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Fallstudie: Die Nase ist gar nicht zu groß

fotolia©PrazisFrau M. stellt ihren 14-jährigen Sohn vor. Sie befürchtet, dass dieser in der Schule massivem Mobbing ausgesetzt ist. Sie berichtet, dass ihm Schulsachen geklaut werden, er in der Pause vor versammelter Mannschaft bloßgestellt wird und der Rückhalt der Lehrer eher gering ist. Simon sei schon immer zurückhaltend gewesen, aufgrund seiner adipösen Statur wurde er bereits im Kindergarten gehänselt. Vom Vater erfahre der Junge nur wenig Unterstützung, dieser fordere ihn immer wieder auf, abzunehmen, dann würde das auch mit dem Mobbing schnell aufhören. Frau M. wiederum will das Aussehen ihres Sohnes nicht als alleinigen Grund für das Verhalten der Mitschüler gegenüber Simon sehen.

Anamnese

Ifotolia©kwanchaichaiudomm ersten Gespräch sind Mutter und Sohn gemeinsam anwesend. Aus der Befragung der Lebensgeschichte ergibt sich, dass Simon drei Wochen zu früh zur Welt kam, jedoch weitestgehend gut entwickelt schien. Sprachlich sei eine Verzögerung in der Reife beobachtet worden, deshalb sei die Mutter auf Anraten des Kinderarztes bereits früh bei einem Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten vorstellig gewesen, der aber keinen Grund zur Intervention sah. Die Gewichtszunahme erfolgte in den letzten beiden Jahren des Grundschulalters. Simon habe vor allem durch große Nahrungsaufnahme in wenigen Monaten 15 kg zugenommen.

Der Junge habe schulisch durchschnittliche Leistungen erbracht, es sei nicht aufgefallen, dass Lernschwierigkeiten oder sonstige kognitive Beeinträchtigungen vorlägen. Bereits in der ersten Klasse habe er sich sehr zurückgezogen und sei zum Einzelgänger geworden. Gründe hierfür seien der Mutter nicht bekannt. Auch in unserem Gespräch gibt sich der Junge äußerst schweigsam, wirkt dennoch zugewandt und höflich in seinen kurzen Antworten.

Beschwerdebild

In der zweiten Sitzung berichtet Simon eigenständig und auffallend offen von seiner Problematik. Es gebe eine „Gang“ in der Schule, die es auf ihn abgesehen habe. Aber eigentlich könne er seine Mitschüler auch verstehen. Immerhin sei er wirklich „ein Fettsack“ und nach eigenen Worten auch nicht wert, „geliebt zu werden“. Er äußert diese Worte freimütig und ohne großes Nachfragen. Dabei wirkt er gefasst, wenngleich ein großer Leidensdruck spürbar ist. Simon bestätigt, dass er nahezu täglich Mobbing ausgesetzt sei, von den Lehrern erhoffe er sich ebenso wenig Rückendeckung wie vom Vater, denn alle würden erwarten, dass er wieder zu einem sportlich fitten und körperlich kraftvollen Typen werde, der was auf dem Kasten hat und möglichst erfolgreich durch Schule und Beruf geht.

Simon wirkt für sein Alter überaus reflektiert und beschreibt seine Umwelt detailliert. Er spiegelt das Verhalten des Gegenübers rational, sucht aber die alleinige Schuld für das Verhalten der anderen bei sich. Diese Beobachtung zieht sich durch das gesamte Gespräch, in dem er sich stets verständnisvoll für seine Mitschüler zeigt, sie in Schutz nimmt und selbst die Rolle des Opfers widerstandslos akzeptiert.

Herangehensweise/Verlauf

Als Hausaufgabe zur dritten Stunde gebe ich ihm auf, er möge zehn Eigenschaften aufschreiben, die er mit sich in Verbindung bringt. Diese werden beim nächsten Treffen besprochen. Simon hat sie in folgender Reihenfolge angegeben: dick, schwul, unsportlich, hässlich, zu große Nase, wenig Haare, ruhig, schüchtern. Mehr sei ihm nicht eingefallen.

Auffallend ist in der Reihung besonders die Homosexualität, von der die Mutter zuvor nichts gesagt hatte. Auch die wenigen Haare lassen aufhorchen. Im Zuge der Pubertät wäre zu überprüfen, ob eine Hormonstoffwechselstörung vorliegt und die Reifung verzögert eintritt.

Ich fragte Simon, ob ihm bei seiner Aufzählung etwas auffalle. „Ja, natürlich sind das alles nur Äußerlichkeiten. Aber deshalb werde ich ja gemobbt.“ Woran er z. B. festmache, dass er eine große Nase habe. Das sehe man doch, wenn man sich mit den anderen aus der Klasse vergleiche. Der „Vergleich“ wird zu einem wichtigen Stichwort während der gesamten Beratung. Ziel soll es daher sein, einerseits nochmals das Gespräch mit der Mutter zu suchen, andererseits auf Grundlagen des Umformulierens von Glaubenssätzen ein neues Selbstbild zu entwickeln, das sich aus der eigenen und nicht aus der Fremdwahrnehmung speist.

Ich bitte Simon um Einverständnis, unter vier Augen mit der Mutter sprechen zu dürfen. Sie wisse nichts von der Homosexualität. „Aber das ist ja jetzt auch egal, wenn sie das erfahre.“ Eine gewisse Resignation könnte bereits auf depressive Symptome hindeuten. Deshalb schlage ich der Mutter vor, vorsichtshalber nochmals ein Gespräch mit dem Hausarzt zu führen und auch den erneuten Kontakt mit dem Jugendpsychotherapeuten zu suchen. Mit seinem Schwulsein an sich habe er keine Probleme, das seien ja heute viele, sagt Simon, wenngleich sein Vater davon nicht begeistert sein dürfte, aber der ahne ohnehin schon etwas und nehme ihn als Versager wahr.

In der vierten Beratungsstunde findet ein Gespräch allein mit der Mutter statt. Ihr werden nach seinem Einverständnis die Aufzeichnungen aus der Hausaufgabe gezeigt. Sie gibt sich wenig verwundert – auch nicht über die Homosexualität ihres Sohnes. „Ich hatte mir das schon fast gedacht. Er bekundet überhaupt kein Interesse an Mädchen, ihm ist nur wichtig, was die Jungs von ihm denken.“ Sie glaube auch nicht, so die Mutter, dass der Vater mit der Homosexualität ein Problem habe. In diesem Zusammenhang sei er offen, er wünsche sich nur ein erfolgreiches Vorankommen seines Sohnes in der Schule und im Berufsleben.

Aufgrund der gleichgültigen Äußerungen spreche ich die Mutter darauf an, dass ich einen Besuch beim Hausarzt anrate. Wegen der gering ausgeprägten Körperbehaarung insgesamt, die auch für mich auffällig und von der ersten Betrachtung her erkennbar war, bitte ich sie um Vorstellung ihres Sohnes bei einem endokrinologisch ausgerichteten Internisten. Bei der Terminvereinbarung biete ich meine Hilfe an. Frau M. verspricht, das Gespräch mit ihrem Mann zu suchen.

Im fünften Beratungsgespräch bitte ich Simon, seine aus der Hausaufgabe aufgeschriebenen Charaktereigenschaften nochmals als Satz zu formulieren – und zwar so, dass sie der Wahrheit entsprächen. Er kann mit dieser Anweisung zunächst nichts anfangen, überlegt rund zehn Minuten vor einem Blatt Papier, ehe er nach meinem Hinweis „Kommen diese Merkmale tatsächlich aus deinem Mund?“ beginnt: „Meine Mitschüler sagen, ich hätte eine große Nase.“ Schon der erste umformulierte Glaubenssatz offenbart damit eine Gewissheit. Simon nimmt nicht nur an, dass die Klassenkollegen über ihn entsprechend denken, sie bringen es ihm gegenüber auch zum Ausdruck.

Anhand des ersten Glaubenssatzes frage ich, welche Antwort er bisher auf solche Äußerungen gegeben habe. „Gar keine, ich habe mich immer zurückgezogen.“ Gemeinsam denken wir über eine passende Reaktion nach. Simon schlägt selbst vor: „Ich bin mit meiner Nase zufrieden“. Ob das denn auch stimme, frage ich zurück. „Ja, eigentlich schon. Ich hatte nie mit meiner Nase Probleme, bis mich Markus (der ‚Chef‘ der Gang) und seine Kameraden damit aufgezogen haben.“

Ich erkläre ihm, dass „Ich-Botschaften“ immer am besten ankommen. Sie greifen niemanden an, sie belehren nicht, sondern sie stellen die eigene Meinung einer zuvor übergriffigen Aussage des Gesprächspartners gegenüber. Damit beweise man geistige Überlegenheit, unterstütze ich Simon in seinem Gedankengang. Mit den restlichen Charaktermerkmalen wird nun eine gleichsame Umformulierung zu „Ich-Botschaften“ vorgenommen.

Nachdem Simon am Ende der fünften Stunde trotz der Anpassung der Glaubenssätze geäußert hat, dass er, unabhängig von Nase und Gewicht, trotzdem nicht mit seinem Aussehen zufrieden sei und der Leidensdruck hierbei groß ist, vereinbare ich die nächste Beratungsstunde in der Innenstadt. Zuvor habe ich einen Termin bei einem Typberater gemacht, mit dem Simon und ich gemeinsam zum Einkaufen gehen. Dieses Vorgehen war zuvor telefonisch mit der Mutter abgesprochen worden, hierbei bestätigte sie, dass bei der Blutuntersuchung ein für das Alter auffälliges Missverhältnis der Geschlechtshormone festgestellt wurden.

Die Typberatung ergibt die Notwendigkeit des Umstylens der bislang stets eng ausgewählten Kleidung, die Körperproportionen unnötig hervorhebt. Auch beim Frisör wurde ein Termin verabredet, der zu einem Kurzhaarschnitt rät. Zudem wurden die wenigen Augenbrauen und Wimpern leicht nachgezogen, dennoch ist ein deutlicher Unterschied erkennbar. Simon zeigt sich durch die neue Kleidung und den Haarschnitt überrascht. „Da fällt die Nase gar nicht mehr so auf.“

In der siebten Stunde berichtet Simon von ersten Reaktionen der Klasse, die rundum positiv ausgefallen wären. Der „Chef“ der Gang habe geäußert: „Aus dir kann man ja wirklich noch was machen.“ In Bezug auf die Homosexualität habe die Mutter das Dreiergespräch mit dem Vater und Simon gesucht. Erwartungsgemäß habe der Vater unbeeindruckt reagiert, zeigte sich aber vom verwandelten Aussehen des Jungen angetan. Zudem sei Simon von Vater und Mutter nach der Typberatung ein frisches Selbstbewusstsein attestiert worden, das auch mir aufgefallen war.

In der achten und zunächst letzten Beratungsstunde bitte ich Simon, sich selbst im Großformat schemenhaft zu skizzieren und dabei wichtige äußere Merkmale einzuzeichnen, über die er sich im Augenblick identifiziere. Erstaunlicherweise gibt er seine Nase deutlich kleiner wieder als in Realität, dafür werden Haare, Wimpern und Augenbrauen stark hervorgehoben. Zudem bat ich ihn, nochmals zehn Charaktereigenschaften zu formulieren, mit denen er sich heute beschreiben würde: schwul, unsportlich, ruhig und schüchtern treten auch dieses Mal wieder auf, sind aber als unverkennbare Gegebenheiten unabänderlich und gehören somit zur Person, wie Simon und ich zusammen feststellen. Obwohl sich das Gewicht noch nicht geändert hat, sieht sich der Junge offenkundig nicht mehr vorrangig als dick an, schreibt stattdessen: echt, sensibel, pünktlich, locker – mehr falle ihm auch dieses Mal nicht ein.

Doch schon die geringe Veränderung der aufgezählten Merkmale, mit denen sich Simon identifiziert, macht deutlich, dass Wesentliches im Selbstbewusstsein von einer gewandelten Wahrnehmung abhing, die zwar einerseits äußerlich erfolgte, aber auch durch mehr Ehrlichkeit im Umgang mit der Homosexualität, in Erkennung und in der Umformulierung der Glaubenssätze zu „Ich-Botschaften“ und durch das Eingeständnis zum Seindürfen zustande gekommen war. Entsprechend kann Simon nach dem Coaching in deutlich besserer psychischer Verfassung und ohne psychotherapeutischen Eingriff entlassen werden.

Nachbetrachtung

Von einer Hormontherapie wird nach Rückmeldung der Mutter zunächst bis zum 18. Lebensjahr abgesehen. Mit dem Endokrinologen wurde eine Ernährungsberatung vereinbart. Simon hat sich in der Schule nach drei Monaten auf einen Notendurchschnitt von 3,4 auf 2,7 verbessert. Eine regelmäßige Betreuung durch den Typberater wurde vereinbart. Bei Problemen bei der Annahme der Homosexualität oder bei neuen Auffälligkeiten wird jederzeit die Möglichkeit zur Wiedervorstellung angeboten.

Dennis RiehleDennis Riehle
Psychologischer Berater (VFP),
Personal Coach, Konstanz
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Fotos: fotolia©Prazis, fotolia©kwanchaichaiudom