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"fressen und kotzen" Bulimie: Meist trifft es sehr starke Frauen, die unter enormem Druck stehen.

Bulimie ist eine Essstörung, die von unkontrollierten Fressattacken und gezieltem Erbrechen gekennzeichnet ist. Für die Betroffenen – fast ausschließlich Frauen – bedeutet die Ess-Brech-Sucht eine enorme Belastung.
Die Frauen führen in der Regel ein nach außen stabiles, oftmals sogar ausgesprochen erfolgreiches Leben. Trotz ihrer enormen körperlichen, psychischen und finanziellen Auswirkungen wird die Bulimie meist über viele Jahre perfekt verschleiert – was den Druck zusätzlich erhöht. Je nach Studie sollen in Deutschland 1 % bis 7 % der Menschen von einer Ess-Brech-Sucht betroffen sein; die Dunkelziffer ist sehr hoch. Andrea Ammann aus Ottikon im Kanton Zürich (Schweiz) begleitet seit Jahren Betroffene aus der Bulimie zurück in die – wie sie sagt – Freiheit.

Andrea Ammann litt nach eigenen Worten selbst fast 20 Jahre an Bulimie. Vor 19 Jahren gelang es ihr, den Teufelskreis aus ungezügelten Fressattacken und anschließendem Erbrechen zu verlassen.

Sie weiß: Für Außenstehende, auch für Therapeuten (immer m/w/d), ist Bulimie kaum zu erkennen. Betroffene müssen darum selbst aktiv werden, sich professionelle Hilfe suchen.

Die Schweizerin will Mut machen, diesen Schritt zu gehen: Generell braucht es meistens Zeit und einen erheblichen Leidensdruck, ehe sich jemand wegen psychischer Schwierigkeiten professionelle Unterstützung sucht.

Dies gilt aber, so Andrea Ammann, noch einmal mehr bei Bulimie.

Diese Störung entsteht oft aus dem Gefühl heraus, dass man denkt nicht in Ordnung zu sein. Betroffene bauen eine perfekte Fassade auf, um dem hohen Eigenanspruch und den – vermeintlichen – Vorstellungen des Außen zu entsprechen. Im Laufe der Jahre fällt es immer schwerer, sich einzugestehen, dass man in ernsthaften Schwierigkeiten steckt und dringend Hilfe braucht.

Für Andrea Ammann war eine Vergewaltigung Auslöser für die Bulimie. Doch die Ursachen sind vielfältig: „Man will für das Außen perfekt sein, keine Angriffsfläche bieten. Betroffene sind häufig sehr feinfühlig und sensibel und haben nie lernen können, sich und ihre Feinfühligkeit vor unqualifizierter Kritik zu schützen.“

In vielen Fällen ist Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper Auslöser für eine Ess-Brech-Sucht – ein Risiko, das sich durch die durchweg hochgetunten und gephotoshopten Perfekt-Bilder in den sozialen Medien noch erhöht. Ebenso kann es bei einer Bulimie aber auch um den Wunsch gehen, sich mit einer megafitten Sportoptik eine Art Rüstung gegen eine überperfektionierte Welt zuzulegen.

Während das Leben so mehr und mehr in ein Korsett gezwungen wird, um eben ein möglichst perfektes Bild abzugeben, entwickelt sich das unkontrollierte Essen zu einer Art Ventil, sagt Andrea Ammann: „Mit der Zeit gibt’s nur noch Schwarz und Weiß – absolute Kontrolle und totaler Kontrollverlust.“ Ungezügelte Fressattacken dienen als „Befreiungsschlag“, als eine Art bewusster Kontrollverlust. Den darf aber natürlich das Umfeld nicht bemerken; das Erbrechen stellt damit die Kontrolle wieder her.

Fressattacken und Erbrechen sind eine scheinbare Möglichkeit, der selbst auferlegten totalen Kontrolle zu entrinnen. Häufig werden gerade erfolgreiche Frauen Opfer einer Bulimie. „Ich habe eine Klientin, die hat jahrelang morgens auf dem Weg zur Arbeit jede Menge belegter Brötchen gekauft, alle gegessen und als Erstes im Büro auf der Toilette wieder erbrochen. Der Bäcker glaubte, sie würde morgens die ganze Büromannschaft mit Frühstück versorgen.“ Verheiratete Frauen mit Bulimie führen oftmals ein Doppelleben: Tagsüber ist alles gut und normal; nachts, wenn Mann und Kinder schlafen, „fressen und kotzen“ sie, wie Andrea Ammann drastisch formuliert.

„An Wochenenden oder wenn man sonst allein ist, kann das tagelang so gehen, immer rein und wieder raus.“

„Zwei Einfamilienhäuser zum Klo runtergespült“

Dass das die Psyche belastet, liegt natürlich auf der Hand. Doch eine Ess-Brech-Sucht kann außerdem schwere körperliche Folgen haben, etwa dass durch die ständige Magensäure-Zufuhr Zähne und Speiseröhre zerstört werden. Und sie hat erhebliche finanzielle Auswirkungen. Andrea Ammann: „Eine 57-jährige Klientin sagte, sie habe im Laufe der Jahre schon zwei Einfamilienhäuser zum Klo runtergespült. Und eine junge Frau beziffert die Kosten ihrer Bulimie auf ,locker 3 000 Euro‘ im Monat.“ Betroffen sind aber auch ärmere Frauen, die sich dann massenweise billigste und ungesündeste Nahrungsmittel beschaffen. Bei ihrer Arbeit mit und für Frauen und Mädchen mit Bulimie profitiert Andrea Ammann von der eigenen Erfahrung als ehemals Betroffene: „Ich kenne die ganzen Ausreden und Hintertürchen, mit denen sich die Frauen als Opfer darstellen. Damit kommen sie bei mir nicht durch – ich weiß ja selber, wie das ist! Ich leite die Frauen an, sich selbst und ihre Denk- und Handlungsabläufe zu erkennen. Denn aus diesem Verständnis heraus kann man auch etwas ändern.“

„Locker 3 000 Euro im Monat“

Zu diesem „Erkennen“ gehöre auch, den eigenen Körper anzunehmen und ihn wertzuschätzen. „Ich kenne Frauen, die haben ihren Körper so gehasst, dass sie 20 Jahre im Dunkeln geduscht haben“, berichtet Andrea Ammann. Es falle Betroffenen schon sehr schwer, sich selbst einzugestehen, dass sie in einer Bulimie gefangen sind – noch viel mehr Mut brauche es aber, sich Hilfe zu suchen. „Die Frauen schämen sich! Meist sind es ja Frauen, die nach außen hin ihr Leben im Griff zu haben scheinen, die oft sehr erfolgreich sind.“ Darum sei es wichtig, Essstörungen generell und eben auch Bulimie zu entstigmatisieren.


Die Tendenz, gerade mit Blick auf die eigene Körperlichkeit völlig überzogene Vorstellungen zu entwickeln, wird gerade bei Mädchen und jungen Frauen durch Social Media noch verstärkt und setzt immer früher ein. Andrea Ammann arbeitet mit Zwölfjährigen, die schon mit acht Jahren in die Bulimie gerutscht seien. „Prävention wird immer wichtiger. Ich habe einen Tiktok-Kanal speziell zur Prävention“, sagt die Schweizerin. „Ich glaube, durch mehr Aufklärung und mehr Offenheit von Betroffenen würden die Fallzahlen sinken.“ Präventions- und Informationsangebote an Schulen und Hochschulen seien wichtig, denn hoher Leistungsdruck, fehlende gesellschaftliche und familiäre Orientierung und die – gefakten – Postings auf Instagram & Co. erhöhen das Risiko, an Bulimie zu erkranken.

Gefragt sind aber auch die Eltern: „Kinder müssen Kinder sein dürfen und sind so, wie sie sind, in Ordnung. Wir dürfen sie nicht über Leistung und Perfektion definieren.“

Andrea Ammann Expertin für Frauen mit Bulimie und Essstörungen
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Andrea Ammann wurde befragt von

Jens Heckmann Experte für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit, Mitglied im Service-Team des VFP Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.