Systemische Einwände erkennen und behandeln
Ein emotional-systemischer Ansatz zur Therapie transgenerativer Traumata
Wenn die Therapie ins Stocken gerät oder bereits erzielte Erfolge wieder verloren gehen, können systemische Wirkfaktoren die Ursache sein. Das hier vorgestellte therapeutische Format „Emotionalsystemische Freistellung“ (ESF) erweitert die bekannte Klopfakupressur-Methode EFT um die strukturierte Einbeziehung systemischer Einwände. Dieser emotionalsystemische Therapieansatz eröffnet überdies neue Wege zur Behandlung transgenerativer („vererbter“) Traumata und der damit verbundenen psychischen und körperlichen Symptome.
Emotionen, Kontexte und Einwände
Im EFT [EFT 2012] werden Emotionen als Bewertung des gerade wahrgenommenen Kontextes aufgefasst. Ein Klient mit Redeangst etwa bewertet den Kontext, vor einer größeren Menge von Menschen zu reden, mit bestimmten belastenden Emotionen, welche dann diverse Symptome zur Folge haben können. Für die Therapie nutzen wir die Fähigkeit des Klienten, sich Kontexte vorzustellen, um die damit verknüpften belastenden Emotionen hervorzurufen und anschließend durch Beklopfen aufzulösen.
Schon der Klopfakupressur-Pionier Roger Callahan erkannte, dass der Behandlung oft Einwände in Bezug auf die positive Selbstwahrnehmung des Klienten entgegenstehen. Ein Einwand ist eine mit dem behandelten Thema zusammenhängende Emotion mit veränderungshemmender Wirkung, weil sie für den Klienten einen höheren Stellenwert in der subjektiven Gesamtbewertung hat. Dieser als „psychologische Umkehrung“ bezeichnete Effekt wird im EFT-Eingangssatz durch einen therapeutischen Einwand (z. B. „Auch wenn ich X habe, liebe und akzeptiere ich mich selbst“) temporär entmachtet.
Ich gehe davon aus, dass jeder Einwand aus triftigem Grund besteht, auch wenn dem Klienten dies nicht unbedingt bewusst ist. Die Formulierung des EFT-Eingangssatzes zielt auf Einwände in Bezug auf die Wahrnehmung des eigenen Ich-Kontextes. Der Mensch nimmt aber auch die Emotionen Anderer, z. B. die seiner Bezugspersonen und nahen Angehörigen wahr. Sie machen den subjektiv wahrgenommenen systemischen Kontext aus, in dem sein Verhalten sowie seine Symptome und Emotionen einen Sinn ergeben. Ebenso wie der im EFT-Eingangssatz angesprochene Ich-Kontext kann darüber hinaus auch der systemische Kontext mächtige Einwände gegen eine Veränderung begründen, wie das nachfolgende Beispiel aus der Arbeit mit einem Kind mit ADS-Symptomen („Träumer“) veranschaulichen soll.
Systemische Einwände
Der 9-jährige Leon konnte sich in der Schule und auch sonst kaum konzentrieren, schaltete immer wieder ab und brauchte sehr lange zum Einschlafen. Die Behandlung seiner Einschlafprobleme zeigte anfänglich gute Erfolge, bis wir auf ein Gefühl von ESF Traurigkeit stießen. Trotz wiederholter Arbeit daran ließ sich seine Traurigkeit nicht unter einen SUD-Wert (subjektive Stressintensität auf einer Skala von 0–10) von 4 klopfen. Ich ließ ihn seinen Vater Peter visualisieren und fragte, welche Emotionen er bei ihm wahrnehme. Leon antwortete: „Traurigkeit“. Auf einmal wurde erkennbar, dass Leon das Gefühl von Traurigkeit nicht erfunden, sondern übernommen hatte. Während seine Einschlafprobleme relativ leicht zu bearbeiten waren, erwiesen sich seine offensichtlich mit dem Vater zusammenhängenden Traurigkeitsgefühle als ausgesprochen hartnäckig.
Ein systemischer Einwand kann aus emotionaler Perspektive wie folgt definiert werden: Ein systemischer Einwand entsteht durch eine mit einer wichtigen Person im Gefühl liebender Loyalität und Verbundenheit geteilte Emotion.
Anders – und etwas EFT-näher – formuliert: Ein systemischer Einwand beruht im Kern auf einer (meist unterbewussten) Angst vor dem Verlust des Gefühls der Zugehörigkeit bzw. der Loyalität zu einer Person.
Das Beispiel verdeutlicht, dass die emotionale Bewertung des systemischen Kontextes mächtiger ist als die des Ich-Kontextes. Dieser Umstand erklärt für mich auch die Wirksamkeit systemischer Familienaufstellungen, in denen zur Auflösung verschiedenster Symptome mit Krankheitswert fast ausschließlich an der Wahrnehmung von Beziehungen zwischen Familienangehörigen gearbeitet wird. Auch das in therapeutischen NLP-Formaten häufig genutzte NLPKonzept der Logischen Ebenen [Öts 2012] besagt, dass die höheren Ebenen die niedrigeren dominieren. In Anlehnung an das hierarchische Modell der Logischen Ebenen lässt sich eine Hierarchie Sinn gebender Kontexte aufstellen.
Dabei behindern emotionale Einwände höherwertiger Kontexte die Auflösung belastender Emotionen eines niederwertigeren Kontexts. Der systemische (Beziehungs-) Kontext steht an höchster Stelle, der situative Kontext an unterster Stelle.
Behandelbarkeit systemischer Einwände
Vom EFT-Gründer Gary Craig haben wir gelernt, dass die zu behandelnden Emotionen bzw. Symptome treffgenau benannt werden müssen. In dem Beispiel war der in der Behandlung verwendete Standard- Eingangssatz „Ich fühle diese Traurigkeit und ich bin OK“ eine unvollständige Beschreibung der emotionalen Wahrnehmung des Kindes, weil die Emotionen des Vaters nicht mit angesprochen wurden. Dieser nicht erfasste systemische Einwand blockierte die vollständige Auflösung des Gefühls der Traurigkeit.
Bei Kindern hat die Loyalität zu ihren Eltern aufgrund der Abhängigkeitssituation eine existenzielle Bedeutung. Dies könnte zumindest teilweise meine Beobachtung erklären, dass Behandlungserfolge gegen systemische Einwände bei Kindern, sofern überhaupt erzielbar, meist wenig nachhaltig waren. Die Situation der Erwachsenen unterscheidet sich allerdings in einem wichtigen Punkt von der der Kinder: Erwachsene stehen in der Regel nicht mehr in Abhängigkeit zu ihren Eltern. Ihre systemischen Einwände sind in diesem Fall „nur noch“ als Emotionen gespeichert. Damit öffnet sich die Tür zur nachhaltigen Auflösung systemischer Einwände bei Erwachsenen, im besten Fall so effizient, wie wir es mit EFT auch sonst gewohnt sind.
Systemische Übernahme von Emotionen
Nachdem bei der Behandlung von Leon die Struktur des systemischen Einwands erkennbar wurde, arbeitete ich mit seinem Vater Peter am Thema Traurigkeit. Peter war ein offener, sympathischer und lebenslustig wirkender Mann, liebevoll bemüht um seine Familie. Von Traurigkeit war für mich zunächst absolut nichts zu spüren. Beruflich war er in leitender Position erfolgreich, fühlte sich allerdings durch seine vielen Aufgaben im Betrieb sehr gestresst. Er konnte nicht „nein“ sagen, wenn die Firma ihm noch mehr Arbeit auflud, ihn im Urlaub anrief usw. Peters Thema dahinter war, dass er sich als Kind von seinem Vater Wilhelm nicht als Person, sondern allenfalls für seine Leistung gesehen fühlte. Als wir an dieser Stelle tiefer einstiegen, kam plötzlich die Traurigkeit zum Vorschein, die Leon bei ihm wahrgenommen hatte und über die sie nie gesprochen hatten!
Wie schon bei Leon wurde auch bei Peter erkennbar, dass seine belastende Emotion der Traurigkeit mit dem Erleben des eigenen Vaters verknüpft war. Es galt nun, die systemisch übernommenen belastenden Emotionen bei Peter zu behandeln. Dazu wurde das nachfolgend beschriebene Format entwickelt.
Emotional-systemische Freistellung (ESF)
Das ESF-Format der emotional-systemischen Freistellung wurde entwickelt, um Emotionen und die zugeordneten systemischen Kontexte möglichst klar zu identifizieren und damit einer Behandlung mit EFT unmittelbar zugänglich zu machen. Ziel ist es, den Klienten von einer dauerhaft aktiven, belastenden Emotion X sowohl für sich selbst (Ich-Kontext) als auch in seiner Wahrnehmung der hierfür „zuständigen“ Bezugsperson (systemischer Kontext) freizustellen.
Ablauf
ESF kann grob in die nachfolgend beschriebenen sechs Abschnitte unterteilt werden. Wer mit dem NLP-Konzept der Wahrnehmungspositionen bzw. dem therapeutischen NLP-Format „Drei Positionen“ vertraut ist, wird einige Elemente wiederfinden.
1. Vorgespräch: Feststellung der zu behandelnden Emotion X, der beteiligten Bezugsperson und Formulierung des Wunsches an die Bezugsperson
Wichtig ist es, eine dauerhaft aktive, oft geradezu lebensbestimmende wahrgebende Emotion in den Fokus zu bekommen. Unter einer wahrgebenden Emotion verstehe ich eine Emotion, welche die Wahrnehmung, und damit die Befindlichkeit und das Verhalten, des Klienten, dauerhaft und in vielen Situationen maßgeblich beeinflusst. Eine wahrgebende Emotion beschränkt die emotionale Wahlfreiheit des Betroffenen und führt so zu wiederkehrenden und belastenden Reaktionsmustern.
Wenn die aufzulösende Emotion bekannt ist, kann die damit verknüpfte Bezugsperson ermittelt werden. Um die zugrunde liegenden Loyalitäten aufzudecken, hat sich die systemische Unähnlichkeitsfrage als hilfreich erwiesen: „Wem wärst du unähnlicher, wenn du diese Emotion bzw. diese Symptome nicht mehr hättest?“
Bei Peter war die Traurigkeit darüber, sich von seinem Vater Wilhelm nicht als Person gesehen bzw. wertgeschätzt zu fühlen, ein zentraler Wirkfaktor für seine Überarbeitungssituation. Die Formulierung des Wunsches von Peter an Wilhelm wurde wie folgt gewählt: Vati, ich möchte mich als Mensch gesehen und frei von Traurigkeit fühlen können.
Hierzu einige Erläuterungen: Die Ansprache wird so gewählt, dass der Klient sie als Einleitung für ein empathisches Gespräch über ein wichtiges persönliches Anliegen wahrnimmt (Peter hat seinen Vater Vati genannt).
Das Wort möchte soll ausdrücken, dass der Klient seine Bezugsperson achtet und respektiert und nichts erzwingen will. Das Anliegen wird sowohl positiv als auch negativ formuliert, jeweils für den Klienten stimmig. Das Wort können am Ende betont die angestrebte emotionale Wahlfreiheit. Der Klient soll ja nicht generell unfähig werden, Traurigkeit zu empfinden, sondern emotional flexibel werden und die jeweilige Situation angemessen wahrnehmen können. Je kürzer und prägnanter der Satz insgesamt, desto besser.
2. Markierung von drei Wahrnehmungspositionen im Raum: für das Selbst (S), die Bezugsperson (B) und die Meta- Position (M)
Ich lasse den Klienten die Positionen im Raum festlegen, wobei Selbst und Bezugsperson aufeinandergerichtet sind. Als Markierungen haben sich mit den Vornamen der Personen beschriftete Zettel bewährt.
Die verschiedenen Positionen helfen dem Klienten, die Emotionen in verschiedenen Kontexten zu unterscheiden. Die Meta- bzw. Beobachter-Position wird im späteren Verlauf immer zwischen den Positionswechseln von S nach B und umgekehrt eingenommen. Dies hilft dem Klienten, aus den Rollen wieder auszusteigen und ermöglicht außerdem jederzeit die Unterbrechung des laufenden Prozesses. Auf der Meta-Position rede ich mit dem Klienten über den Fortgang der Intervention und hole ggf. neue prozessrelevante Informationen ein.
3. Auf Position S: Aussprache des Wunsches an die visualisierte Bezugsperson
Ich bitte den Klienten, die Bezugsperson auf der Position B zu visualisieren und mit ihr Kontakt aufzunehmen. Dann lasse ich ihn seinen Wunsch laut und deutlich an die Bezugsperson richten. Ich frage anschließend, wie es ihm dabei gegangen ist und welche äußerlich sichtbaren Reaktionen er bei der Bezugsperson wahrgenommen hat.
Erfahrungsgemäß tauchen spätestens hier beim Klienten verschiedene Themen und Emotionen auf, die ich an Ort und Stelle beklopfe. Diese Vorgehensweise behalte ich während des gesamten Prozesses bei, sodass der Klient immer im möglichst guten Gefühl bleiben kann. Wenn seine Emotionen eskalieren oder der Prozess aus irgendeinem Grund ins Stocken gerät, wechsele ich mit ihm auf die Meta-Position und hole zusätzliche Informationen ein. (An dieser Stelle ein großes DANKE an meine Klienten für die vielen Ideen und Einsichten, die wir gemeinsam auf der Meta-Position entwickeln konnten!)
Schritt 3 ist abgeschlossen, wenn der Klient einen SUD von 3 oder weniger und das Gefühl hat, dass sein Wunsch bei der Bezugsperson angekommen ist.
4. Auf Position B: Behandlung der im Wunsch genannten und weiterer relevanter Aspekte
Ich bitte den Klienten nun, in die Rolle der Bezugsperson zu treten. Für manchen Klienten ist dies nicht leicht, also mache ich schon im Vorfeld Mut, beklopfe etwaige Bedenken und versichere, dass ich ihn bestmöglich begleiten werde. Weiterhin erkläre ich ihm, dass es im Prozess allein auf seine subjektive Wahrnehmung in der Rolle ankommt. Es ist weder sicher noch für den Prozess relevant, ob die Bezugsperson im realen Leben tatsächlich genauso fühlt oder gefühlt hat.
Wenn er in der Rolle angekommen ist, spreche ich ihn mit dem Vornamen der Bezugsperson an. Ich zitiere den auf Position S geäußerten Wunsch des Klienten im Wortlaut und frage ihn, welche Emotionen, Erinnerungen usw. das bei ihm auslöst. Oft kommen neben den im Wunsch enthaltenen Aspekten weitere belastende Emotionen zum Vorschein, die ich allesamt beklopfe.
Abgrenzend zur im Familienstellen nach Bert Hellinger vertretenen Auffassung sehe ich in der Einnahme der Wahrnehmungsposition B durch den Klienten und seiner dort wahrgenommenen Emotionen keinen Effekt eines „morphogenetischen Feldes“ oder einer „repräsentativen Wahrnehmung“ von Gefühlen. Ohne diese Erklärungsmodelle infrage stellen zu wollen, gehe ich für ESF davon aus, dass der Klient in der Position B seine eigene Interpretation der Emotionen der Bezugsperson beklopft. Ebendiese Interpretation halte ich für die emotionale Grundlage der problematischen Reaktionsmuster des Klienten.
Zurück zum Beispiel:
Als der Klient in der Rolle von Wilhelm ankam, wurde das Gefühl der Traurigkeit sehr stark und er sagte (als Wilhelm): „Ich kenne das Gefühl sehr genau. Mein Vater Karl hat mich überhaupt nicht als Person beachtet.“
Die hier erkennbare generationsübergreifende belastende Emotion kann als transgenerativ weitergegebenes Trauma aufgefasst werden. Zur Freistellung von geteilten bzw. übernommenen belastenden Emotionen verwende ich das „Wir-Klopfen“.
Wir-Klopfen
Wenn zwei oder mehrere emotional verbundene Personen dieselbe belastende Emotion empfinden, kann diese dem systemischen Kontext zugeordnet werden. Einer einseitigen Freistellung von dieser Emotion steht somit ein mächtiger systemischer Einwand entgegen.
Beim Wir-Klopfen wird die Freistellung erreicht, indem der Klient sein Gegenüber visualisiert und mit ihm gemeinsam die belastende Emotion beklopft. Dafür wird der EFT-Eingangssatz wie folgt abgeändert:
Wir haben X und wir sind OK und unsere Verbundenheit bleibt bestehen.
Damit wird die als systemischer Einwand wirkende Angst vor dem Verlust des Zugehörigkeitsgefühls in den EFT-Eingangssatz integriert. Die gemeinsame belastende Emotion wird in der Wahrnehmung des Klienten zeitgleich für sich selbst und sein Gegenüber aufgelöst.
Ich bat den Klienten in der Position von Wilhelm, sich um 90 Grad zu drehen und seinen Vater Karl zu visualisieren. Der Klient nahm wahr, dass Karl dieselbe Emotion der Traurigkeit in sich trug. Ich klopfte mit Wilhelm und Karl den folgenden Satz: Wir haben dieses Gefühl der Traurigkeit und wir sind OK, wie wir sind, und unsere Verbundenheit bleibt bestehen.
Daraufhin löste sich die Traurigkeit schnell auf und machte einem Gefühl von Liebe und Frieden Platz.
Anders als etwa bei einseitigen Affirmationen wird die verbindende Loyalität bei dieser Vorgehensweise nicht angetastet, sondern gestärkt: Der Klient erlebt den Prozess zumeist als einen Akt der liebend-solidarischen Befreiung.
Das Wir-Klopfen kann auch als radikale und wahrhaftige Form der Vergebung verstanden werden: Das behandelte Thema, auf dessen emotionaler Grundlage sich meist viele Probleme und Kämpfe entwickelt haben, ist buchstäblich kein Thema mehr.
In vielen Fällen tauchen an der Position B weitere systemisch relevante Themen auf, bsw. im Kontext der Mutter, älterer Geschwister oder anderer wichtiger Personen. Alle Themen werden nach demselben Grundmuster behandelt, wobei die Beschreibung der hierfür bisher entwickelten Sätze und Prozessvarianten den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.
Schritt 4 ist abgeschlossen, wenn es dem Klienten in der Position B gut geht und er in Bezug auf alle relevanten belastenden Emotionen einen SUD von 0 hat.
5. Auf Position B: Aussprache des Lösungssatzes ans Selbst mit Reinheitsprüfung
Ziel dieses Schrittes ist es, die vollständige Auflösung der belastenden Emotionen auf der Position der Bezugsperson sicherzustellen und darüber hinaus dem Klienten die Botschaft zu übermitteln, dass sich er und seine Nachkommen in Bezug auf das Problem frei fühlen können. Der Lösungssatz lautet wie folgt: Du kannst dich frei von X fühlen und Y leben, so wie ich mich frei von X fühlen und Y leben kann.
Ich bitte den Klienten aus der Position B heraus, den Lösungssatz ans Selbst zu richten und seinen Körper im Hinblick auf die empfundene Reinheit und Wahrhaftigkeit zu überprüfen.
Dabei achte ich von außen auf die Kongruenz seiner Körpersprache. Gegebenenfalls weise ich den Klienten auf Inkongruenzen hin und lasse ihn noch einmal genau nachspüren. Auf diese Weise kommen nicht selten weitere subtile Einwände zum Vorschein, die meist zu einer „Nachspielzeit“ führen: Einmal herangekommen an tief liegende und systemisch übernommene Emotionen, versuche ich mit dem Klienten gemeinsam, innerhalb einer Sitzung eine möglichst „Einwand-freie“ Freistellung zu erreichen.
Nachdem alle belastenden Emotionen bearbeitet waren, bat ich den Klienten, aus der Position B ans Selbst folgende Sätze zu richten:
Lieber Peter, du kannst dich frei von Traurigkeit fühlen, so wie ich mich frei von Traurigkeit fühlen kann.
Lieber Peter, du kannst dich als Person gesehen fühlen, so wie ich mich als Person gesehen fühlen kann.
Der Klient empfand beim Aussprechen der Sätze ein Gefühl von Liebe und Frieden. Ich nahm ihn als sehr authentisch, kongruent und gefestigt wahr. Offensichtlich war das Thema im Kontext Wilhelm emotionalsystemisch gelöst.
Schritt 5 ist abgeschlossen, wenn der Klient beim Aussprechen des Lösungssatzes einen SUD von 0 hat. Zeigen sich weitere Einwände, werden diese wie in Schritt 4 behandelt und danach Schritt 5 wiederholt.
6. Auf Position S: Aktualisierung der Wahrnehmung der Bezugsperson
Zum Abschluss bitte ich den Klienten, wieder die Ausgangsposition S einzunehmen und die Bezugsperson zu visualisieren. Ich spreche ihn an, wiederhole den Satz der Bezugsperson und frage ihn, ob er den Satz von ihr annehmen kann. Weiterhin frage ich ihn nach seiner Wahrnehmung von sich selbst und der Bezugsperson in diesem Moment. In aller Regel nimmt der Klient beide als entspannt wahr. Oft kommen aber auch Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und/oder an der Nachhaltigkeit des neuen Gefühls auf. Bei Bedarf beklopfe ich Sätze wie etwa „Meine Befürchtung, dass dieses Gefühl nicht lange anhalten wird ...“.
Schritt 6, und damit ist ESF abgeschlossen, wenn der Klient einen SUD von 0 in Bezug auf das Thema hat. Es kommt vor, dass an dieser Stelle plötzlich ein völlig neues Thema auftaucht, das in der Regel mit einer anderen wichtigen Person zusammenhängt. Die Behandlung weiterer Themen vertage ich auf einen anderen Termin.
ESF-Anwendung
Nachfolgend gehe ich auf einige aus meiner Sicht wichtige Aspekte im Zusammenhang mit der Durchführung der ESF und die Einbeziehung einzelner systemischer Elemente in andere EFT-Formate ein.
Energetische Auflösung und Reframing
In seltenen Fällen gelingt eine Auflösung einer belastenden Emotion trotz aller Bemühungen nicht bis zu einem SUD von 0. Dann greife ich auf das aus der systemischen Familienaufstellung bekannte Ritual des Zurückgebens in Liebe und Achtung zurück: Der Klient bekommt einen Gegenstand in die Hand, in den er die belastende Emotion X eingibt. Anschließend legt er den Gegenstand auf der Position der jeweiligen Person mit den Worten nieder: „Hiermit gebe ich dir X in Liebe und Achtung zurück, es ist nicht meins.“
In aller Regel wird damit eine deutliche Erleichterung erreicht. Wie auch immer dieser Effekt in der systemischen Familienaufstellung erklärt wird: Für die ESF gehe ich von der Vorstellung aus, dass die Emotion X nicht energetisch aufgelöst, sondern durch Zuordnung zu einer anderen Person entmachtet wird. Dies erinnert an die in therapeutischen NLP-Formaten häufig verwendete Technik des Kontext-Reframings. Auch wenn das offenbar gut funktioniert, bevorzuge ich als EFT-Therapeut das Klopfen.
Nachwirkungen
ESF ist eine sehr tiefgehende Intervention, die eine deutliche Veränderung der Wahrnehmung, und damit auch der eigenen Befindlichkeit, bewirken kann. Je etwa ein Drittel der behandelten Klienten spüren keine, mäßige oder sehr deutliche Nachwirkungen, die ich auf unterbewusste Neubewertungsprozesse zurückführe. Eine gewisse Umstellungszeit wird offenbar gebraucht, um sich nach dem oft jahrzehntelangen Einfluss einer, die gesamte Wahrnehmung filternden Emotion neu zu orientieren. Intensive Träume kommen häufig vor, nicht selten auch eine „merkwürdig veränderte“ Wahrnehmung. Ein Klient sagte eine Woche nach ESF: „Als ich aus der Praxis herauskam, dachte ich, ich wäre nicht mehr ich.“ In allen beobachteten Fällen verschwanden die Nachwirkungen innerhalb von drei bis vier Tagen.
Ich empfehle den Klienten, nicht unmittelbar nach der Intervention Auto zu fahren, sondern sich für eine gewisse Zeit zu entspannen und sich etwas Ruhe zu gönnen. Weiterhin biete ich eine telefonische Nachbetreuung an, falls sich der Klient nicht gut fühlen sollte.
Integration systemischer Elemente in EFT
Einzelne ESF-Elemente – z. B. das Wir- Klopfen – lassen sich spontan und nahtlos in die bekannten EFT-Formate integrieren. Wenn ein Symptom nicht in der ersten EFTRunde vollständig verschwindet, gehe ich von der Existenz systemischer Einwände aus und lasse ausgewählte ESF-Elemente in den Prozess einfließen. Die früher häufig eingesetzten „Rest-von-X-Runden“ kommen kaum noch vor. Auch verzichte ich auf die Empfehlung, hartnäckige Symptome persistent zu klopfen.
Aus meiner Sicht unterstreichen die Erfahrungen mit dem systemischen EFT Gary Craigs Grundannahme, dass jede negative Emotion auf einer Energieflussunterbrechung im Meridiansystem beruht. Für mich persönlich habe ich Garys Devise „Try it on everything“ folgendermaßen ergänzt: Wenn eine belastende Emotion nicht schnell durch Klopfen entmachtet wird, behandle den systemischen Einwand.
Erfahrungen
Die ersten Erfahrungen mit der ESF gehen auf das Jahr 2008 zurück, seither wurde das Format kontinuierlich weiterentwickelt und gehört seit 2009 zum Repertoire in meiner Praxis. Bis dato (Juli 2012) habe ich die ESF über 200-mal durchgeführt, in aller Regel mit signifikanten und nachhaltig positiven Ergebnissen. Nach der Anwendung im Rahmen der emotional-systemischen ADS/ ADHS-Therapie konnte regelmäßig eine deutliche Entspannung in der Familie beobachtet werden. In vielen Fällen konnte auf die Medikation der Kinder mit Ritalin/Methylphenidat verzichtet werden.
Peter fuhr wenige Tage nach der Intervention für zwei Wochen in Urlaub und berichtete beim nächsten Termin, knapp vier Wochen nach der Behandlung, über zahlreiche Veränderungen.
Hier die Top 3: Gleich, als er nach Hause kam, ließ er seine eigentlich geplante Arbeitsvorbereitung liegen, um freudig und entspannt mit seinem Sohn Essen zu gehen. Sein Handy hat er erstmals nicht in den Urlaub mitgenommen – völlig ohne schlechtes Gewissen. Die zusätzliche Abteilung, die ihm seine Firma, wie nach jedem Sommerurlaub, aufdrücken wollte, hat er zwar übernommen, die operative Leitung aber in Absprache mit der Betriebsleitung gleich an seinen Mitarbeiter Hans delegiert. Peters lockerer Kommentar: „Ich habe jetzt jeden Tag zwischen 15:00 und 15:30 eine Besprechung mit Hans.“
Ronald Hindmarsh
Heilpraktiker für Psychotherapie, seit 2005 eigene Praxis in Bremen. Thematische Schwerpunkte: ADS/ADHS, Burnout, Lernblockaden und Paartherapie. Entwicklung emotional-systemischer Therapieformate durch die Erfahrungen in der Behandlung von ADHS-Symptomen.