Schamanismus und moderne Psychotherapie?
Scha|ma|n.is|mus „Auserwählt von Geistern, von ihnen gelehrt, in Trance zu fallen und mit ihrer Seele zu anderen Welten im Himmel zu fliegen oder durch gefährliche Spalten zu den Schrecken der Unterwelt zu klettern, bis auf die Knochen abgemagert (in Jagdgesellschaften sind Knochen der Kern des Lebens) und dann wieder zusammengefügt und wiedergeboren, ausgestattet mit der Macht, Geister zu bekämpfen und deren Opfer zu heilen, Feinde zu töten und die eigene Gemeinschaft vor Krankheit und Hunger zu schützen – das sind die Grundzüge schamanischer Religionen in vielen Gegenden der Welt.“
Aus „Schamanismus“ von Piers Vitebsky, Duncan Blaird Publishers, 2001
Der Begriff Schamanismus taucht in dieser Form zuerst im 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum auf. Es wird angenommen, dass er aus dem Tungusischen (Sibirien) stammt. Im Mandschurischen (dem Tungusischen verwandt) bezeichnet der Begriff einen Zustand der Ekstase, des „Außer sich seins“. Schamanismus ist uralt und lässt sich 30 000 Jahre zurückverfolgen. Unsere moderne Psychotherapie hingegen ist gerade gute 100 Jahre alt, und dennoch meinen wir, mit ihr schon alle Antworten gefunden zu haben. Wir gehen heute mehrheitlich davon aus, dass unsere „reale“ Existenz in der „realen“ Welt das ist, was „realistisch“ ist. Alles andere ist Traum – oder Wahn, spielt sich in unserem Inneren ab, spiegelt unser Unbewusstes, nicht aber die Realität.
Im Schamanismus hingegen ist die Dimension der Geister allgegenwärtig, auch wenn diese in der Regel dem Menschen verborgen bleibt. Schamanismus lebt ein Weltbild, dem gemäß alles beseelt ist. Dieses Seelenverständnis ist nicht zu verwechseln mit dem der christlichen Kirche. Es ist als ein Lebensprinzip zu verstehen, das von endloser Lebenskraft ausgeht. Nativen Gesellschaften gemein ist die Annahme, dass es nicht nur eine Welt gibt, nämlich die vom Menschen gemeinhin als „reale Welt“ betrachtete alltägliche Welt, sondern auch nichtalltägliche Wirklichkeiten. Uns modernen Menschen noch mit der Vorstellung von Himmel (oben) und Hölle (unten) ansatzweise bekannt, gibt es für die Menschen schamanischer Kulturen mehrere Welten, mindestens aber drei: die Welt der Menschen in der mittleren Welt sowie eine Unterwelt und eine Oberwelt, Welten mit ihren ganz eigenen Landschaften und Oberflächen. Zu und innerhalb aller dieser Welten kann der Schamane reisen. Die alltägliche Welt – die mittlere Welt – beschreibt dabei nicht nur „unsere“ Erde, sondern auch Sonne, Mond und Sterne, die Galaxien genauso wie Mikroorganismen und Elektronen.
Nichts von dem, was die Erde (oft gleich Mutter Natur) bietet, ist im schamanischen Weltbild selbstverständlich. Jeder Mensch wird als Teil eines größeren Ganzen wahrgenommen und ist sich seiner Abhängigkeit von den Kräften der Natur durchaus bewusst. Alles, was Menschen innerhalb dieser Kulturen tun, hat deshalb etwas damit zu tun, diese Kräfte in einem ausgewogenen Verhältnis zu halten. Von diesem Denken haben wir uns weit entfernt. Und dennoch hat sich in den letzten Jahrzehnten auch in unserer Welt wieder die Erkenntnis verdichtet, dass Schamanismus zwar nur in schamanischen Kulturen erfahrbar, schamanisches Arbeiten in seinem Kern jedoch auch in unserer modernen Welt einsetzbar ist. Demnach sind grundlegende Praktiken, die jeder schamanischen Kultur eigen sind
- Bewusstseinsveränderungen, um eine schamanische Bewusstseinsebene zu erreichen
- Bewusstes kontrolliertes Reisen in eine nicht-alltägliche Wirklichkeit
Die moderne Medizin definiert und polarisiert, wenn es darum geht, Krankheit und Gesundheit zu beschreiben. Sie katalogisiert und standardisiert Verfahren zur Abwehr von Krankheit und Förderung oder Wiederherstellung von Gesundheit. Sie trennt Körperliches fein vom Geistigen, Spiritualität gehört gar nicht erst in dieses breite Feld. Das große Bindeglied zwischen Soma und Psyche in der heutigen Medizin ist der Bereich psychosomatischer Erkrankungen. Ein Schamane ist Mittler zwischen den Welten. Er vermittelt in einer für ihn und seine Gesellschaft real existierenden nichtalltäglichen Wirklichkeit (diesen Begriff prägte Michael Harner) aber auch innerhalb anderer Welten. Dabei ist im Schamanismus alles eine Frage der Kraft: Krafttier, Kraftort, Seelenkraft. Seele ist Kraft, Beseeltsein heißt: kräftig sein. Und wenn Kraft verloren geht oder wenn zuviel von ihr da ist, muss für Ausgleich gesorgt werden. Es gibt mithin nichts Böses im schamanischen Weltbild, keinen bösen Krebs, keine böse Psychose – nur Energien, nur Kräfte, die da, wo sie gerade sind, nicht hingehören. Kraft kann auch abhandenkommen; dann fehlen Seelenteile, die zurückgeholt werden müssen.
Von geistigen Helfern Krafttieren und Archetypen
Als Irminsul bezeichneten die Altsachsen ein ganz besonderes Kultobjekt. Es handelt sich um den Weltenbaum, der das All trägt, vergleichbar mit der ebenfalls germanischen Weltesche Yggdrasil aus der Edda. Die Baumverehrung als religiöser und spiritueller Schwerpunkt naturreligiöser Religionen ist weltweit zu bestimmten Zeiten nachweisbar. Wir wissen nicht, ob es auf dem Boden der heutigen Bundesrepublik jemals Schamanismus in seiner vollen Ausprägung gegeben hat, schamanische Praktiken aber gewiss. Der Weltenbaum wird in schamanischen Traditionen durchaus auch als Leiter dargestellt, auf der man in die verschiedenen Welten reisen kann. Der Schamane reist in der mittleren Welt, der Erfahrungswelt der Menschen, also in unserem physikalischen Zeitgefüge. Bei Reisen in die unteren und oberen Welten jedoch verlässt er das uns bekannte Raum-Zeitkontinuum. Der Schamane wird auf einer solchen Reise in einen zeitlosen Raum geführt, eine zeitlose Dimension, in der er ebenso zeitloses Wissen erhält … auch über die wahre Natur der Dinge.
Und nach „oben“, in die oberen Welten, reist der Schamane, wenn er seine geistigen Helfer oder anders ausgedrückt: seinen Lehrer, seine Lehrerin treffen will. Warum in dieser zeitlosen anderen Dimension? Nach schamanischem Verständnis sind die Wesen und Wesenheiten in dieser anderen Dimension soweit distanziert, dass sie uns Menschen ebenso distanziert aber auch mitfühlend begegnen können. Der Abstand vermag wieder Nähe zu erlauben.
Krafttier ist ein Begriff aus neuerer Zeit, mit dem tierische Geistwesen beschrieben werden, die helfen und schützen sollen, und die in gewisser Weise auf Dauer oder für eine bestimmte Zeit mit dem Menschen verbunden sind. Krafttiere sind nicht zu verwechseln mit Hilfsgeistern oder geistigen Helfern. Krafttiere findet der Schamane – und jeder schamanisch Reisende – in der Regel in der unteren Welt. Diese erreicht man gem. Harner am besten über ein Loch in der Erde. Einmal da, geht man zügig durch den sich auftuenden Gang nach unten, bis ein Ausgang erreicht wird, der den Reisenden in die untere Welt, die in der Regel licht und hell ist, entlässt.
„Neulinge des schamanischen Reisens leiden häufig an Zweifel und Unsicherheit. Sie halten die Erfahrungen auf ihrer Reise für selbstgemachte Einbildungen ... Das Thema Einbildung oder gedankliches Machen wird in der Abwertung innerer Erlebnisse als Phantasie bereits allzu deutlich. … die schamanische Landkarte, ihre Einteilung in Welten, mitunter auch viele Etagen in einer der Welten, kann als Ausdruck der Vielschichtigkeit, Weite und Tiefe der schamanischen Erfahrung gedeutet werden.“
„Für den Gläubigen der Neurobiologie mag hilfreich sein, dass im Erwartungsraum schamanischen Erlebens die Aktivierung solcher Verschaltungen eine besondere Rolle spielen, die mit Phantasie, mit Imaginationen, mit verborgenen psychischen Welten verbunden sind. Diese Erfahrungsmuster werden, wie schon angedeutet, insbesondere in der Kindheit angelegt. Sie werden bei manchen Menschen, je nach Bedingungen des Lebens und der Begabung, weiter rührig sein. Bei den meisten Menschen aber treten die entsprechenden Hirnschaltungen erst wieder hervor, wenn sie Kinder haben oder von Kindern dahin geführt werden. In vernünftiger und logischer Kontrolle der Realität erstarrte Menschen sind, ganzheitlich gesehen, schlecht beraten. Sie tun Träume, intuitive Einfälle, ahnungsvolle Zeichen und Synchronizitäten, unerklärliche Geschehnisse oder Erlebnisse ab und treten als Verfechter logischer Ableitungen und ansonsten des Zufallsprinzips auf.“
Aus “Schamanismus und Psychotherapie”, Winfrid Picard, Param-Verlag, Seiten 72/73 und Seite 46.
Der geistige Erfahrungsraum ist eigentlich unendlich; dennoch ist jeder Mensch geprägt von persönlichen Wahrnehmungen und Erlebnissen, von Umwelt, Biologie und Genen. Geisthelfer, Ahnen, Seelen, Geister und andere Erscheinungsformen sind in einer archaischen naturnahen Kultur bekannt. In unserer heutigen Welt sind es das Unbewusste, das Verdrängte, Ich, Es und Über-Ich, Krankheit versus Gesundheit, – nicht jedoch Kraft gegenüber Kraftlosigkeit, Seelenstärke gegenüber Seelenschwäche. Heute wird das Schädigende weggenommen, das Kranke repariert, wobei „Krank = Schlecht“ ist. Wir sind Einzelwesen, einzeln glücklich oder unglücklich, krank oder gesund, was immer das bedeuten mag. Unsere Krankheiten sind psychischer Natur oder somatischer. Und wenn man nicht genau weiß, dann ist es eben psychosomatisch. In schamanischen Kulturen hingegen sind Psyche, Geist und Spiritualität nicht voneinander zu trennen, auch nicht vom Körper.
Nun gibt es Menschen, die sagen, dass es heute keines schamanischen Arbeitens bedürfe. Zum einen seien wir zu weit weg vom Erlebnisumfeld archaischer indigener Kulturen. Zum anderen hätte sich im Zuge der menschlichen Entwicklung eben die Erkenntnis unserer Tage aus dem Alten heraus entwickelt, quasi linear, so auch die moderne Psychotherapie und Medizin.
Auch C. G. Jung, der als Begründer der analytischen Psychologie gilt, sprach noch von „Primitiven“ und deren Vorstellungen von Leben und Spiritualität. Jung beschrieb die im sogenannten kollektiven Unbewussten angesiedelten Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster. Es seien dies psychische Strukturdominanten, die unbewusst wirken und somit das Bewusstsein beeinflussen. Hier kommen dann auch die sogenannten Urerfahrungen ins Spiel, wie z. B. Geburt, Kindheit, Fight & Flight – Entscheidungen. Die moderne Genetik wiederum diskutiert sogenannte genetische Abdrücke (Imprints), mit denen sich Erinnerungen an ganz bestimmte – oft auch traumatische – Ereignisse sozusagen vererben – weswegen sie auf „normalem” psychotherapeutischem Weg überhaupt nicht erreichbar seien. Das ginge – paradoxerweise – wieder nur in einer Gesellschaft, in der mittels anderer Wirklichkeiten und Welten und der Vorstellung von Ahnen in einer „realen Anderswelt“ ein anderer Zugang zu Erinnerungen möglich ist. Moderne Verfahren wie das Familienstellen oder imaginative Verfahren bewegen sich allerdings auch heute in diese therapeutische Richtung.
Freud wiederum sah den Menschen als grundlegend triebgesteuert an, aus dem Unbewussten heraus (das es aufzulösen galt) handelnd. Er modifizierte gleichermaßen die Struktur des „psychischen Apparates“. Aber während Freuds Theorien die Tiefenpsychologie bis heute nachhaltig geprägt haben, fanden Jungs Theorien und Erkenntnisse mehr Kritiker als Befürworter. Mit seiner Symbolik und seiner Vorstellung von Archetypen, die sich als universell vorhandene Urbilder in den Menschen darstellen, rief er Unverständnis und Misstrauen hervor. Er bezeichnete Archetypen als Energiekomplexe, die in Träumen aber auch in Neurosen und Wahnvorstellungen ihre Wirkung entfalten. Er sah sich als Psychotherapeut in der Rolle eines Begleiters seines Patienten – nicht aber als „Experte“. Und hier kommen wir zu einem bedeutsamen Unterscheidungsmerkmal zwischen moderner Psychotherapie und heilendem schamanischen Arbeiten.
„Im traditionellen Schamanismus ist der therapeutische Behandler der aktive Teil, er ist derjenige, der für die Kräfte der Heilung zu sorgen hat. Diese Rolle wird in der modernen Psychotherapie unterdrückt, obwohl sie unterschwellig stattfindet. Es würde als Problem der Gegenübertragung angesehen, wenn der Therapeut selbst Helfergestalten erlebt, deren Eingreifen er wünschen könnte. Es könnten Helfer sein, die er an der Seite der Patienten wahrnimmt, oder die er anruft, dem Patienten zur Seite zu stehen.“
Aus „Schamanismus und Psychotherapie“, Winfrid Picard, Param-Verlag, Seite 117
In der modernen Psychotherapie verbleibt der Therapeut zum einen im Zustand der Abstinenz gegenüber seinem Patienten, gleichwohl ist er der Experte, in den seitens des Patienten sehr viel Helfererwartung projiziert wird. Dadurch verlässt sich der Patient nicht wirklich auf seine eigenen Kräfte, obwohl er ja auf therapeutischem Wege zumindest im Rahmen der Tiefenpsychologie alleine „dem Täter auf der Spur ist“. Im Schamanismus hingegen begibt sich der Schamane für seinen Patienten auf eine Trancereise in die nichtalltägliche Wirklichkeit, um dort und meist mittels seiner persönlichen Helfer und Krafttiere, Hilfe für den Patienten oder den Stamm zu holen.
Schamane und Psychotherapeut; Medizinmann und Mediziner
Psychotherapie gilt der gezielten Behandlung einer psychischen Krankheit. Die Behandlung soll die Behebung eines bestimmten Problems anstreben und somit zeitlich begrenzt sein. Coping–Strategien (Verhaltensanpassungen) stehen dabei immer noch im Vordergrund. Reparatur statt Heilung? Was aber ist ein Schamane? Ist er Psychotherapeut, ist er Medizinmann, Mediziner, Kräuterhexe, Priester?
Man könnte sagen, er ist ein spiritueller Spezialist, der ebenfalls eine soziale Funktion hat. Das unterscheidet ihn vom Psychotherapeuten und auch vom Mediziner moderner Prägung. Ob und inwieweit dieser spirituell das „Große Ganze“, das Transzendente, sieht, ist individuell und darf mit beruflichem Ethos und seiner originären Aufgabe innerhalb der „Medizin“ nicht kollidieren.
Schamanismus ist keine Religion, sondern begründet sich in einer kulturübergreifenden Form des Verständnisses von einer (all!) beseelten Natur. Darauf bauen sich alle religiösen, spirituellen oder heilerischen Wahrnehmungen und Praktiken auf. Ein Schamane kann Medizinmann/-frau sein, Zauberer oder „Weise Frau“ – muss aber nicht. Im Zentrum seiner Aufgabe steht der Kontakt zur nichtalltäglichen Wirklichkeit.
Ein Schamane ist nicht einfach Schamane, weil er sich diesen Beruf aussucht, lernt, studiert und dann nach einer Prüfung eben Schamane ist. Er hat ein Berufungserlebnis. Auch Psychotherapeuten fühlen oft, dass eine der Grundvoraussetzungen für ihren Beruf eine gewisse Berufung ist. Viele haben selbst traumatische Ereignisse in ihrem Leben zu bewältigen, bevor sie in der Lage sind, psychotherapeutisch zu arbeiten. Eigentherapie und Supervision gehören zu einer guten Ausbildung. Die Basis anerkannt therapeutischen Arbeitens ist jedoch eine nach wissenschaftlichen Kriterien anerkannte Ausbildung. Schamanen hingegen werden vielleicht bereits vom Stamm als Kinder für diese Aufgabe bestimmt (kulturabhängig), vielleicht werden sie durch ein äußeres oder inneres Ereignis ausgesucht – immer haben sie auch ein Berufungserlebnis, zeigt sich dieses nun in Krankheit oder Vision. Sie absolvieren eine Lehrzeit bei erfahrenen Schamanen, gefolgt von einem Initiationserlebnis. Der Begriff „Zerstückelungserlebnis“ taucht immer wieder auf. Hier wird eine Aktion beschrieben, während der ein künftiger Schamane in einer Trancereise von Wesen – meist Tieren – komplett zerstückelt, auseinandergerissen, in seine Einzelteile zerlegt wird, um dann wieder zusammengesetzt zu werden. Dieses schamanische Initiationsritual beschreibt Desintegration, sodass Teile des Selbst vom erlebenden Ich nicht mehr als zusammengehörig erlebt werden. Die sogenannte schamanische Krankheit, die als berufendes Ereignis für Schamanen gilt, passt in ein Denkprinzip, demnach alle Menschen, die sich von Berufs wegen in irgendeiner Form mit der menschlichen Psyche auseinandersetzen, die dahinter liegenden Wirkmechanismen am „eigenen Leib gespürt“ haben oder sich mit ihnen auseinandergesetzt haben müssen – sei es nun in einer archaischen Visionssuche, sei es mittels moderner Supervision.
Anwendung schamanischer Praktiken in der modernen Heilpraxis
In Trance befinden wir Menschen uns öfter, als wir glauben. Schon, wenn wir ein ständig wiederholtes Geräusch nicht mehr wahrnehmen, obwohl es noch da ist, wenn wir in der Bahn sitzen und „einfach so“ den Menschen hinterherschauen, befinden wir uns in eine Art Trancezustand. Wenn wir Tagträumen oder „unter Drogen“ sind oder durch überproportional erhöhte Konzentration auf eine Sache fokussiert sind, geraten wir in Trance. Schmerz, Hyperventilation und traumatische Ereignisse versetzen uns ebenfalls schnell in eine Art Trancezustand. Der Schamane hingegen reist bewusst und in einem Zustand kontrollierter Trance, und zwar nicht „irgendwohin”, sondern einem Plan, einer Art Landkarte folgend, die durchaus als eine Widerspiegelung mentaler Zustände betrachtet werden kann. Das unterscheidet den Schamanen und damit das schamanische Arbeiten sehr deutlich von anderen Verfahren, seien sie spirituellesoterischer, seien sie psychotherapeutischer Natur.
Psyche, Seele und Geist und Symbole
Der Begriff „Geist“ ist mehrdeutig und unterschiedlich interpretiert. Zum einen beschreibt er ganz pauschal die kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Zum anderen stellen sich viele Menschen unter einem Geist (auch dem Heiligen Geist) ein körperloses Wesen vor, welches dennoch häufig menschenähnliche oder wesensähnliche Züge hat.
Im heutigen Sprachgebrauch wird Seele oft gleich Psyche angenommen; sie beschreibt somit alle Gefühlsregungen und geistigen Fähigkeiten. Aber: Es gibt auch noch den spirituellen Bereich, und in diesem wird unter Seele eher etwas Immaterielles verstanden, etwas „die Zeiten Überdauerndes“ (siehe die Annahme von der „Unsterblichen Seele“, die zu retten in vielen Religionen wichtiger ist als „Körper und Geist“). In indigenen schamanisch orientierten Kulturen ist der „Spirit“, der Geist = die Kraft = die Seele, die allem in der Natur inhärent ist. Das heißt: Alles ist belebt, alles ist beseelt. Seelen(an-)teile können verloren gehen oder in die Irre, sich am falschen Platz befinden und/oder ihre Kraft verlieren. Und hier einzuwirken, ist eine der Aufgaben eines Schamanen.
Denn „weg“, in dem Sinne von „nicht mehr vorhanden“ sein, können Seelenanteile nicht. Natürlich ist auch ein schamanisch arbeitender Mensch konditioniert und determiniert, aber ihm bleibt die Unendlichkeit des geistigen Raumes, ja, des Universums mit all seinen Lebensformen. Die theoretisierenden Konzepte moderner Psychotherapie hingegen begrenzen psychotherapeutische Arbeit häufig, sodass diese eher mechanistisch, reparierend als wieder „ganz-“machend wirkt. Und hier liegt eine Chance für schamanisches Arbeiten!
Im Schamanismus wird mit Symbolen gearbeitet. Sie haben hier aber eine andere Bedeutung als in der Psychotherapie (Beispiele: Wiese, Fluss, Berg, Haus). Sie werden nicht interpretiert; sie werden nicht als Sinnbilder mit einem bestimmten Gehalt gesehen. In der Psychologie wird unter einem Symbol oft etwas verstanden, das quasi außerhalb des menschlichen Selbst existiert, und zu ihm in Bezug gesetzt werden muss – mittels Interpretation. Es gilt als Projektionsfläche. Der Schamane kann das Symbol als eigenständigen Träger von Wissen und Informationen sehen, dessen er sich bedienen kann. Er kann den/die diesem jeweiligen Symbol innewohnende Geist/Seele z. B. um Hilfe bitten.
Krankheit und Seelenanteile, die „da nicht hingehören“
Im Gegensatz zu üblichen psychotherapeutischen Verfahren reist der schamanisch arbeitende Praktiker für seinen Patienten/ Klienten. Er sucht Antworten auf Fragen, versucht Seelenanteile im Körper des Patienten zu erkennen, die dort nicht hingehören, um sie dann zu extrahieren, oder er bringt verloren gegangen Seelenanteile zurück. Die Foundation for Shamanic Studies hat jedoch einen Begriff geprägt, der schamanische Beratung der modernen Verfahrensweise annähert, doch innerhalb der schamanischen Denk- und Erlebensweise verbleibt: Shamanic Counselling ist der durch Michael Harner bekannt gewordene Begriff dafür.
Hauptziel ist es dabei, den Patienten/Klienten dazu zu befähigen, selbst eine schamanische Reise zu unternehmen, um spiritueller Kraft und neuen Einsichten und somit neuen Handlungsspielräumen zu begegnen. Unterschied zu moderner Psychotherapie: Nichteinmischung des Therapeuten in die persönlichen Interpretationen, nicht einmal mittels der Symbolik moderner imaginativer Verfahren!
Nach schamanischem Verständnis entsteht Krankheit dort, wo der Mensch nicht im Gleichklang, in Harmonie mit seiner Kraft ist. Aus welchen Gründen auch immer hat dieser Mensch dann Seelenanteile verloren; sie sind ihm wie auch immer abhandengekommen, oder aber er hat Seelenanteile aufgenommen, die „da, wo sie jetzt sind“, nicht hingehören.
Um bei der Extraktion zu bleiben: Im Gegensatz zu moderner Medizin ist dabei das krankmachende „Agens“ nicht böse, im Sinne von schlecht; es gehört da, wo es ist, nur nicht hin … vielleicht ja woanders hin in der großen weiten Natur, aber nicht „hierhin“. Der Schamane versucht nun Antworten zu finden, die ihn befähigen, diese fehlgeleiteten Seelenanteile dem betroffenen Menschen zu entnehmen (und ggf. verlorene Seelenanteile zurückzuholen). Zusätzlich dazu werden unter Umständen noch weitere heilkundliche Verfahren hinzukommen. Die wesentliche Aufgabe des Schamanen besteht jedoch, hinter das Offen-sichtliche zu schauen!
Entsprechend schamanischer Denkweise ist die Seele der Ort unserer wahren Kraft! Noch im Begriff Seelenheil sehen wir, dass sich die Vorstellung davon über die Jahrtausende erhalten hat, wenngleich er in unserer Welt ein vom täglichen Leben oft abgetrenntes religiöses Dasein lebt. Dem Schamanismus ist eine dualistische Sichtweise vom Leben des Menschen und seiner Seelen inhärent. Grundsätzlich hat nach schamanischer Vorstellung ein Mensch zwei Seelen:
Die Funktionsseele oder auch die Lebensseele, die dem Erhalt des Körpers dient. Hier hat auch wiederum jedes Teil des menschlichen Körpers wiederum eine Seele.
Die andere große Seele ist die freie Seele, die, die nicht an den Körper gebunden ist.
Beide Seelenprinzipien gehören zusammen. Und ist dieses Gleichgewicht gestört oder gehen Seelenanteile verloren, sei es durch Verletzungen oder in Träumen, sei es, dass Verstorbene einen Teil der Seele mitgenommen haben („an diesem Tag ist ein Stück von mir gestorben“), erleidet der betroffene Mensch Verlust, der mit Funktionseinschränkungen, Vitalitätsverlust und eventuell Tod einhergehen kann.
Auch der Aspekt der Seelenrückholung hat in der modernen Heilpraxis bislang keinen Platz gefunden, wenngleich holistische Gedankenansätze, denen gemäß der Mensch ein Teil des Universums ist, und andere so genannte ganzheitliche Ansätze dieses eigentlich empfehlen. Dabei ginge es nicht einmal um den Ersatz moderner Heilweisen durch schamanisches Arbeiten. Aber so wie der Schamane in andere Wirklichkeiten reist, um aus der größeren Distanz und in spiritueller Verbindung mit anderen Wirkmechanismen hinter das Vordergründige, das Offensichtliche, zu schauen, so könnte eben dieser umfassendere und weitergespannte Blickwinkel neue Einsichten auch in der modernen Medizin und Psychotherapie bescheren.
Carola Seeler
Die Betriebswirtin arbeitet seit 20 Jahren bei einer großen Organisation, die sich mit dem Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern befasst. Sie ist Autorin, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP) und Heilpraktikerin für Psychotherapie.