Esoterik und Wissenschaft: Glauben, Wissen und helfende Interventionen
„Wir machen gerade eine Ausbildung zum Angel-Life-Coach“, strahlte mich ein guter Bekannter an. Er und seine Partnerin glauben an Engel als „hilfreiche Wesen“, die man anruft und um Hilfe bittet. „Wir nutzen die Kraft und die Macht der Engel, um anderen zu helfen. Zum Beispiel rufen wir sie, wenn sie uns helfen sollen, dem Klienten gut zuzuhören. Dann bitten wir darum, dass sie unser Ego wegnehmen, damit wir uns auf den Klienten konzentrieren können.“
Der Engel als Helfer für einen selbst. So weit, so unproblematisch. Auch Gottesgläubige bitten um Unterstützung. Der Glaube an metaphysische Helfer hat spätestens mit dem modernen Menschen die Erde betreten. Die Idee des Helferleins konzipieren nicht nur esoterische und religiöse Ansätze, sondern auch psychologische. (Etwa die „Teilpersönlichkeiten“ aus einigen psychodynamischen Ansätzen, auch wenn diese Teilpersönlichkeiten im Individuum platziert werden und als wirksame Konstrukte gelten; oder die Rede vom „hilfreichen Unbewussten“ kann man in diese Schublade tun.) Man kann – man muss nicht.
Wenn allerdings Menschen, die Helfen als „Profession“ betreiben, den Ruf nach „höheren“ Helfern erschallen lassen müssen, um „professionell“ intervenieren zu können, dann stellt sich durchaus die Frage nach der Qualifikation. So wichtig dieser Pfad ist – momentan möchte ihn nur erwähnen, nicht verfolgen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auch darauf lenken, dass es Helfer gibt, für die metaphysische, im weiten Sinn der Rationalität entzogene Entwürfe von Wirklichkeit und Wahrheit eine Option sind. Meine Anmerkungen verstehen sich als Hindeutung, nicht als Ausdeutung.
Die Ausgabe des Magazins „ZEIT-Wissen“ (Juni/Juli 2011) hat ein Dossier: „Esoterik“. Das Dossier lässt eine immer wieder aufflammende Debatte aufleben. Sie dreht sich um die Frage nach der Gefährlichkeit von Esoterik. Meine Lesart schält folgende Aspekte heraus, die es wert sind, genauer angeschaut zu werden:
- Glauben(slehre) und Wissen(schaft) – Glaubens- und Wissenswahrheiten
- Scharlatanerie in der Praxis von esoterischen Heilmethoden und Suchtgefahr
- Zunehmende Salonfähigkeit oder Normalität esoterischer Entwürfe
Diesen Aspekten möchte ich einige Gedanken widmen, deren Ziel es ist, eine Debatte mit dem Vorzeichen der Verantwortlichkeit unter Beratenden in helfenden Berufen auszulösen.
Glauben(slehre) und Wissen(schaft) – Glaubens- und Wissenswahrheiten
„Das musst du mir einfach glauben – beweisen kann ich es nicht.“ – „Das ist zwar alles logisch und die Daten sprechen dafür, dass es so ist, wie du sagst – aber glauben tu´ ich es trotzdem nicht.“
Als ich das oben genannte Paar fragte, auf welchen Grundlagen ihr Engel-Glaube beruhe, ob Engel als Mittler fungieren und innerhalb welcher Anschauung von Mensch und Welt – da sah ich zu meinem inneren Entsetzen entschiedenes Kopfschütteln: „Ach, weißt du, das will ich gar nicht wissen. Ich finde es einfach schön, das zu glauben, und außerdem sehe ich ja, dass es funktioniert!“
Max Weber, der große Soziologe, sprach von der „Entzauberung“ der Welt durch Wissenschaft. Zauber als etwas für Menschen Unerklärbares hat mit Glauben(swahrheit) viel gemein.
Glauben ist nicht Wissen. Beides sind unterschiedliche Strategien und Weisen, Wirklichkeit zu erleben, zu deuten und in ihr zu handeln. So wenig wie Glauben auf Wissen ist Wissen auf Glauben zurückführbar. Daran ändern auch Jahrhunderte währende Versuche nichts, einen rationalen Gottesbeweis zu ersinnen. Die Differenz ist unaufhebbar, sie ist nicht zu überbrücken. Glauben und Wissen sind unterschiedlicher Art und Herkunft.
„Erkennen“ und so basiertes Wissen können Menschen auf vielfältige Art erlangen. Die einen nutzen primär das Potenzial des Verstandes, die anderen das der Emotionalität. Erfahrungen werden entsprechend dieser Präferenz des Erstzugangs zu Wirklichkeit gedeutet und in die Lebensführung eingespeist. (Der intuitive Zugang verbindet Elemente von beidem.) Spiritualität bezeichnet einen weiteren Zugang, der sich, das lässt sich trotz der Vagheit des Begriffs sagen, einem eher emotionalen oder emotiven, durch Gespür, „Ahnung“ (oder eben: Glauben) vermittelten Erkennen verdankt. Der Begriff Spiritualität wird in der Szene vor allem bemüht, wenn ein „rein geistiges“ oder „höheres“ Denken bzw. Bewusstsein in Rede steht. Spiritualität gehört eher dem Glauben als dem Wissen zu.
Wissende Erkenntnis ernährt sich von Resultaten, die die verschiedenen Werkzeuge von Wissenschaft zu Tage fördern: Denkund Schlussfolgerungsverfahren, Empirie und Theorie als Zugangs- und Beschreibungsweisen und die ihnen jeweils entsprechenden Kategorien und Kriterien sowie Verfahren in der Beweisführung und in der kritischen Prüfung. Dominierte bis in die 1950er Jahre in den Wissenschaften (außer in der Philosophie) die Hoffnung, es gebe letzte und erkennbare Wahrheiten, beherrscht heute ein Paradigma die Wissenschaften, das wahlweise Konstruktivismus, Konstruktionismus, Produktionismus, Konstitutionalismus oder schlicht Relativismus genannt wird. Es betont Pluralität und Heterogenität. Es werden keine letzten Wahrheiten gesucht, sondern Modelle und Strategien, die das, was ist, in seinem Funktionieren beschreiben. Theorien, Konzepte, Modelle dienen dazu, Gedachtes und Erfahrbares herzuleiten, zu beschreiben und Vorhersagen zu machen, die unabhängig vom subjektiven Glaubenssystem nachweisbar sind (!). Das so begründete Wissen versetzt Menschen in die Lage, „wohlwissend“ zu handeln. Wissen und rationales, sprachlich vermitteltes und argumentatives Verstehen sind miteinander verflochten. Beides lebt: ist dynamisch, adaptiv, iterativ und evolutiv.
Anders beim Glauben. In vielen religiösen und esoterischen Überzeugungen herrscht eine bemerkenswerte Intoleranz und Ultimativität vor. „Gott existiert“ oder „Natürlich werden wir wiedergeboren!“ oder „Rückführungen sind nötig, um glücklich werden zu können“. Glaubensinhalte gelten als absolut, wahr, unzweifelhaft und fix. Sie sind nicht adaptiv. Sie sind immun gegen Wissenselemente wie Daten und Fakten (während in Wissenschaften Glaubenssätze, siehe unten, durchaus Einlass finden). Insofern sind esoterische Entwürfe strukturell totalitär – und werden mit diesem Habitus konsequent kompromisslos proklamiert und verteidigt.
Wo wird diese Differenz bzw. werden Folgen dieses Unterschieds gefährlich? Wo aktualisiert sich das Risiko von Glauben? Gläubige in der Esoterikszene verweigern sich in der Regel der intellektuellen Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand. Es geht in dieser Auseinandersetzung nicht darum – siehe oben – Glauben in Wissen zu überführen, sondern darum, mit Verstandeskategorien wie die der logischen Konsistenz oder theoretischen Prüfung eine Befragung in Gang zu setzen, die die Fundamente des Glaubens aufdeckt und ihn nachvollziehbar macht. Es geht auch um skeptisches Fragen im philosophischen Sinn. Die Art der Antwort, die das Paar mir gab, habe ich oft gehört: „Ach ja – das Denken! Hör mir damit auf. Das führt doch zu nichts.“ Und: „Was habe ich davon, wenn ich meinen Glauben mit Fragen bombardiere, die ihn zerstören könnten? Nein, nein, das will ich nicht.“
In unterschiedlichen Kontexten ist erwiesen, dass, um es allegorisch zu sagen, Glauben Berge versetzen kann. Forschungen im Umfeld von Placebo und Nocebo dokumentieren dies genauso wie Untersuchungen bezüglich der Wechselwirkung zwischen Selbstbild, Selbstwertgefühl und Verhalten. Das Problematische bleibt so lange verborgen, wie es nur den Einzelnen, den Gläubigen selbst angeht und trifft. Ähnlich wie Träume normalerweise nur den Träumer beeinflussen (jedenfalls direkt). Riskant werden die Verabsolutierung von Glauben, die Weigerung einer kritischen Prüfung und das Festhalten an Inhalten (selbst angesichts von Kontextveränderungen) dann, wenn Gläubige mit ihrem Glauben auf andere Menschen einwirken, die sich ihnen anvertrauen. Hilfesuchende in der Esoterikszene sind erfahrungsgemäß äußerst labil und daher besonders beeinflussbar.
Da Gläubige keine belastbare empirische Evidenz für Heilversprechen haben, müssen sie das Moment des Glaubens verstärken. Folgt der Hilfesuchende dem Glaubensgebot, ist das der Beginn einer Reiseroute, der er lange folgen wird. Sie kann erfreulich sein. Dann haben Autosuggestibilität oder andere Facetten von Wirksamkeitsfaktoren gewirkt, wie etwa das nicht bewusste Verändern von Denk- und Verhaltensweisen, von Präferenzen und Gewohnheiten. Allein der Umstand, bei einem Heiler gewesen zu sein, verändert bereits etwas. Der Hilfesuchende schreibt Verbesserungen seines Zustandes monokausal dem Heiler zu. Die Folge: Der Hilfesuchende wird zum Gläubigen bekehrt durch vermeintliche Evidenz. Glaubensinhalte mutieren zu Fakten. Die Reise kann aber auch misslingen. Das Leiden währt fort. Dann steigen viele nicht aus, sondern machen einen reflexiven Schlenker: „Ich habe nicht genug geglaubt.“ Und das hören sie häufig sogar mit mahnendem Ton und bedrohlich wirkender Gestik von ihren Heilern. Die Folgerung: „Ich muss ich mich mehr anstrengen und glauben – und meinem Helfer vertrauen.“ Und wenn nicht dem, dann einem anderen. Die Karriere der Sucht hat in beiden Fällen begonnen. Sie gehorcht derselben Logik.
Scharlatanerie in der Praxis von esoterischen Heilmethoden und Suchtgefahr
Die Skizze hat gezeigt, dass es bewusster Scharlatanerie, also des Betrugs, nicht bedarf, um Suchtkarrieren zu starten. Und bitte: Es braucht zwei Akteure dafür. Nur: Helfende haben in unserer Gesellschaft und Kultur eine exponierte Stellung, daher Statusautorität, die ihnen zugeschrieben wird – und damit auch eine exponierte Verantwortung. Und darin versagen glaubende Helfer öfter als Vertreter der Wissenschaften.
Allerdings: In den 1990er Jahren habe ich zum Thema Therapiesucht gearbeitet. Damals hielten mir Psychologen und Psychotherapeuten vor, ich würde der Zunft schaden. Nun ja, das tat ich aus ihrer Sicht wohl. Auf zweierlei möchte ich hinweisen: Erstens enthalten auch wissenschaftliche Psychologiemodelle und Theorien Glaubensmomente, mindestens in der Form einer apriorischen Annahme, eines Axioms – einer Annahme, die nicht weiter begründet werden kann.
Ha, könnten Esoteriker jetzt feixen, da siehst du es! Die sind nicht besser! – Nun, so einfach ist es nicht. Axiome sind die ersten und damit grundlegenden Annahmen: das Fundament eines Gebäudes, dessen gesamte Architektur von diesen Aprioris systematisch und logisch stimmig aufgebaut ist. Das ist bei Glaubensgebäuden nicht zwingend so. Zudem reflektieren wissenschaftliche Theorien ihre epistemologischen Grundlagen. Das entfällt in der Esoterik völlig. Esoterische Modelle sind Spiele bei geschlossenen Türen. Zwar gibt es auch wissenschaftliche Theorien, die sich mit diesem Anwurf befassen müssen, etwa die Psychoanalyse. Aber hier geht es um metatheoretische Begründung und innere Logik, nicht – wie in der Esoterik – um materiale Glaubensinhalte wie etwa dem der Wiedergeburt oder der Abarbeitung eines Karmas. In der wissenschaftlichen Gemeinde gibt es zudem Kriterien der Überprüfung, die für alle Wissenschaften gelten – eine Art sozialer Kontrolle in der Wissensgenerierung.
Auch dies entfällt in der Esoterik. Glauben ist Beweisen und Argumenten nicht zugänglich. Wer glaubt, fühlt.
Kurz und gut: Gerade in den psychologischen Wissenschaften und der psychotherapeutischen Praxis haben wir es mit nicht beweisbaren Annahmen zu tun, mit Glaubenssätzen wie „Ein Ich gibt es“ oder „Das nondirektive Gespräch fördert die Selbstverwirklichung am besten“. Sie dienen der systematischen Grundlegung; aus ihnen werden Interventionsoptionen abgeleitet. Wissenschaftliche Gebäude gehorchen interner logischer Kohärenz und sind auf der materialen Ebene ein Spiel bei offenen Türen: Gerade psychodynamische Ansätze haben sich längst untereinander bereichert und stöbern in anderen Teildisziplinen und Wissenschaften herum (etwa in der Kognitiven und Behavioralen Theorie, in Soziologie, Anthropologie, Neurowissenschaft).
Das ist bei esoterischen Glaubenssystemen anders. Sie sind starr, geschlossen, unveränderlich. Sie können monothematisch daherkommen (Rebirthing etwa) oder als Patchwork, das Fragmente aus unterschiedlichsten, auch konträr zueinander stehenden Konzepten zusammenbastelt. Das „höhere Bewusstsein“, so der nichtintellektuelle Hinweis, vereinige aber Widersprüche und harmonisiere alles.
Therapiesucht kann sogar theoriebedingt sein: Der Klient glaubt (!) dem Axiom, etwa, dass seine Aufgabe in der Selbstverwirklichung besteht. Fachleute sollen ihm dabei helfen. Da dies ein nicht nachweisbar abzuschließender Prozess ist, bleibt er über Jahre in therapeutischer „Obhut“. Sicher, es gibt Therapeuten, die Klienten an sich binden, weil sie damit ihr Geld verdienen. Und ich kenne Klienten, die berichten, Therapeuten hätten mit drastischer Verschlechterung des persönlichen Zustandes gedroht, sollten die Klienten nicht mehr zu Sitzungen erscheinen. Gleichzeitig tragen Klienten zur Dauertherapie bei: durch Glaube und Hoffnung und eine bemerkenswerte, psychologisch ihrerseits untersuchungswürdige Resistenz bis Abwehr von effektiver Unterstützung. Wieder gilt: Es braucht zwei Akteure.
Der Hauptunterschied von Therapiesucht im fachlich-professionellen und esoterischen Raum liegt darin, dass esoterisch Gläubige keine Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen an wissenschaftlicher Evidenz zu überprüfen.
Aufgrund der Psychodynamik von Glauben und des kategorialen Unterschiedes zu Denkansätzen sind esoterisch Glaubende Gefangene einer geheimnisvollen Welt. Sie haben kaum bis keine Prüfoptionen bzw. nehmen sie nicht wahr.
Blinder Gehorsam ist hier viel weiter verbreitet als in Wissenssystemen. Die Anfälligkeit für Sucht ist sowohl programmatisch angelegt (Glaubenssystem) als auch psychodynamisch (Labilität). Trifft dies zudem auf einen geschäftstüchtigen Helfer, schlägt die Tür, die noch einen Ausgang weist, meist zu. Therapiesüchtige im psychologischen Bereich haben hier einen Vorteil der Korrekturchance, weil es sich a) um Wissen zugängliche, korrekturoffene Konzepte handelt, b) die Betroffenen sich häufig mit verschiedenen Modellen befassen und daher c) kritische Distanz einnehmen können. Und sei es nur, um die Therapieart zu wechseln.
Zunehmende Salonfähigkeit oder Normalität
Man kann eine utilitaristische Haltung einnehmen – so, wie es offenkundig einige Arbeitsämter tun. In dem Dossier wird erwähnt, dass Weiterbildungen in Astrologie bezahlt werden mit dem Argument: Das sei zwar keine Wissenschaft, aber die Nachfrage sei groß und daher sei damit Geld zu verdienen. Man kann eine opportunistische Haltung einnehmen, die das Kleid „alternative Wissenschaft“ trägt und in der sich wenig mehr verbirgt als das Aufnehmen von Moden der Nachfrager, in diesem Fall – belegen die Autoren des Dossiers – Geschäftsleute und Universitäten.
Man kann auch die Haltung von Esoterikern und Spirituellen einnehmen und meinen, das „höhere Bewusstsein“ kündige sich an und müsse unvermeidlich erklommen werden, wenn „die Menschheit“ überleben wolle. Und man kann eine teils funktional, teils „spirituell“ getragene Haltung einnehmen, im Einklang mit der rasant wachsenden Anzahl von Menschen, die von sich sagen, sie halten „viel“ oder „etwas“ von esoterischen Lehren (Daten im Dossier), und überzeugt davon sind, Astrologie, Rebirthing, Reinkarnation, Kartenlegen, Geistheiler etc. würden Probleme lösen oder zumindest dabei helfen.
In jedem Fall scheinen esoterische Lehren zunehmend salonfähig, sprich in dem Sinn normal zu werden oder geworden zu sein, dass keiner, der sich auf sie bezieht, schon als „plemplem“ gilt. Im Gegenteil: Der Touch des Fortschrittlichen ist wahrscheinlicher, zumal es inzwischen esoterische Ansätze – gerade in der Arbeit mit Engeln – gibt, die sich psychologischer Modelle bedienen. Jetzt werden Sie triumphieren und sagen: Glaubenslehren sind eben doch für Wissenschaft offen. Dem widerspreche ich insofern, als es nicht um die Verwissenschaftlichung von Glauben geht: Engel bleiben Glaubenssache. Sondern um die scheinbare Verwissenschaftlichung von Praktiken. Kurz: Der Engelglaube wird keinem wissenschaftlichen Befragungsverfahren ausgesetzt, sondern Praktiken von Engeln und ihren irdischen Vertretern werden daraufhin angeschaut, ob ein wissenschaftliches Kleid passt. (Hoch im Kurs stehen Imaginationsund Visualisierungsverfahren mit – meist kruder – neurowissenschaftlicher Begründung, die Rhetorik von systemisch und ganzheitlich, von quantenphysikalischen und lichtphysikalischen Effekten.)
Zu den Denkfiguren des Systemischen, Ganzheitlichen gehören Relationalität und Kontextgebundenheit. Sie werden weder im esoterischen Glaubenssystem noch in dessen Praxis der Intervention eingelöst. Diese sind strukturell Ego-zentriert. Das Ich steht im Zentrum. Das ist buchstäblich gemeint. Mit Ich steht und fällt alles. Individualismus pur. „Du hast es selbst in der Hand“ – und sei es nur, Engel anzurufen. „Wenn du nicht schaffst, was du willst, dann liegt es an dir. Denn du bist Schöpfer deiner Welt.“ Kruder Konstruktivismus im Verbund mit naiv liberalistischen Implikationen und Deklarationen ergeben eine Mischung, die wie gemacht ist dafür, dass Hilfesuchende sich immer mehr von eigenen Ressourcen und vom kritischen Denken entfernen und Gefahr laufen, zu kollabieren. Entweder Helden oder Versager. (Eine der Auswirkungen als Nebenbemerkung: Das Heroische, der heldenhafte Einzelne feiert auch in der betrieblichen Weiterbildung neue Urständ, etwa in Form der „Heldenreise“. Auch Pseudophysikalismus ist stark nachgefragt. Im Gefolge des Films „What the bleep do we know?“ hat sich ein höchst erfolgreiches Geschäftsmodell etabliert.)
Individualismus in der oben genannten Striktheit blendet sämtliche Variablen aus den Verhaltens- und Sozialwissenschaften, aus Biologie und Kulturwissenschaft aus. Das Ich ist allein. Rigide ausgeführt, mündet dieser Individualismus programmatisch in Versagungserlebnisse. Betroffene kommen in ihren Anstrengungen, ihr Leiden zu mindern, ihre Sehnsucht zu erfüllen, nicht weiter – zweifeln an sich – strengen sich noch mehr an – überfordern sich. Schlimmstenfalls verfallen sie in grundsätzliche Zweifel an ihrer Selbstwirksamkeit und ihren Copingoptionen. Glaubt ein Mensch zudem an höhere Mächte, kann er die Reise, die er hoffnungsfroh begann, im Bewusstsein beenden, das ihn als Opfer und Spielball verborgener Mächte zeigt. Die letzte Einblendung zeigt ihn vielleicht, wie er fatalistisch in einer Ecke hockt.
Was ist zu tun? Erste Anregungen
Was folgt aus alldem für Sie als Helfer, als Therapeuten und Berater? Heiligt der Zweck die Mittel? Ist das, was augenscheinlich funktioniert, verantwortbar? Diese großen Fragen sollten stets gedanklich mitlaufen. Sie dienen als Korrektiv, Katalysator und Aufwecker. Sie fördern das Wachsambleiben und Achtsamsein.
In Praxi können Helfende, die zu esoterischen Lehren affin sind, sich mit Kritikern zusammenfinden, um kontrovers zu diskutieren. Ziel ist, den mentalen Raum zu weiten, neben Glaubensstrategien und „Bauchgefühlen“ auch Denkstrategien und rationales Argumentieren zuzulassen, vielleicht sogar zu trainieren.
Mindestens halte ich es für unverzichtbar, sich der eigenen mentalen Fundierung bewusst zu werden – und dann Fragen der Ethik und moralischen Verantwortlichkeit in der Praxis zu stellen. Nach meinem Verständnis von Souveränität von Helfern ist dieser Appell zwar unnötig – aber die Realität sieht anders aus. Deshalb zum Schluss dieses Debattenbeginns drei Hinweise, die jene ansprechen, die den Mut haben, sich selbst als (wenig tolerante, eher dogmatische und loyale) Gläubige zu erkennen:
Vielleicht kann Ihnen die Heuristik des „Als-ob“ helfen: Tun Sie so, als ob es immer Alternativen gibt. Folgen Sie ihnen, probieren Sie sie gedanklich aus. Legen Sie Kollegen und Ihren Klienten Ihre Glaubenssätze offen – als Angebot, eine von vielen Sichtweisen einzunehmen, sie zu diskutieren, keinesfalls als Dogma, dem andere zu folgen haben!
Zweitens: Da Glauben und Wissen unterschiedliche Kriterien für Plausibilität haben und unterschiedlich anfällig sind für den Prozess der Selffulfilling Prophecy, wählen Sie bewusst Kategorien aus der Wissenschaft und legen Sie sie Ihren Glaubensüberzeugungen auf. Wenn es Ihnen gelingt, dies mit der Haltung spielerischer Neugier zu tun: „Mal schauen, was das gibt!“, dann sind Sie auf dem Weg, sich intellektuell zu öffnen.
Schließlich: Befassen Sie sich mit dem Thema Gelassenheit. Ob Sie sich ihm aus meditativer, buddhistischer, medizinischer oder philosophischer Ecke nähern, ist zunächst unwichtig. Denn der gemeinsame Kern lehrt: Gelassenheit hat mit Distanzierung zu tun. Und wer etwas aus Distanz anschaut, sieht Anderes und sieht anders als jener, der mitten drin ist. In meinen Workshops zu „Gelassenheit“ erleben die Teilnehmenden zudem, dass dem Wort „Ge-lassen-heit“ eine Haltung innewohnt, die ihnen nicht nur ermöglicht, Leiden zu verringern, sondern ihm vorzubeugen. Glauben und Wissen verschränken sich hier häufig. Auch das gibt es: die wechselseitige Bereicherung. Gelassenheit jedenfalls macht eines wahrscheinlicher: Mit wachen Augen, mit wachem Gefühl und wachem Geist die Vielfalt der Möglichkeiten, die dem Menschen als Vermögen zukommen, zu wecken und zu nutzen.
Glauben und Wissen – Sie können einander in einer Weise befruchten, die den Horizont beider Welten weitet und die innerweltlichen Phänomene vervielfältigt.
Insofern könnte eine Antwort des Paares lauten: „Momentan lernen wir noch. Wir merken, dass es uns schwer fällt, von eigenen Gedanken, Präferenzen und Botschaften abzusehen, sie sozusagen in eine Kammer einzusperren. Statt aber eine Konferenz des inneren Teams nach Schulz von Thun einzuberaumen oder unterschiedliche Teilpersönlichkeiten (NLP) ringen zu lassen, rufen wir einen bestimmten Engel, der uns hilft.
Allerdings besteht unser beider Ehrgeiz darin, auf die Unterstützung des Engels mit einem herzlichen Dankeschön verzichten zu können.
Jeder von uns will es allein schaffen, sich dem Klienten so zuzuwenden, wie er es wünscht oder braucht.“
Dr. rer. soc. M. A. phil. Regina Mahlmann
Bis 1990 in Forschung und Lehre tätig. Seit 1990 arbeitet sie als Trainerin/ Beraterin, Coach und Referentin. Ihr thematisches Spektrum umfasst Persönlichkeitsentwicklung und Selfcoaching, Kommunikation/Kooperation, Konfliktmanagement, Führung und Kultur in Organisationen. In München arbeitet sie zudem als philosophisch-psychologische Beraterin. Sie hat zahlreiche Artikel und Bücher publiziert und berät bei der Erstellung von Texten/Vorträgen bis hin zum Ghostwriting.
Dr. Regina Mahlmann
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