Heilung durch Töne
Welch ein Thema! Lassen Sie mich gleich zu Anfang anmerken, dass Deutschland dieses Jahr den 250. Geburtstag eines Genies feiert: Ludwig van Beethoven. Er war der erste Komponist, der ein Lied einbaute in eine Sinfonie „Ode an die Freude“, bei der gleich zu Beginn ein Tenor laut und kräftig singt „Oh Freunde! Nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen!“
Seit 200 Jahren rätseln Musikexperten weltweit, was er wohl damit gemeint habe. Nun, wer bei „Töne“ an Musik im engeren Sinne denkt, ist auf dem Holzweg. Beethoven hatte erkannt, wie schnell man kraftlos werden kann, freudlos und resigniert. Er selbst war oft am Ende, hatte ernsthafte Selbstmordabsichten, was u. a. aus seinem Testament hervorgeht. Und er hätte ein Buch über Liebeskummer schreiben können.
Er sah, dass wir Menschen eben alle unser Päckchen mit uns herumschleppen, negative Emotionen aufbauen, freudlos werden und infolge in ein dunkles Loch fallen können. Diese selbstzerstörerische Stimmung (heute würde man Depression sagen) hat eine eigene Dynamik. Das heißt: Sie kann uferlos nach unten ziehen und uns von Licht und Liebe trennen. Das darf nicht passieren, um keinen Preis, erkannte er. Und obwohl er schon sehr krank war, hatte er seine restliche Kraft in diese Sinfonie gesteckt, die Neunte, mit der er uns eben vor „dunklen Tönen“ warnen, uns die Erfahrung grenzenloser Liebe zuteil kommen lassen will.
Nun gibt es neuerdings zwar unzählige Konzepte in Bezug auf Musik, Farben und Aromen als Therapie bei den verschiedensten Symptomen, doch wenn ich sage, dass die Liebe das größte Heilpotenzial besitzt, wird mir kein Philosoph, kein ganzheitlicher Therapeut widersprechen. Liebe besitzt die höchste Schwingung und ist somit das Gegenteil von „Nicht diese (niederen) Töne!“ Doch dann tritt etwas ein, was jedes andere musikalische Werk in den Schatten stellt: Beethoven warnt nicht nur vor „falschen Tönen“, er liefert im Anschluss eine Anleitung, wie man Liebe erfahren kann.
Und zwar nicht die körperliche Liebe zwischen Mann und Frau (die auch im Lied vorkommt), sondern die bedingungslose Liebe, die so das Herz öffnen und explodieren lassen kann, dass er von spirituellem Orgasmus spricht, im Lied als „Freude schöner Götterfunken“ deklariert. Er musste alles vorsichtig formulieren, weil er sonst die Kirche im Nacken gehabt hätte.
Diese Neunte, sein wahres Meisterwerk, baut sich musikalisch so auf, dass die Musik unsere Seele anspricht und dann das Herzchakra öffnet. Unfähig, rational zu denken (was die Voraussetzung ist zur Erfahrung echter Liebe), setzt dann am Schluss der Chor ein mit einer Anleitung zur Erfahrung eben dieser.
Ich sah Menschen im Konzert, die am Ende bewegungslos dasaßen, Tränen in den Augen, unfähig zu sprechen. Zwei befreundete Ärzte in Japan sowie mehrere psychologische Berater in Deutschland empfehlen dieses Werk ihren Patienten im Falle von Depression, Freud- und Kraftlosigkeit, bei gebrochenem Herzen, Orientierungsverlust und Ängsten.
Insofern ist Beethovens Neunte die Ultimative, wenn es um „Heilung durch Töne“ geht, und ich empfehle Ihnen, diese Musik bzw. Therapie einmal über sich ergehen zu lassen mit ungeteilter Aufmerksamkeit und im Wissen, dass Beethoven bei der Komposition wie auch bei der Uraufführung völlig taub war und seine letzte Kraft hineingesteckt hatte.
Prof. h. c. Manfred Krames
Autor von „Beethovens Neunte und der Schrei nach Liebe“
Foto: ©caifas