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Ungewöhnliches Setting

„Um klar zusehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.“
Antoine de Saint-Exupéry

Das Thema „Setting“ in der Psychotherapie ist eines jener Themen in der Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie und im Studium der Psychologie, das vermutlich eher zur Pflicht und sls zur Kür gehört. Somit erscheint es vielmehr trocken für die Studenten, das oftmals auch noch sehr theoretisch abgehandelt wird. Aber unbestreitbar ist es auch äußerst wichtig!

FP 0418 alles App Page19 Image2Der Duden beschreibt „Setting“ so: „Gesamtheit von Merkmalen der Umgebung, in deren Rahmen etwas stattfindet, erlebt wird“. Kurz und prägnant könnte man für unsere Disziplin fragen: „In welchem professionellen Rahmen findet Psychotherapie statt?“.

Vor allem in der Psychoanalyse wird meist streng auf das korrekte Setting geachtet. Der Patient liegt auf einer Couch oder einer Liege, während der Psychoanalytiker den verbalisierten Gedanken des Patienten mit konstanter Aufmerksamkeit folgt. Dass der Analytiker hinter dem Patienten sitzt, ist ein zentraler Teil des Settings.

Die möglichst ablenkungsarme Umgebung – und vor allem unbeeinflusst von Reaktionen des Therapeuten, fehlende Spiegelung usw. – bewirkt, dass der Patient seine übliche Kontrolliertheit aufgeben kann. Der Patient kann somit in freier Assoziation Unbewusstes oder Verdrängtes an die Oberfläche gelangen lassen.

Ganz anders stellt sich z. B. das Setting und auch das Gesprächsverhalten des tiefenpsychologisch fundiert arbeitenden Therapeuten dar. Es besteht vor allem aus klärenden Fragen oder Deutungen. Blickkontakt ist – im Gegensatz zur Psychoanalyse – meist durchaus erwünscht.

FP 0418 alles App Page20 Image1In der Gesprächspsychotherapie hingegen stellen sich in Bezug auf das Setting möglicherweise andere Fragen: „Ist eine Einzel-, Paar- oder Gruppentherapie die richtige Wahl?“ Oder: „Ist im konkreten Fall eine ambulante oder stationäre Therapie indiziert?“ Und die für die Gesprächspsychotherapie so wichtigen Eigenschaften Empathie und Kongruenz sind am besten im direkten Blickkontakt erlebbar. Gerade hier ist das Setting auf zwischenmenschlichen Kontakt ausgelegt (Körperhaltung, Mimik, Spiegelung im weitesten Sinne).

Da das „richtige“ Setting viele Aspekte hat, können obige Beispiele nur in etwa andeuten, wofür das aus dem Englischen stammende Wort in der Psychotherapie alles stehen kann.

Besonders in einer Situation, in der der Patient scheinbar überhaupt nicht weiterkommt, hat es sich in der psychotherapeutischen Praxis bewährt, auch einmal das gewählte Setting zu hinterfragen. Selbst wenn man lehrbuchartig das für die jeweilige Therapieform ideale Setting beachtet, kann es in gewissen Fällen hilfreich sein, das Setting zu ändern.

An folgendem Beispiel aus der Praxis möchte ich dies näher erläutern:

Ein 42-jähriger Klient, der bereits einige Wochen in Behandlung in meiner Praxis war, machte gute Fortschritte beim Thema Abgrenzung, konkret mit dem Neinsagen. Der Klient hatte die in seiner Entwicklungsgeschichte fußende Thematik kognitiv durchaus verstanden. Im geschützten Raum der Praxis hatte der Klient wiederholt geübt, Nein zu sagen.

FP 0418 alles App Page21 Image2Durch Gesprächstherapie und imaginative Psychotherapie (in sensu, also nur in der Vorstellung), lernte der Klient erstmals, sich abzugrenzen. Dies war ein wichtiger Schritt für ihn, den er auch sehr begrüßte. Allerdings wirkte diese theoretische Erkenntnis nur so lange, wie er sich im geschützten Raum der Praxis befand.

Sobald er jedoch in eine Stresssituation am Arbeitsplatz oder in größere Konflikte in seiner Beziehung kam, war er nicht mehr imstande, Nein zu sagen. Seine alten Glaubenssätze wurden angetriggert. Wie z. B.: „Mach’s anderen recht!“ oder „Sei perfekt!“ Abhängig von seinem individuellen Stresslevel passierte ihm dies immer wieder – früher oder später. Das vom Klienten am Beginn der Therapie als Ziel formulierte Neinsagen können und der Wunsch, über eine gute Resilienz zu verfügen, waren noch zu gering, zu fragil.

Um dem Klienten Abgrenzung nicht nur theoretisch zu vermitteln, sondern für ihn praktisch erlebbar zu machen und aus Erfahrung lernen zu können, beschloss ich, das bisher übliche Setting durch eine für den Klienten ungewöhnliche Vorgehensweise zu verändern: Nicht mehr der geschützte Raum der Praxis war der Ort der Therapie, sondern die nächste Therapiesitzung fand in Absprache mit dem Klienten auf freiem Feld statt.

Unbedingte Voraussetzung einer solchen Veränderung des Settings ist ein stabiles Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Klient. Das Einverständnis des Klienten ist dazu selbstverständlich vorab einzuholen.

FP 0418 alles App Page21 Image3Durch die radikale Ortsveränderung von der psychotherapeutischen Praxis auf ein freies Feld und die dort durchgeführten verhaltenstherapeutischen Übungen (in vivo) verankerte sich das Neinsagen für den Klienten um ein Vielfaches tiefer, als es in den Räumlichkeiten der Praxis je möglich gewesen wäre.

Die Stabilität des Erreichten zeigte sich bereits kurz darauf, als der Klient sowohl in seiner Arbeit als auch in seinem sozialen Umfeld diversen Stressoren ausgesetzt war: Der Grad der Abgrenzung, seine Fähigkeit Nein zu sagen, war erheblich gewachsen.

Je mehr Methoden ein Therapeut in seinem Repertoire hat, desto flexibler kann er auf die Bedürfnisse seiner Klienten reagieren.

Es gilt aber auch, das Setting immer wieder neu zu hinterfragen. Und bei Bedarf moderat anzupassen, bereit zu sein, es auch in größerem Maße oder – in seltenen Fällen – radikal zu verändern. Insbesondere dann, wenn man das Gefühl hat, dass der Klient mit dem angebotenen Setting nur bis zu einem gewissen Punkt kommt, aber eben nicht darüber hinaus, sollte man kreativ und mutig innovative Settings wagen.

Dazu gehört zukünftig vermutlich auch die Onlinebehandlung, sofern das Fernbehandlungsverbot gelockert wird. In Modellprojekten wird bereits die Fernbehandlung erprobt. Hier ist aktuell die Schweiz Vorreiter der Telemedizin.

Durch dieses niedrigschwellige Angebot, am heimischen PC/Laptop mit einem Therapeuten in Kontakt zu treten, könnte in Zukunft psychologische Hilfe „barrierefreier“ als heute geleistet werden.

Für Klienten, die z. B. soziale Phobien haben und sich nicht mehr außer Haus trauen, wäre dieses Setting vermutlich eine große Entlastung. Um schnell Hilfe zu bekommen, müsste der Klient dann nicht erst Hürden nehmen, die ihm durch Angst und Scham manchmal unüberwindbar scheinen, wie telefonischer Erstkontakt oder der erste persönliche Besuch in der psychologischen Praxis.

Ein weiteres scheinbar noch sehr futuristisches Setting ist die Nutzung von virtueller Realität (VR). Mithilfe einer VR-Brille ist es im sicheren Sessel oder auf der bequemen Couch der psychotherapeutischen Praxis gefahrlos möglich, virtuelle Situationen zu erzeugen, die therapeutisch genutzt werden können. Besonders Angstpatienten könnten so an ihr Thema dreidimensional und fast wie in der Realität herangeführt werden (z. B. Höhenangst: vorsichtiges Annähern an einen Abgrund, Phobien: Darstellung des angsteinflößenden Objekts in entsprechender Entfernung und Größe). Was sich heute noch futuristisch anhört, ist in den Universitäten und Labors bereits Realität.

Günter KaindlGünter Kaindl
Heilpraktiker für Psychotherapie, Praxis für Psychotherapie in München

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