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Achtsamkeit meets Tango – Menschen brauchen Berührung

Der Tastsinn ist bei der Geburt weiterentwickelt als alle anderen Sinne. Berührung ist damit unsere erste Sprache (Wagner, 2022). Dies ändert sich im Laufe unseres Lebens. Mit der Sprache und den zunehmenden kognitiven Fähigkeiten kommen die Bewertungen hinzu. Oftmals sind wir in vielen Situationen abgelenkt und befinden uns dabei gedanklich in der Zukunft oder verweilen in Erfahrungen aus der Vergangenheit. Dabei gibt es nur das eine Jetzt – unsere Gegenwart.

In meinen Kursen zur Achtsamkeit, die ich seit dem Jahr 2014 leite, setzen Menschen sich mit ihren eigenen Gefühlen und Haltungen auseinander. Es geht darum, den eigenen Körper und die Gedanken bewusster und wertfreier wahrzunehmen, sich selbst gegenüber Empathie und Akzeptanz zu entwickeln und in der Gegenwart zu bleiben. Das kann neue Gedankenimpulse geben und manchmal sogar neue Lebenswege eröffnen.

Aber die Körpersprache der Kindheit gerät oftmals in Vergessenheit. Wie können wir auch als Erwachsene die eigene Körpersprache wieder aktivieren? Mit welchen Körperhaltungen, Bewegungen und Schritten antworte ich auf die Körpersprache von anderen? Ängstlich, abwartend, forsch, klar, fröhlich, beschwingt? Welche Gefühle lösen Bewegungen bei mir aus? Gelingt es mir, auch die Körpersprache des anderen empathisch anzunehmen, zu akzeptieren und vielleicht sogar darauf einzugehen und etwas Gemeinsames, Kreatives zu entwickeln?

Meine Antwort: Ja, das geht. Und wenn man etwas Neues erlebt, denkt man gegebenenfalls auch etwas Neues! „Im menschlichen Gehirn entstehen bis ins hohe Alter hinein täglich neue Nervenzellen ... daher wirken sich geistige Aktivitäten wie Lesen, Lernen oder Puzzeln ebenso wie soziale Kontakte positiv auf die kognitiven Fähigkeiten aus“. (Pharmazeutische Zeitung, 2006).

In meinen Achtsamkeitskursen arbeite ich oft mit der Gehmeditation und dem Einüben des ruhigen Fließens des Atems. Auch der argentinische Tango beinhaltet viele fließende Gehschritte, die beruhigend wirken, wenn sich eine Verbundenheit mit der zweiten tanzenden Person entwickelt.

Dimitris Bronowski, Autor von Tangofulness (Bronowski, 2021), der das Atmen aus Achtsamkeitsübungen ebenfalls mit dem Tango in Verbindung gebracht hat, schreibt dazu: „Natürlich habe ich das auf den Tango übertragen. Wenn ich mich außerhalb der Milonga (eigene Anmerkung: argentinische Tanzveranstaltung) befinde, atme ich ein und erinnere mich beim Ausatmen daran, dass in dieser Milonga Menschen sind, die andere Menschen umarmen, die alle nach Akzeptanz, Anerkennung und Sicherheit suchen.“

Als ich mit Tangotanzen anfing, gingen mir viele Gedanken durch den Kopf

Wie gehe ich mit so viel Nähe um?

Tanze ich eng oder geschlossen?

Wie verbinde ich mich mit der anderen Person?

Wie gelingen die gemeinsamen Schritte?

Wie bleiben beide in ihrer Achse?

Was zeigt Tangotanzen von mir selbst und vom anderen?

Mein erster Weg führte mich zu Simone Schlafhorst, die Tangolehrerin ist und Neurotangotools für verschiedene Zielgruppen entwickelt hat (Schlafhorst, 2019). Angefangen hat sie mit der Leitung von Parkinsongruppen. Ihre Neurotangotools beinhalten einfache Gehschritte, angelehnt an Schritte des argentinischen Tangos. Frau Schlafhorst beschreibt diese Tools in ihrem Buch Neurotango® ausführlich und gibt auch gute Beispiele für Musikstücke und einfache Takte. Meine anderen Wege führten mich zur Kognitionswissenschaft, zur Verhaltenstherapie und in die Niederlande zu verschiedenen Tanzlehrern, zum Kontaktimprovisationstanz und zu einem Seminar zu Angela Nicotra nach Berlin.

Angela Nicotra schreibt dazu in ihrem Buch „In Kontakt mit der Realität“ in ihrer Einführung, „Die kulturellen Wurzeln des Tangos und seine formale Struktur lassen diesen Tanz zu einer komplexen Erfahrung nicht nur auf physischer, sondern auch auf psychischer und emotionaler Ebene werden“ (Nicotra, 2014, Seite 8).

Es war eine spannende Tanzreise, die weitergehen wird. Entstanden ist daraus mein Konzept AB=E. Achtsamkeit und Bewegung führt zu Entwicklung und Energie. Diese Erfahrungen der Verbindung möchte ich gerne weitergeben. Die Selbstfürsorge, auch ein Element der Achtsamkeit, steht ebenso im Vordergrund.

Zuerst bestand meine Zielgruppe aus Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Neuland betrat ich mit inklusiven Gruppen. Es meldeten sich Menschen zwischen 50 und 85 Jahren an, die einfache Tangoschritte lernen wollten. Es tanzen nun Menschen mit und ohne körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen miteinander. Eine spannende Zusammensetzung, auf die es individuell einzugehen gilt. Darunter befanden und befinden sich Menschen mit Adipositas, mit rheumatischen Erkrankungen, Depressionen, Angsterkrankungen, durch Unfälle Beeinträchtigte, hochaltrige Menschen und Personen mit beginnender Parkinsonerkrankung.

Dies ist nur durch eine hohe Akzeptanz aller Teilnehmer (immer m/w/d), die aus Verbundenheit, Spaß und Gruppengefühl gebildet wird, möglich. Viele Paar- und Gruppenübungen wirken dabei unterstützend.

Zur ersten Kursstunde erfolgt jeweils eine Kurzeinführung über Achtsamkeit und die Geschichte des argentinischen Tangos, der ja Weltkulturerbe ist. Nach dem Erklären des Blickkontakts (Mirada) und der Aufforderung (Cabaceo) probieren es die ersten Mutigen schon mal aus und es wird viel gelacht.

Es wird in der Übungshaltung getanzt, bevor die offene Tanzhaltung des Tango Argentino, die Tanzrichtung im Raum und Vals, Milonga und Tango erklärt werden. Eine Akzeptanz innerhalb der Gruppe und die Selbstfürsorge, die ebenfalls wichtig ist, sind auch ein Thema. Jede Person erzählt dabei so viel von sich, wie sie möchte.

Außer der Tangomusik gibt es jeweils ein Musikstück zum freien Tanzen. Das kann ein Twist oder je nach Gruppenzusammensetzung auch einmal ein fröhliches Lied von Heinz Rühmann sein.

Es gibt jeweils eine führende und eine folgende Tanzperson, die sich nonverbal mittels Körpersignalen verständigen. Wenn beide spüren, dass sie auf dem gleichen Standbein und Tanzbein stehen, kann es losgehen.

Wer sich zu weit nach vorne oder nach hinten beugt, ist nicht in der eigenen Achse und kann durch die Gewichtsverschiebung die Stabilität und das gemeinsame, fließende Tanzen beeinträchtigen. Sowohl die führende als auch die folgende Rolle wird innerhalb des Tanzpaares und innerhalb der Gruppe gewechselt.

Ausnahmen werden von allen akzeptiert. Zum Beispiel, wenn die an Parkinson erkrankte Person sich beim Rückwärtsgehen zu instabil fühlt oder eine Person wegen eines Tremors, der durch Aufregung noch verstärkt wird, nur mit dem eigenen Tanzpartner tanzen möchte.

Kursmaterialien sind neben Yogablöcken Seile (Üben des geraden Gehens vorwärts und rückwärts), Übungen zu Nähe und Distanz (dem anderen mittels Bewegungen zeigen, inwieweit er auf einen zukommen oder in der Bewegung stoppen soll) und vieles mehr.

Ein Kursziel ist es, aufrechter zu gehen, sicherer in der eigenen Achse zu stehen, gerade Schritte, Seit- und Wiegeschritte, kleine Drehungen und den Grundschritt, die Baldoza (acht Schritte und eher ungeeignet für eine Milonga auf kleinem Raum), tanzen zu können.

Am Ende des Kurses hat sich oft bei allen die Stimmung, die Beweglichkeit, die Konzentration, die Koordination und das Selbstwertgefühl verbessert. Die Stimmung ist entspannt. Nach dem Kurs wird oft noch länger zusammengesessen und viel gelacht. Besonders die Übungen mit geschlossenen Augen oder das Auffordern der Kursleitung, die dann auch mal die Augen verbunden hat, sorgen für Heiterkeit.

Sehr Mutige setzen sich auf den dafür bereitgestellten „Aufforderungsstuhl“, verbinden sich die Augen und warten gespannt darauf, aufgefordert zu werden. Von wem, bleibt jeweils ein Geheimnis, da die Augenbinde erst nach der geführten Rückkehr zum Platz wieder heruntergenommen wird.

Teilnehmende stellten für sich folgende Auswirkungen fest

Ein adipöser Tänzer konnte seine Ausdauer und Koordination verbessern. Er musste sich zwar zu Beginn öfter einmal ausruhen und hinsetzen, konnte aber zur Musik auch im Sitzen weiter Bewegungen machen. Er dachte wertfreier über seine Gedanken und Gefühle nach.

Eine Tänzerin mit Angststörung erklärte, sich in der Gruppe sicher zu fühlen und schon viel weniger Angst zu verspüren. Sie gab später an, nun auch besser in der eigenen Achse stehen zu können.

Eine ältere, verwitwete Tänzerin freute sich, endlich wieder Körperkontakt zu haben und nicht nur allein zu Hause zu sitzen. Außerdem habe sich ihre Stimmung verbessert, sie könne sich wieder besser konzentrieren und habe nun wieder eine andere Tagesstruktur.

Teilnehmer mit depressiven Erkrankungen fühlten ein neues Selbstwertgefühl und wollten sich anschließend bei einer Tanzschule zu einem Tango Argentino Tanzkurs anmelden. (Anmerkung: Ich benenne bei solchen Nachfragen grundsätzlich alle Tanzschulen in der Umgebung, die mir bekannt sind). Beide Teilnehmer hatten vorher aber über eine längere Zeit einen Achtsamkeitskurs bei mir belegt.

Eine Teilnehmerin rief spontan während einer Kursstunde „Die Energie heute ist so toll.“ und beim nächsten Mal „Die Energie ist heute aber etwas anders“. Einige Teilnehmende wollten an diesem Tag neue Figuren ausprobieren und kämpften ein wenig damit, bevor die Akzeptanz einsetze, dass es heute eben nicht besser ginge. Die Teilnehmerin mit den beiden unterschiedlichen Ausrufen vermisste an diesem Tag eine Tänzerin, die nicht teilnehmen konnte. Somit kamen die verschiedensten Eindrücke zusammen. Jeder von uns kennt die unterschiedlichsten Einflüsse und eigenen Stimmungen, die uns täglich beeinflussen.

Oft werden mir Fragen zum richtigen Schuhwerk gestellt. Die Geschäftsführerin eines Geschäfts für Tanzbedarf war so nett, sich auf meine Anfrage hin hinzusetzen und für ältere und/oder gehbehinderte Menschen einen eigenen Katalog mit entsprechenden Schuhen zu erstellen. Diesen gebe ich weiter. Auch die jüngeren Kursteilnehmerinnen tanzen im Kurs lieber auf Schuhen mit flachen Sohlen oder in Tanzsneakers. An dieser Stelle nochmals von allen vielen Dank nach Berlin!

Am letzten Abend gibt es für alle Kurse eine kursinterne „Milonga“ mit Speisen und Getränken und dem Auffordern nach argentinischer Art.

Leben ist Verbindung – Leben ist Freude – Leben ist Lernen

Ich danke allen Teilnehmenden für ihre Offenheit, ihr Vertrauen und für den gemeinsamen Spaß. Ihr berührt mich, wir berühren uns.

Literatur
Literaturhinweise können bei der Autorin angefordert werden.

Susanne Scheil
Diplom-Sozialarbeiterin, Heilpraktikerin für Psychotherapie

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