisung zu motivieren, um somit die Grundlage für eine günstige Therapieprognose zu schaffen.
Psychotherapeutisch muss zunächst versucht werden, die vorhandenen emotionalen Spannungen abzubauen. Weiter gilt es, das Selbstvertrauen wieder aufzubauen und auf die Suche nach möglichen Lösungen für vorhandene Probleme zu gehen. Dabei ist es unumgänglich, für die notwendigen Gespräche auch die notwendige Zeit einzuräumen.
Grundsätzlich gilt:
- Entlasten, beraten, begleiten und ein psychosoziales Netzwerk (Familie, Freunde, Bekannte) stricken.
- Dem weniger im Umgang mit Suizidgefährdeten erfahrenen Therapeuten ist zu empfehlen, die Betroffenen so schnell wie möglich an eine Kriseninterventionseinrichtung zu übergeben.
- Eine ambulante Krisenintervention ist möglich, erscheint mitunter für den Betroffenen auch als günstig, erfordert jedoch ein hohes Maß an Erfahrung im Umgang mit suizidgefährdeten Menschen.
Schlussbemerkung
Nach meiner Erfahrung kommen oft Menschen zu uns, bei denen der seelische Druck sehr hoch ist. Die wenigsten äußern sich von allein und direkt, dass sie Suizidgedanken hegen. Allein der anzunehmende seelische Druck veranlasst mich, im Anamnesegespräch weiter nachzufragen und diesem Aspekt auch genügend Zeit einzuräumen.
Viele Patienten äußern, dass sie zwar schon über Selbstmord nachgedacht hätten, doch bis dahin mit niemanden darüber gesprochen zu haben.
Im Nachhinein berichten sie überwiegend, dass gerade ein offensives Herangehen im Gespräch ihnen Entlastung und seelische Entspannung brachte. Selten halten die Betroffenen dann noch an ihrem Gedanken fest. Eher rücken sie davon ab. Allerdings ist anzunehmen, dass sie bei ihrer nächsten Lebenskrise auch wieder gefährdet sind. Diese Tatsache gebe ich meinen Patienten aufklärend mit auf den Weg.
Das Allerwichtigste im Umgang mit Suizidgefährdeten ist jedoch die eigene klare Position zum Suizid, der kollegiale Fachaustausch sowie die Supervision.
Frank-Michael Kotzte
Heilpraktiker für Psychotherapie, Gesprächstherapie, Krisenintervention, Seelsorge