Interkulturelle Kompetenz für die Praxis
Die kulturelle Brille: Alle sind anders – ich bin es auch!
Teil 2
Unsere kulturelle Brille, geformt nicht zuletzt durch gruppendynamische Konditionierungen, ist stark mit ausschlaggebend dafür, was wir wahrnehmen, wie wir es wahrnehmen und wie unsere Wertstellung dazu ist. Sie ist maßgeblich für ausgeprägte oder mangelnde Flexibilität im Umgang mit anderen, fremden, neuen Situationen und Menschen. Sie ist deshalb ausschlaggebend für unsere Handlungen und unser Verhalten. Sie ist zwar auch abhängig von der jeweiligen individuellen „Biologie“ und der mentalen, psychischen und physischen Verfassung. Sie liegt aber mitnichten „im Blut“. Grundsätzlich können wir deshalb Verhaltensmuster auch anpassen; wir können lernen, verlernen oder neu lernen. Wir können aber vor allem hinzulernen und auf diese Weise interkulturelle Kompetenz erlangen. Diese stellt zunächst lediglich fest, dass Kultur nicht überall gleich ist und dass sich Menschen aufgrund ihrer jeweiligen kulturellen Konditionierungen nicht immer und überall in gleicher Weise auf neue Gegebenheiten einstellen können – weil sie diese entweder gar nicht erkennen, und wenn doch, sie an ihrem jeweiligen Wertemaßstab messen. So senden sie Zeichen aus, Signale, die der „andere“ nicht verstehen kann, und sie reagieren auf Signale des „anderen“ für diesen ebenso befremdlich. Missverständnisse sind vorprogrammiert, negativer Stress wird produziert, gesteckte Ziele können nicht erreicht und gewünschte oder erhoffte Ergebnisse nicht erzielt werden. Kein Mensch auf dieser Welt kann alle kulturellen Besonderheiten aller Kulturen kennen oder erkennen – und schon gar nicht kann er von einer kulturellen Sichtweise zur nächsten springen. Möglich ist aber, sich ein Bewusstsein dafür anzueignen, dass es neben den eigenen Sichtweisen, Denk- und Handlungsmustern auch andere gibt, OHNE diese von vornherein zu werten und zu verurteilen. Das ist interkulturelle Kompetenz. Und erst, wenn eine solche erreicht wurde, ist echte (interkulturelle) Kommunikation möglich.
Die Kultur einer Gruppe zeigt sich unter anderem ganz simpel darin, was und wie gegessen wird, wie wir uns kleiden und aufeinander zugehen, aber eben auch darin, wie wir denken, fühlen und handeln. Es geht um das Verständnis von Zeit, Hierarchien, Wertmaßstäben, Sachlichkeit und Persönlichkeit, Ehre, Individuum und Gemeinschaft. Kultur beinhaltet unsere Normen, Werte und Haltungen. Nehmen wir die Zwiebel. Wenn wir alle Schalen davon Stück für Stück abschälen, kommen wir letztlich zum Kern, der das Wesentliche der Zwiebel darstellt. Der französisch-niederländische Wissenschaftler Alfons „Fons“ Trompenaars, ein Protagonist im Bereich interkultureller Kommunikation, stellt Kultur ebenfalls anhand einer Zwiebel dar, der Kulturzwiebel.
Er setzt die explizite Kultur, die sich auf Gegenstände und Produkte im weitesten Sinne bezieht, also auf das, „was man sieht“, auf die äußeren Schalen. Die mittleren Schalen beinhalten Werte und entscheiden über das, was „Gut und Böse“ ist. Im Kern der Zwiebel befinden sich die impliziten Werte, d. h. die grundlegenden Annahmen über die Existenz. Der Zwiebelkern beinhaltet den Motor, der sich aus Werten, Normen und Glaubenssätzen zusammensetzt. Diesen Motor kann man als Außenstehender meist nicht sehen. Er ist es aber, der den Menschen in Bezug auf seinen Umgang mit Raum und Zeit, Freundschaft, Sippe, Clan, Familie, Gesellschaft, Kindererziehung, Geschlechterrolle, Arbeitsmoral antreibt und beherrscht.
Bedeutung am Beispiel aus der Praxis
„Sagen Sie mir doch einfach in wenigen Worten, was Ihnen fehlt. Haben Sie eventuell Probleme zu Hause?“, fragt der Heilpraktiker A. seine Patientin, die wegen massiver Rückenbeschwerden in seine Praxis gekommen ist. Sie kommt aus einem anderen Kulturkreis. Klinischen Untersuchungsempfehlungen ist sie nur bedingt zugänglich.
„Haben Sie sich zu dem Gymnastikkurs angemeldet, den ich Ihnen empfohlen habe?“ Frau O. weicht aus und erzählt stattdessen von der Oma, die nächste Woche zu Besuch kommen wird.
Es kann verschiedene Gründe für diese Antwort geben, die dem behandelnden Heilpraktiker gar nichts sagt, da er keinen Bezug zur Frage sieht. Deutschland ist ein hoch individualisiertes Land, Omas sind wichtig, ihr Besuch auch. Aber was der Besuch der Oma mit einem notwendigen Gymnastikkurs zu tun haben soll, leuchtet ihm nicht ein.
Er fragt nach: „Sie könnten aber dennoch zu dem Kurs gehen. Der tut Ihnen gut. Sie müssen mehr an sich denken ...“
An sich gedacht – losgelöst von der Familie – hat Frau O. ihr ganzes Leben noch nicht. In Deutschland denkt man immer an sich, denkt sie, alles Egoisten ohne Sinn für die Familie. Und sie überlegt, ob sie weiterhin zu diesem Heilpraktiker gehen soll. A. hingegen versteht Frau O. entweder gar nicht oder hält sie für unterdrückt, weil sie gar nichts Eigenes machen darf.
„Darf“: A. hört die Antwort, bewertet sie sofort aufgrund seiner persönlichen kulturellen Konditionierung und denkt, dass er sich klar ausgedrückt hat – Frau O. denkt das über ihre Antwort übrigens ebenfalls und findet ihre ablehnende Haltung berechtigt. In ihrem Leben gilt das Individuum wenig, die Gruppe alles. Vielleicht folgt sie auch einem Weltbild, in dem das Leben von Frauen und Männern getrennt stattfindet und Frauen niemals mit Männern in einem Gymnastikkurs turnen würden. Frau O. kommt aus einer Kulturregion, in der man nie eine negative Antwort geben würde, zumindest nicht so brutal direkt. Das ist unhöflich. Für sie ist A. unhöflich und versteht sie nicht.
Er hingegen hat eine typisch deutsche „klare“ Ansage gemacht, gerichtet an seine Patientin, die nun eine ebenso klare Antwort geben und die vor allem den Kurs zu ihrem eigenen Besten besuchen soll. A. folgt seiner kulturellen Konditionierung, nach der man erstens klar und direkt sagt, was „Sache“ ist, um die es letztendlich geht, und man zweitens ebensolche Antworten erwartet, und zwar möglichst zügig, denn Zeit ist knapp. Für Frau O. hingegen verläuft Zeit nicht linear, sondern wird der Situation angepasst.
Frau O. hat starke Rückenbeschwerden. A. hat zudem den Verdacht, dass sie zu viel arbeitet und unter psychosomatischen Beschwerden leidet, die auch daher rühren können, dass sie in einem kulturellen Spannungsfeld lebt. Er möchte ihr helfen, deren unruhiges „gestresstes“ Verhalten in der Praxis auffällig ist. Sie fühlt sich aber durch die direkte Ansprache unter Druck gesetzt. Wie soll sie mit dem Thema Gymnastikkurs umgehen? Sie empfindet die Besuche bei A. zunehmend als Belastung. Sie überlegt, „da“ nicht mehr hinzugehen, da ihr augenscheinlich ohnehin nicht geholfen werden kann.
Bevor man an dieser Stelle als Behandler/-in aufgibt, könnte man fragen: Was will ich von und mit dem Fremden? Was ist mein persönliches, was ist das berufliche Ziel, das ich vertrete? Jede Beratung, jede Therapie ist nur so gut wie die Diagnose. Und diese beinhaltet auch kulturelle Aspekte und kulturspezifi sche Besonderheiten. Eine davon ist, dass psychotherapeutische Ansätze in vielen Ländern der Welt keine Tradition haben. Sie sind nicht nur nicht bekannt, sondern stehen oft auch der eigenen Lebensweise entgegen. In vielen Ländern gibt es klare Regeln, die das Leben und das Miteinander bestimmen und formen. Probleme bleiben in den eigenen vier Wänden, sind und bleiben Aufgabe der Gemeinschaft. Und wenn doch einmal Probleme angesprochen werden müssen, geschieht dies auf eine indirekte Weise, ebenso indirekt wird dann (s. „Oma“) die Ablehnung ausgedrückt oder auf Alternativen hingewiesen, die das Gegenüber aus dem persönlichen und kulturellen Gesamtzusammenhang erkennen soll. Ob man diesen kulturellen Gepflogenheiten folgen kann und mag, ist eine Sache. Wer jedoch Kommunikationshindernisse erkennt, erhält einen anderen Zugang zum betreffenden Menschen; ihm öffnen sich möglicherweise neue Wege.
Carola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Betriebswirtin, Trainerin, Coach, Buchautorin