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Die andere Seite der EntSCHULDigung

EntSCHULDigt zu werden und zu sein sowie entlastet (die Last ist entfernt), muss eine der herrlichsten Menschheitserfahrungen sein. Endlich keine Schuld mehr! Endlich ist sie weg! Entsorgt – und damit nicht mehr meine Sorge! Nicht mehr meine Last! Die Schuld ist nicht mehr auf mir! „Oh Happy Day!“ Ich bin jetzt wieder ohne Schuld! Ohn’ Schuld – davon leitet sich Unschuld ab. Ich bin wieder unschuldig (engl. innocent). So, als hätte ich meine Unschuld nicht verloren. So als würde mir nichts angerechnet, womit ich meine Unschuld eingebüßt hätte.

Wie wichtig uns Unschuld ist, lässt sich am leichtesten an dem erkennen, was wir alles tun, um bloß nicht schuld zu sein.

Wir leugnen und lügen, wir täuschen und vertuschen, wir erklären und reden uns raus, wir rechtfertigen uns (mitunter gegen alle Beweise), reden selbst solche Dinge schön, die furchtbar hässlich waren, wir reden uns die Tatsachen zurecht, dementieren gut fundierte Berichte, streiten das Offensichtliche ab, verteidigen unsere Ehre bis zum letzten Atemzug und beschwören unsere Glaubwürdigkeit.

In den Dopingaffären von Jan Ullrich und Lance Armstrong titelten die Nachrichtenblätter gerne mit den Worten von der „verlorenen Unschuld“. Nicht nur die beiden Radfahrer (die Täter) hätten sie verloren, sondern auch der Radsport (der Betroffene).

In unserem letzten Artikel „Liebe braucht EntSCHULDigung“ (Freie Psychotherapie, 03.22) lag der Fokus auf der Bitte um EntSCHULDigung, Verzeihung oder Vergebung. Es ging um Schadenserkenntnis, Schuldgefühle, Anhörung, Tateinsicht, Genugtuung, Reue, Wiedergutmachung und Besserung. Das heißt, der Fokus lag auf dem Täter.

In diesem Artikel wollen wir den Fokus auf das Gegenüber legen, den Betroffenen (immer m/w/d) und wie dieser das gesamte Geflecht aus übler Tat, Täter, Opfer, Schuld und Bestrafung aufzulösen bzw. zu (er-)lösen vermag.

Der Begriff Opfer erscheint uns in diesem Zusammenhang allerdings nicht angemessen. Denn ursprünglich entstammt der Opferbegriff der religiösen Welt und bedeutet dort eine freiwillige Darbringung aus Ehrerbietung oder Liebe gegenüber einer übergeordneten gnädigen Macht. So sind etwa die frühesten bekannten Opfer die Darbringung der Ernte-Erstlinge oder der Erstgeborenen des Viehs aus Anerkennung, Dankbarkeit, Glauben und Liebe für die Fruchtbarkeit, welche die Natur oder Gott geschenkt hatte.

Erst seit dem 19. Jahrhundert wird der Begriff auch für betroffene Personen, die einen Nachteil, Schaden oder eine Verletzung erlitten haben, verwendet. Und als Schimpfwort ist das Wort „Opfer“ im deutschsprachigen Raum seit den 2000erJahren vorwiegend unter Jugendlichen in Gebrauch.

Die Betroffenen

Wir wollen statt von Opfern von Betroffenen reden, von Menschen, die Unrecht erlitten haben oder immer noch leiden, weil ihnen andere Menschen Unrecht getan haben oder es noch tun. Nun wissen wir, dass sich über Unrecht streiten lässt. Aber spätestens in dem Moment, wo uns selbst gleiches Unrecht geschieht, haben wir ein ziemlich genaues Wissen vom Bösen.

Denn es liegt ein Schaden vor. Entweder ein Fremdschaden oder ein Eigenschaden. Ein Fremdschaden kann z. B. gestohlenes Geld oder anderes Fremdeigentum sein – aber es kann auch die gestohlene Liebe (emotional und/oder sexuell) des Ehepartners durch einen anderen Mann oder eine andere Frau sein.

Ein Fremdschaden kann aus Angst und Panik bestehen, die der andere hat, weil ihm etwas Schlimmes angedroht wurde oder er bzw. sie etwas Schlimmes erleben musste. Es kann eine Beleidigung, eine Ehrverletzung oder Kränkung sein, das kann aber auch Mobbing sein. Es kann das gebrochene Herz eines Kindes sein oder die Stress- Überlastung durch den Arbeitgeber.

Ein Eigenschaden können quälende Gewissensbisse und Schuldgefühle sein, ein Integritäts- und Vertrauensverlust bei anderen oder zermürbende Selbstvorwürfen weil man so „dumm“ war. Der schlimmste Eigenschaden ist wahrscheinlich der Verlust von Selbstwertgefühl und Selbstachtung – der Verlust der Unschuld.

Denn wo ein Schaden ist, da muss auch ein Schuldiger sein – und wenn es Gott trifft, der es zugelassen hat. Einer muss schuld sein – und bestraft werden. So scheinen unsere Gehirne zu ticken. Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.

Es gibt da die Erzählung von einem alten, gütigen und weisen König und seinem einzigen Sohn, die mit Erschrecken feststellen, dass es in ihrem Königreich zu viele uneheliche Neugeborene gibt, die einfach ausgesetzt werden. So beschließen sie ein Gesetz, das jeden Mann hart bestraft, der beim sexuellen Verkehr mit einer Frau erwischt wird, die nicht seine Ehefrau ist. Die Strafe: zwei Augen.

Lange Zeit herrschen wieder gute Verhältnisse im Königreich und die unehelichen Neugeburten hören auf. Bis eines Tages ein lautes Geschrei durch das Königreich erklingt. Ein Mann wurde auf frischer Tat ertappt. Es war der Königssohn.

Das ganze Land war gespannt, was der alte König nun tun würde. Alle wussten um die Liebe zwischen dem Vater und seinem einzigen Sohn. Würde er bei ihm eine Ausnahme machen und ihn begnadigen? Oder sollte ausnahmslos auch in diesem Fall die harte Strafe angewendet werden und er Zeit seines Lebens gezeichnet sein?

Der Tag des Gerichts kam und es war eine große Schar versammelt. Der König erhob sich von seinem Thron und ging sichtlich erschüttert und mit Tränen in den Augen auf seinen Sohn zu. Diesem fehlten die Worte, weil es ihm so leidtat und er so heftig schluchzte. Auch stand ihm die schiere Angst im Gesicht.

Der alte König sprach zu seinem Sohn und zum Volk: „Ihr wisst, was das Gesetz fordert: zwei Augen.“ Daraufhin zog er seinen Dolch und stach seinem Sohn ein Auge aus. Sogleich danach stach er sich selbst ein Auge aus. Er hob die beiden Augen auf seiner Hand gen Himmel und sagte: „So will es das Gesetz: zwei Augen. Der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Geht in Frieden.“ Und zum Sohn sagte er: „Die Schuld ist beglichen. Du bist frei. Geh und pass gut auf das verbliebene Auge auf!“

Daraufhin erlebte das Königreich die beste Zeit, denn wo immer der alte König oder sein Sohn auftauchte, sah jeder das verlorene Auge und wusste, dass in diesem Königreich Schuld nicht ungesühnt bleiben würde.

Schuld muss aufgelöst werden

Entweder durch die ausgleichende Bestrafung/Genugtuung/Satisfaction oder durch eine umfassende Begnadigung. Der alte, gütige und weise König hatte beide Möglichkeiten angewendet. Die erste gegen- über dem Gesetz, um sicherzustellen, dass es gilt und nicht unter die Räder kommt. Und die zweite gegenüber seinem Sohn, um diesen nicht zu verlieren.

Eine weitere Möglichkeit wäre der Schuldfreispruch. Dieser erklärt den Angeklagten für unschuldig und stellt diesen frei als einen, der keine Schuld auf sich geladen hat.

Und dann gibt es noch die Rechtfertigung durch Anrechnung, wenn z. B. in einer langen Untersuchungshaft schon so viel Freiheitsentzug verbüßt worden war, dass das Strafmaß bereits erfüllt ist. Dann ist der Verurteilte freizulassen.

In unserer therapeutischen Arbeit mit Einzelpersonen, Paaren und Familien stellen wir oft fest, dass Menschen schon mehr als genug Strafe getragen haben, sodass es höchste Zeit ist für neue Unschuld – dazu gleich mehr.

Was Rechtfertigung nicht ist, sind all die rechtfertigenden Erklärungsversuche, die die Schuld wegschieben wollen. Verdrängte oder verleugnete Schuld ist keine aufgelöste, sondern unerlöste Schuld. Denn ohne eine zuvor festgestellte Schuld kann keine Schuld aufgelöst werden. Wer nicht schuldig ist, dem kann keine Schuld vergeben werden.

Jedenfalls redet die Idee der EntSCHULDigung von der menschlichen Möglichkeit, eine Schuld, die man auf sich geladen hat, wieder loswerden und ohne Schuld, d. h. in Unschuld, Rechtschaffenheit und Lauterkeit, weiterleben zu können. Im christlichen Abendland fordert uns ein Gebet auf, um unsere EntSCHULDigung zu bitten und andere zu entSCHULDigen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Es geht bei der EntSCHULDigung – wie schon gesagt – darum, das gesamte Geflecht aus übler Tat, Opfer, Täter, Schuld und Bestrafung aufzulösen bzw. zu (er-) lösen. Andernfalls würde der Betroffene durch die unentSCHULDigte Schuld des Täters an diesen gebunden bleiben. Denn einer muss bestraft werden. Und wenn es nicht den Täter trifft, dann trifft es meist das Opfer. Und das ist eigentlich schon bestraft genug.

Entsprechend geht es darum, allen an dem Vorfall beteiligten Menschen die Unschuld zurückzugeben, die sie verloren haben. Eine jede ungute Tat, Unterlassung oder Rede wird immer von einem Verlust der Unschuld und des guten Gewissens begleitet. Der Betroffene fragt sich: „Was habe ich nur falsch gemacht, dass ich so behandelt werde?“ So wird dessen gutes Gewissen, das mit einer funktionierenden, guten Navigation ausgestattet ist, verletzt, zumindest verstört oder gar „schlecht“ gemacht.

Eigentlich ist die böse Tat vorbei, sobald sie abgeschlossen ist. Sie ist dann vergangenes Leben und existiert nur noch so, wie sie in Erinnerung ist und mit all den Gefühlen und Gedanken, die es deswegen gibt. Und alle damit verbundenen Ängste und Schmerzen werden, wenn sie keine Auflösung finden, in die Zukunft projiziert und an andere Menschen weitergegeben.

Eigentlich kann der Schmerz abklingen, die Wunden verheilen, die Wut verrauchen und die Erinnerungen verblassen – es sei denn, sie werden festgehalten.

Schritte zur Heilung und zu neuer Unschuld

1. Beginne beim schlimmsten Schmerz

Einer unserer Klienten (nennen wir ihn Friedbert) empfand es jedes Mal als furchtbar schlimmen Schmerz, wenn er nicht gehört und nicht gesehen wurde – zumindest, wenn es ihm so vorkam. Nicht beachtet zu werden oder gar vergessen zu sein, war für ihn unerträglich, und er wurde stocksauer und stinkwütend. Nun war Friedbert aber kein Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, Mitte fünfzig.

2. Arbeite dich vom Schmerz zum Ereignis vor

Friedbert wollte erst nicht über das reden, was in seiner Kindheit passiert war. Aber solange er Widerstand leistete, steckte er fest. Wir fragten immer wieder mal vorsichtig, wann es das erste Mal war, dass er sich nicht gehört, nicht gesehen, nicht beachtet und vergessen fühlte.

Eines Tages erzählte Friedbert: Er war an einem sonnigen Sonntagnachmittag mit den Nachbarskindern bei der Oma im Spiel vertieft, als die Oma zu Kaffee und Kuchen rief. Friedbert hörte es nicht und kam nicht. Da war die Oma sauer und hetzte ihren Sohn auf, „dem Bengel mal eine Lektion zu erteilen, damit er Gehorsam lernt“. So wurde Friedbert von seinem Vater in den finsteren und feuchten, von Käfern und Spinnen wimmelnden Kartoffelkeller der Oma gesperrt. Irgendwelche Erklärungen wollte der Vater von seinem Sohn nicht hören – auch kein Bitten und Betteln. Während also Oma, Opa, Mama, Papa, Onkel und Tanten mitsamt den Kindern am großen Tisch Kaffee tranken und Kuchen aßen, weinte und schrie Friedbert sich die Kehle aus dem Hals – niemand hörte sein Wimmern und Flehen. Das also war passiert.

3. Stelle das Ende des damaligen Geschehens fest

Jedes Ereignis hat einen Anfang und ein Ende. Es ist also passiert (franz.: se passer = vorübergegangen, vorbeigezogen), es ist etwas vorüber, vorbei. Wir fragten Friedbert, wie lange das ging. „Eine gefühlte Ewigkeit!“ antwortete er. Doch eigentlich holte man ihn wieder raus „als die Sonne noch schien“. „Es war schlimm, aber es ist schon lange vorbei“, stellten wir fest.

4. Nimm an, was dir angetan wurde

Man kann sich nämlich nicht um etwas kümmern, das man ablehnt. Für Friedbert war das nicht so einfach. Doch mit unserer Unterstützung konnte er sich schließlich doch durchringen. „Es gehört ja zu mir“, sagte er, „es ist mir angetan worden, ich habe es erlitten, und es ist höchste Zeit, dass ich mich darum kümmere.“

5. Lass das Entsetzen und die Wut noch ein letztes Mal hochkommen

Was Friedbert so entsetzt hatte und all die Jahre in unterdrückter Wut vor sich hinköchelte war, dass alle fröhlich bei Kaffee und Kuchen zusammensaßen und keiner auch nur einen Gedanken daran verschwendete, was denn eigentlich mit ihm war. Es erschien ihm, als würde er keinem fehlen. Dieser Schmerz bohrte sich tief in sein junges Herz und saß in seiner Seele fest. Als ihm das gewahr wurde, kamen ihm bittere Tränen.

6. Stell fest, dass alle Beteiligten nun endgültig gestraft genug sind

Allein schon die Strafe, die Friedbert all die Jahre zu ertragen hatte, hätte ausgereicht, um einen Schlusspunkt zu setzen. Aber auch andere hatten über all die Jahre gebüßt. Es gab Krankheiten, frühe Tode, zerrüttete Familien – genug der Strafe!

7. Stell fest, was du wem vorwirfst, und formuliere deine Anklage

Friedbert klagte seine mittlerweile verstorbene Oma der Verhetzung seines Vaters an. Seinem Vater warf er vor, dass er seinen Sohn erst gar nicht hören wollte. Der Mutter, die an dem Nachmittag gar nicht dabei war, warf er vor, dass sie nicht da war, als er sie gebraucht hätte. Und alle anderen Beteiligten klagte er der unterlassenen Hilfeleistung an – aus Herzlosigkeit.

8. Bitte jetzt Gott, Jesus, den Heiligen Geist oder wem du sonst Wunder zutraust, um Hilfe

Lass jemanden, der mächtiger ist als du, das Wunder der Heilung vom Schmerz und des Ungeschehen-Machens vollbringen. Wir selbst sind dazu nicht in der Lage. Als gläubiger Christ wandte sich Friedbert in einem kurzen, stillen Gebet an Gott.

9. Setze jetzt alle Beteiligten einzeln und nacheinander wieder in die Unschuld zurück

Ein solcher Akt ist ein Erlass – im doppelten Sinne. Einerseits ein Erlass von Schuld und Sühne. Auf das Verlangen, den Täter bestraft zu sehen, wird verzichtet. Zum anderen ist es ein souveräner Erlass (ein Dekret, eine Verfügung, ein Beschluss, eine Verordnung) von einem Souverän, – nämlich dir – über etwas, das hinfort gelten soll.

Dazu muss es über die Lippen gebracht werden – dann bringst du ihn auch über dein Herz – und damit wird es gültig und wirksam.

Wir schlagen diesen Lösungssatz vor:

„All das und noch viel mehr vergebe ich dir (Name), hier und heute. Gott (oder ein Priester, Therapeut ...) ist mein Zeuge. Ich entSCHULDige, was du mir angetan hast. Ich will weder dich noch mich länger bestraft sehen.

Ich gebe dir hiermit deine Unschuld zurück. Du sollst ein gutes Gewissen haben. Und auch mir selbst gebe ich die Unschuld zurück. Ich hole mir mein Herz zurück, meine Kraft, meine Lebendigkeit und ein gutes Gewissen.“

Die Wirkung ist folgende: Unsere Schuld wird uns vergeben, wo wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind (siehe das Vaterunser).

10. Lass jetzt die alte Geschichte los und schreibe das Drehbuch neu

Was würdest du verändern? Was fehlt in der Geschichte? Was würdest du anders machen? Oder wie würdest du am Ende des Geschehens die Geschichte weiterentwickeln? Was geschieht in deiner geänderten Fassung?

Anschließend bitte Gott oder wem sonst du Wunder zutraust, dass er eine neue Realität in dir schafft.

11. Nun korrigiere deine falschen Konzepte als Opfer, Täter, Schurke, Versager und ergreife dein Talent, deine Gabe und lass dich von ihr erfüllen

Für jeden gibt es eine himmlische Gabe, die nur darauf wartet, ausgepackt zu werden. Bei Friedbert stellte sich schnell heraus, dass er ein „Problemlöser-Talent“ hatte.

12. Und zu guter Letzt finde etwas, das du mit deinem Talent tun kannst, und widme dich dieser Aufgabe

So können wir gemeinsam die Welt besser machen – jeder mit dem, was ihm gegeben ist und an seinem Platz. Friedbert hilft jetzt ehrenamtlich in Schulden geratenen Menschen, damit sie wieder rauskommen aus der Schuldenfalle.

Herbert und Gisela Ruffer
Heilpraktiker für Psychotherapie, Praxis für Paar- und Psychotherapie in Landshut. Wochenend-Intensivtherapie für Einzelpersonen und Paare
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