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Lass und eine Brücke bauen

Bei Brücken kommen mir unterschiedliche Bauten in den Sinn. Ich sehe z. B. eine Autobahnbrücke mit großen Betonpfeilern. Ich frage mich manchmal, wie viel Stahl darin wohl verarbeitet wurde. Wenn ich unten auf der Wiese stehe und nach oben blicke, komme ich mir recht klein vor. Vor mir blüht der Löwenzahn und eine Biene schwirrt um meinen Kopf. Über mir höre ich, wie die Reifen über den Asphalt dröhnen. Pkw, Lkw, die irgendwohin unterwegs sind. Die Brücke trägt sie und durch stabile Brückengeländer sind sie vor dem Abstürzen geschützt.

Oder eine andere Brücke: Ich bin in Burma (heutiges Myanmar) mit dem Nachtzug unterwegs von Rangun nach Mandalay. Durch das stetige Wackeln falle ich in einen angenehmen Trancezustand. Plötzlich endet das Wackeln, der Zug steht. Ein Schaffner läuft durch die Gänge und fordert alle Gäste auf, auszusteigen. Schlaftrunken, mit fragenden Blicken bewegen sich die Fahrgäste zum Ausstieg.

Na ja, die fragenden Blicke haben nur wir Touristen, für die Einheimischen scheint dies eine Selbstverständlichkeit zu sein. Im Halbdunkeln erkenne ich einen ausgetretenen Fußpfad, dem alle folgen. Er führt über eine Brücke. Sie ist schon älter und anscheinend wurde sie nicht wie bei uns in Deutschland regelmäßig überprüft. Die Stützpfeiler haben nicht mehr die Stabilität. Wind, Kälte, Hitze, Regen, Stürme haben ihre Spuren hinterlassen. Inzwischen ist es zu gefährlich, dass ein voll besetzter Zug die Brücke überquert. Die Last ist zu schwer. Deshalb gehen wir zu Fuß über die Brücke und anschließend wird sie von dem leeren Zug passiert. Beides gleichzeitig könnte die Brücke zum Einstürzen bringen.

Auf mein Flipchart in der Praxis zeichne ich zwei Säulen, schreibe in die eine Säule Maria und in die andere Benjamin. Dann verbinde ich die beiden Säulen mit einer Brücke, diese steht für das WIR. Über diese Brücke lasse ich einen Lkw fahren. Ich kann nicht besonders gut zeichnen, aber eine stabile Brücke ist zu erkennen. In der Paarberatung nenne ich dieses Bild die „Beziehungsbrücke“.

Meinen Blick richte ich stets auf drei Aspekte: Wie stabil sind die jeweiligen Säulen und in welchem Zustand befindet sich die Brücke? Es ist nicht zielführend, nur an der Brücke zu arbeiten und zu therapieren, wenn sie auf ein oder zwei schiefen und fast in sich selbst zusammenfallenden Säulen gebaut ist.

Als Maria und Benjamin sich kennenlernten, sah ihr Leben anders aus als heute. Maria ging regelmäßig mit ihren Freundinnen zum Shoppen und sie trafen sich zweimal die Woche im Fitnessstudio. Tagsüber arbeitete sie in einem Büro. Eine Arbeit, die sie erfüllte, bei der sie mit ihren Kollegen und ihrem Chef Teil eines gut funktionierenden Teams war.

Benjamin war leidenschaftlicher Fußballspieler, regelmäßig im Training und an den Wochenenden bei Turnieren. Er genoss es, mit seinen Mannschaftskollegen zusammen zu sein, Spaß zu haben und auch einmal einen über den Durst zu trinken nach einem gewonnenen Spiel. Das musste gefeiert werden. Beruflich fand er seine Erfüllung in einem mittelständischen Handwerksbetrieb. Er wurde dort nach einer Ausbildung in einem metallverarbeitenden Beruf übernommen. Er wollte aber weiterkommen und plante, auf die Meisterschule zu gehen.

Gemeinsam genossen sie im Winter das Skifahren. Sie waren mit dem Skiclub bei fast allen Skiausfahrten dabei und ein Hüttenwochenende mit Freunden durfte nicht fehlen. Beide waren sie im Fasching aktiv und zusammen in einer Narrengilde. Dort trafen sie Freunde (immer m/w/d), eine Gemeinschaft, in der sie sich beide wohlfühlten.

Maria und Benjamin wohnten in einer 3-Zimmer-Wohnung mit Balkon. Hin und wieder gab es Ärger bezüglich der Aufteilung der Hausarbeit, im Großen und Ganzen aber funktionierte ihr Leben gut. Wenn auch Maria etwas mehr Zeit in die Hausarbeit investierte, blieb ihr immer noch genügend Zeit für das, was ihr wichtig war. Sie waren zwei stabile Brückenpfeiler, auf denen sie ihre Beziehungsbrücke errichtet hatten.

Heute sieht es anders aus. Sie sind verheiratet, haben ein Haus mit 180 m² Wohnfläche gebaut und besitzen einen großen Garten. Die 180 m² müssen allerdings geputzt und gepflegt werden, ganz zu schweigen von den vielen Fenstern. Sie fluten die Räume mit Sonnenlicht, aber jeder weiß, wie es aussieht, wenn die Fenster nicht geputzt sind. Dies trübt die Freude am Tageslicht, vor allem im Frühling und Herbst, wenn die Sonne tiefer steht. Auch der Garten benötigt Zeit, der Rasen muss gemäht, die Hecke und Büsche müssen geschnitten werden und es erfordert Stunden beim Unkrautrupfen, wenn die Stauden und Blumen nicht überwuchert werden oder den Schnecken zum Opfer fallen sollen.

Es klappert und scheppert, dann folgt ein schriller Schrei. Die zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, drei und fünf, streiten wieder. Sie rennen durch das Haus. Dabei stolpert die Kleine und schlägt sich unglücklich ihren Kopf an der Ecke des Wohnzimmertisches an. Sie blutet. Maria nimmt die Kleine auf den Arm und leistet Erstversorgung, Trösten und Streitschlichten. Maria kam gerade von der Arbeit im Büro und trägt noch ihren Hosenanzug, auf dem sich jetzt Wasserflecken vom kühlenden Waschlappen abzeichnen. „Mama, ich habe Hunger. Wann gibt es endlich Mittagessen?“, ruft ihr Sohnemann von nebenan.

Tagein, tagaus kämpft Maria sich durch den Tag. Ihre Zeit ist durchgetaktet: aufstehen, Kaffee kochen, ins Bad gehen, sich richten, die Kinder wecken, sie bei Gezeter zum Frühstücken und Anziehen bewegen, sich selbst mit Make-up und moderner Kleidung zur Businessfrau verwandeln, sich und die Kinder, nachdem die Vesperboxen gerichtet sind, ins Auto setzen, die Kinder in den Kindergarten bringen und dann direkt ins Büro fahren.

Maria hat ihre Stelle reduziert und arbeitet jetzt nur noch halbtags. Dadurch ist sie nicht mehr bei allen Teamsitzungen dabei und die interessanten Projekte, die sie sehr an ihrer Arbeit liebte, haben teils jüngere Kolleginnen ohne Kinder bzw. ein Kollege, der zwar auch Familienvater ist, aber voll arbeitet, übernommen.

Abends, nachdem die Kinder im Bett sind und sie den Alltag erledigt hat, fällt sie müde aufs Sofa und hat gerade noch die Muße, sich eine Serie anzusehen. Am Wochenende muss dann alles, wozu sie unter der Woche nicht gekommen ist, aufgearbeitet werden, um die Lage im Griff zu behalten. Ins Fitnessstudio geht sie mittlerweile selten. Eigentlich könnte sie ihre Mitgliedschaft kündigen und den Beitrag sparen.

Die Freundinnenabende fallen oft aus. Häufig kommt etwas dazwischen: keine Zeit, zu erschöpft, Kind krank, selbst krank, Mann muss arbeiten, keinen Babysitter usw. Die Frauengemeinschaft lebt sich langsam auseinander.

Auch das Leben von Benjamin hat sich stark verändert. Nach der Meisterschule, die er neben seinem Job abends und am Wochenende besuchte, hat er in der Firma immer mehr Verantwortung übernommen. Die Auftragslage ist gut und er arbeitet von früh bis spät. Sein Wecker klingelt um halb sechs. Er trinkt einen Kaffee, nachdem er im Badezimmer war, und verlässt das Haus, wenn seine Frau aufsteht. Ein kurzes „Tschüss“ und die Tür fällt ins Schloss.

Meistens kommt er nicht vor 18 Uhr aus der Firma. Manchmal wird es später, bis er zu Hause ist. Am Abend erwarten ihn quengelnde Kinder. Seine Frau ist genervt und ruft ihm im Vorbeilaufen Aufgaben zu: „Kannst du den Müll rausbringen? Am Bobbycar ist heute ein Rad abgefallen. Du musst beim Steuerberater anrufen, es fehlen noch einige Unterlagen.“ Am liebsten würde er sich aufs Sofa legen und in Ruhe die Zeitung lesen. Er räumt den Tisch ab, stellt das Geschirr in die Spülmaschine, bringt den Müll raus und schnappt sich seinen Sohn, um ihn fürs Bett fertig zu machen. Es ist 20 Uhr.

Es wird ruhiger im Haus. Seine Frau ist im Keller und kümmert sich um die Wäsche. Der Fernseher läuft, die Tagesnachrichten enden gerade mit der Wettervorhersage für morgen. Sein Handy summt, eine neue Mail: Ein wichtiger Termin im Geschäft wird vorverlegt. Er geht ins kleine Büro, fährt seinen PC hoch und arbeitet sich noch ins Thema für die Sitzung ein. Er hört Maria im Flur: „Gute Nacht, ich gehe schlafen, bin müde. Die Kleine ist zurzeit so unruhig, wer weiß, wann sie heute Nacht wieder kommt und ich nicht mehr schlafen kann.“ Er blickt auf die Uhr. Es ist Viertel nach zehn, wieder ein Tag vorbei. Er fährt den PC herunter, öffnet eine Flasche Bier und zappt durch das Fernsehprogramm. Kurz genießt er die Ruhe im Haus.

Mit dem Fußballspielen hat er bereits während des Hausbaus aufgehört. Sie haben, um Geld zu sparen, viel selbst gemacht. Er war jeden Abend auf der Baustelle. Nach dem Einzug begann er mit der Meisterschule. Auch da war keine Zeit mehr für das Training. Wenn er Glück hat, schafft er es manchmal am Samstag, sich die Bundesliga anzusehen. Zu seinen Mannschaftskollegen hat er keinen Kontakt mehr. Hin und wieder sieht er den einen oder anderen beim Einkaufen oder beim Sankt-Martins-Umzug im Kindergarten. Aus der Narrengilde sind beide ausgetreten, als ihr erstes Kind auf die Welt kam. Auch die Kanten der Skier setzen im Keller langsam Rost an.

Benjamin und Maria funktionieren nur noch und versuchen ihren Alltag mit all den Anforderungen zu bewältigen. Sie stoßen mehr und mehr an ihre Leistungsgrenzen. Ihre Säulen geraten ins Wanken, sie verlieren ihre Stabilität, kommen in eine Schieflage. Dies wirkt sich auf die Brücke aus. Sie bekommt Risse und mit jedem Lkw, der darüberfährt, bröckelt sie. Sie haben oder nehmen sich nicht die Zeit, sich um die Brückenpfeiler zu kümmern, und der bröckelnden Brücke schenken sie schon lange keine Aufmerksamkeit mehr. Es gibt kaum mehr Zeit zu zweit. Sie unternehmen nichts mehr zusammen, reden wenige Worte am Tag miteinander und wenn, dann sind es Alltagsaufgaben, die sie besprechen und das oft nebenher oder im Vorbeigehen.

Wann haben sie das letzte Mal zusammen gelacht oder sich über ein für sie spannendes Thema unterhalten? Sie können sich nur noch schwer daran erinnern.

Ich erinnere mich an ein Paar, das ich fragte, ob es sich einrichten könnte, einmal pro Woche einen gemeinsamen Abend zu verbringen, wenn die Kinder im Bett sind. Sie sahen mich beide mit großen Augen an und schüttelten den Kopf: „Das schaffen wir nicht, vielleicht bekommen wir das alle 14 Tage mal hin.“ Darauf schüttelte ich den Kopf. So wird das nichts werden mit einer guten Beziehung bzw. einer stabilen Brücke. Sie braucht mehr Zuwendung, um sie muss ein Paar sich kümmern.

Paare in dieser Lebensphase stehen vor sehr großen Herausforderungen. Es kann nicht so unbeschwert und problemlos laufen wie am Anfang der Beziehung. Aber es lohnt sich, durchzuhalten und Prioritäten zu setzen: Jeder der beiden Partner sollte darauf achten und seine Säule im Blick halten, damit sie stabil bleibt und nicht ins Wanken gerät. Die Brücke ist ihr WIR, ihre Beziehung. Auch sie braucht Beachtung und Pflege. Es ist nicht so, dass solch ein Bauwerk für immer belastbar und tragfähig bleibt, ohne dass Wartungs- und Ausbesserungsarbeiten vorgenommen werden. Ansonsten wird es so sein, dass Fahrgäste aussteigen müssen, wenn ein Zug die Brücke überqueren möchte.

  • Sorgen Sie für sich selbst, für Ihre Säule.
  • Was tut mir gut?
  • Was brauche ich, um zufrieden und ausgeglichen zu sein?
  • Was wollte ich schon immer mal tun?
  • Was hat mir früher Spaß gemacht?
  • Was vernachlässige ich?

Unterstützen Sie sich gegenseitig und räumen Sie dem anderen etwas „ICH-Raum“ ein, Zeit für sich. In dieser Lebensphase kann nicht alles perfekt sein, da sind die Fenster eben mal nicht so sauber, das Wohnzimmer oder der Keller nicht so aufgeräumt, wie Sie es sonst gerne hätten.

  • Kümmern Sie sich beide um die Brücke.
  • Reden Sie miteinander.
  • Nehmen Sie sich täglich mindestens 30 Minuten Zeit, in der Sie sich ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Sehen Sie sich an und hören Sie sich zu, ohne Fernseher oder Handy nebenher.
  • Spielen Sie ein Spiel, gehen Sie spazieren oder trinken Sie einen Kaffee, Tee oder ein Glas Wein zusammen.
  • Entfachen Sie die Feuerschale im Garten und sehen Sie gemeinsam in die Flammen.

Sammeln Sie Ideen. Es müssen keine großen Events sein, sondern es sind die kleinen Dinge, die regelmäßigen kurzen Momente, die eine Brücke stabil halten.

Sabine Mayer-Bolte
InBalance – Praxis für emotionale Gesundheit, Heilpraktikerin für Psychotherapie,
Coach, Paarberaterin, Dozentin an der Paracelsus Schule Ulm und Lindau
praxis@inbalance-biberach

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