Richtig schön scheitern
Die Angst zu versagen, quält fast jeden von uns irgendwann. Viele Menschen hält sie sogar davon ab, ihre großen Träume zu verwirklichen: ein Buch zu schreiben, an der Schauspielschule vorzusprechen, ein Unternehmen zu gründen, dem Traummann oder der Traumfrau die Liebe zu gestehen. Es wäre so schön und mein Herz brennt dafür. Aber was, wenn ich scheitere?
Was genau hat es mit dem „Scheitern“ eigentlich auf sich? „Scheite“ oder „Scheiter“ sind im ursprünglichen Sinn gespaltene Holzstücke. Zur Befeuerung von Ofen und Herd pfleg(t)en Bauern Holzblöcke zu „scheitern“, um sie draußen an ihrer „Scheiterwand“ zu lagern.
Im Mittelalter wurden Ketzer, Hexen und andere zum Tode verurteilten Kandidaten auf dem „Scheiterhaufen“ (aufgeschichtetes Holz) hingerichtet. Es hat schon irgendein „Gschmäckle“, wenn sich der „Scheiterhaufen“ heute als mehrschichtige Mehlspeise auf alpenländischen Speisekarten wiederfindet. Bon appétit!
Das Sinnbild des Scheiterns ist der Schiffbruch samt gesplitterten Holzbalken. Der Maler Caspar David Friedrich hat dies in seinem Kunstwerk „Gescheiterte Hoffnung“ (1823/1824) veranschaulicht. Es zeigt eine arktische Landschaft mit hoch aufgetürmten Eisschollen, unter denen ein gekentertes Segelschiff begraben liegt. Das Gemälde entstand nicht rein zufällig in einer Lebensphase Friedrichs, in der sein künstlerischer Erfolg verblasste. Goethes Drama um den empfindsamen Dichter Torquato Tasso (erschienen 1790) endet mit den Versen: „So klammert sich der Schiffer endlich noch/ Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte“. Schiffbruch! Und ja: Genau so fühlt sich Scheitern auch heute noch für uns an!
Niemand nimmt gerne Bruchlandungen in Kauf – geschweige denn, dass er offen darüber spricht. Im Gegenteil, wir verschweigen sie, blenden sie aus oder frisieren sie um. Denn wir müssen ja nicht nur damit leben, dass wir uns für unsere Niederlagen schämen, an uns selbst zweifeln und im Extremfall sogar Schuldgefühle haben. Als Sahnehäubchen obendrauf werden unsere Lebenspleiten in der Öffentlichkeit mit Argusaugen neugierig beobachtet und oft sogar mit Schadenfreude garniert. Getreu dem Volksmund: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“
In unserer Gesellschaft dominiert heute vor allem das „Winner-takes-all-Prinzip“. Wir leben in einer auf Gewinn und Effizienz getrimmten Leistungskultur, in der unser Stellenwert ausschließlich an unseren Erfolgen gemessen wird. Gefordert wird unbedingtes Gelingen. Dabei hat wohl jeder von uns schon mal so richtig in die Grütze gehauen! Ob vergeigte Prüfung, geflopptes Start-up, vor die Wand gefahrene Beziehung, vermasselte Präsentation, der siebte Versuch, sich das Rauchen abzugewöhnen, die zehnte erfolglose Diät: Persönliche „Schiffbrüche“ widerfahren uns allen!
Ein Ziel zu verfehlen, sein Lebensprojekt zu vermasseln, ist äußerst frustrierend und schmerzlich. Nichtsdestotrotz sind solche Erfahrungen unausweichlich und zudem fruchtbar, wenn wir uns ins Leben bunt hineinschreiben wollen. Scheitern steckt in jeder Erfolgsgeschichte. Oder wie Albert Einstein sagte:
„Wer keinen Fehler macht,
hat nie etwas Neues probiert.“
In Wissenschaft und Forschung sind Fehlversuche sogar an der Tagesordnung. Hierzu eine pointierte Aussage des Nobelpreisträgers Bertrand Russell: „Das Wesen der Wissenschaft besteht im Scheitern.“ Für die großen Entdeckungen erweisen sich Fehlschüsse häufig sogar von großem Nutzen. Denn aus vermeintlich missglückten Experimenten ergeben sich oftmals wissenschaftliche Sensationen. So nistete sich in den von Alexander Fleming sorgfältig angelegten Bakterienkulturen ein bis dahin unbekannter Pilz ein, der die mühsam gezüchteten Bakterien zur Strecke brachte. Anstatt die Petrischale zu entsorgen, riskierte der Bakteriologe einen zweiten Blick. Auf diese Weise machte er 1928 eine revolutionäre Entdeckung, nämlich die antibakteriellen Eigenschaften des PenicillinPilzes. Dafür erhielt er 1945 den Nobelpreis.
Zwar kratzen Fehlschläge ebenfalls wie bei „Normalos“ stark am Ego der (oft narzisstisch geprägten) Wissenschaftler. Das Geheimnis dieser großen Entdecker ist, dass sie sich von Enttäuschungen nicht ausbremsen lassen. Stichwort: Frustrationstoleranz. Die Pleiten des Laboralltags machen ihre Erwartungen realistischer. Sie schenken dem Gefühl des Gescheitertseins weniger Aufmerksamkeit. Sie analysieren stattdessen das Problem möglichst genau, um sich im nächsten Schritt auf einen neuen Lösungsweg zu konzentrieren. Wissenschaftler sprechen ohnehin weniger von „gescheiterten Experimenten“ als von „unerwarteten Ergebnissen“ – und schwupp ist der Beigeschmack der Katastrophe wie weggefegt. Sie nutzen also ihre Fehlleistungen als Chance zum Wachsen. Erst wenn man an seine Grenzen stößt, hat man die Chance, seine Grenzen zu überwinden. Frei nach dem gern zitierten Bonmot von Samuel Beckett: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“
Das mutet ziemlich sportlich an, aber leistet ein solcher Pragmatismus dem Schiffbrüchigen im Alltag wirklich Beistand? Unbestritten kann eine derart optimistische Lebensanschauung eine gelungene ErsteHilfe-Maßnahme für den Gestrauchelten sein, sein Gleichgewicht wiederzufinden ...
Vor diesem Hintergrund stellte der Psychologe und Forscher Johannes Haushofer kürzlich seinen „Curriculum Vitae of Failures“, seinen „Lebenslauf der Pleiten“, ins Netz. Der junge Assistenzprofessor an der amerikanischen Eliteuniversität Princeton musste in seiner bisherigen beruflichen Laufbahn einige Schlappen einstecken: abgelehnte Stipendien, Bewerbungen, Artikel. Etliche User teilten diesen Werdegang bei Facebook und Twitter. Zeitungen wie der britische Guardian, die amerikanische Washington Post, aber auch deutsche Printmedien wie die FAZ oder das manager magazin berichteten darüber. Haushofer wurde unbeabsichtigt zu einer neuen Ikone des Scheiterns. Dabei wollte er eigentlich nur einer Freundin Trost spenden, die zuvor eine Absage auf eine Bewerbung erhalten hatte. Haushofer tat diesen ungewöhnlichen Schritt in einer beruflich privilegierten Situation. Er konnte sich den offenen, selbstironischen Umgang mit seinen Abfuhren „leisten“. Also Vorsicht! Bitte nur unter gegebenen Umständen nachahmen!
Warum fällt uns eigentlich die konstruktive Auseinandersetzung mit den eigenen Ofenschüssen in der Regel so enorm schwer? Liegt es vielleicht an unserer sozialen Verhaltenskultur? Formen frühe Erfahrungen unseren Umgang mit Bauchlandungen? Oder ist es ein gattungstypisches Charakteristikum?
Michael Frese, Psychologe und Wissenschaftler, erforscht seit 1985 die (fehlende) „Fehlerkultur“ in Unternehmen. Seine Beobachtung: Die Kulturen unterscheiden sich erheblich in ihrer Fehlertoleranz. In Deutschland kann ein Misslingen schnell zum Karriereknick führen. Im Umgang mit „geschossenen Böcken“ sind die Amerikaner weitaus toleranter. Scheitern zu können, wird als Nachweis von Erfahrung gedeutet und als Zeichen gewertet, dass jemand jetzt etwas besser kann. Ihm wird Lernfähigkeit zugestanden. Dort finden sich einige repräsentative Beispiele für Unternehmer, die erst Millionen in den Sand setzten, um dann erst recht wirtschaftlich voll durchzustarten, wie Jeff Bezos, der Gründer von Amazon.
In unserer individualistisch orientierten Gesellschaft besteht demgegenüber die Tendenz, den Makel im Menschen selbst zu verorten, also in seiner Persönlichkeit, statt in seinem Handeln. Fehler werden als Versagen gewertet, nicht als Erfahrung.
So ist es kaum verwunderlich, dass Scheitern für uns eine irreparable Verletzung des Selbstwertgefühls bedeutet. Je höher Leistung und Erfolg zum Maßstab für das eigene Selbstbild und die Stellung in der Gesellschaft werden, desto dramatischer ist ein Versagen. Die Vermeidung des Scheiterns kann somit zum Mittelpunkt unseres Strebens werden. Deshalb ist hierzulande vermutlich auch der Gründergeist nicht so stark ausgeprägt wie in den USA.
„In dem Maße,
wie wir dazu neigen,
nach Perfektion zu streben,
sind wir zum Scheitern verurteilt,“
so der amerikanische Filmkritiker A. O. Scott in seinem Buch „Kritik üben“ (2017).
Überfrachtete gesellschaftliche Erwartungen mögen zweifellos Einfluss auf unsere individuelle Fehlerkultur haben. Aber warum verkriecht sich der eine von uns nach einer versemmelten Prüfung tagelang unter der Bettdecke, während der andere am nächsten Tag unbeirrt für den zweiten Antritt auf Patrouille geht? Wie wir mit Misserfolgen umgehen, darüber bestimmen auch die persönlichen Erfahrungen, die wir in unserer Vergangenheit, allen voran in der Kindheit gemacht haben.
Wenn wir in frühen Jahren negativ prägende Erfahrungen einstecken mussten, sind wir im späteren Leben in der Regel umso vorsichtiger. Bei einigen von uns ist das Scheitern als Muster tief verankert, und zwar in Form von Selbstverurteilung. Solche Menschen wiederholen das Scheitern unbewusst immer wieder neu und reinszenieren damit, was schon das leidige Kindheitsthema war: Du bist nicht gut genug!
Bereits in der Grundschule wird unserem Nachwuchs angesichts permanenter Bewertungen nicht selten die Flügel gestutzt. Im Fokus des Interesses stehen hier meist die Fehler und Defizite, weniger die Stärken und Ressourcen. Eben das, was gelingt und anpassungsfähig und deshalb liebens- und erhaltenswert erscheint. Um an Misserfolgen wachsen zu können, müssen wir (im Idealfall von Kindesbeinen an) erst einmal lernen, konstruktiv mit ihnen umzugehen.
Von „Resilienz“ ist hier die Rede. Auf die seelische Widerstandskraft zielt ein Pilotprogramm der Freiburger Vigelius-Grundschule, das sich zum Ziel gesetzt hat, Selbstvertrauen, Problemlösungsverhalten, Mitgefühl und Krisenfähigkeit der Schüler aufzubauen und zu kultivieren. In „Glücksstunden“ werden jedem Kind verantwortungsvolle Aufgaben übertragen, bei denen es seine ihre Fähigkeiten spielerisch selbst entdecken kann. Darüber hinaus werden die Kids darauf vorbereitet, auch mit schmerzhaften Erfahrungen zuversichtlich umzugehen und diese nicht als persönliches Scheitern zu betrachten.
Um Mut für das eigene Abenteuer aufzubringen, in dem die Option des Scheiterns inbegriffen ist, brauchen wir Heldengeschichten. Als Steve Jobs 1985 bei Apple geschasst wurde, fühlte er sich, so sein O-Ton, „am Boden zerstört“. Er kam sich vor wie ein Versager, schämte sich für diese Schmach. Seine ganze Kraft, all sein Herzblut, hatte er in dieses Unternehmen gesteckt. Dann beschloss er, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Sich neu zu erfinden. Zwölf Jahre später kehrte er im Triumphzug zu Apple zurück.
Im Nachhinein bilanzierte er in einer Rede an der Stanford University seinen Absturz und Neuanfang: „... dass ich bei Apple rausgeschmissen wurde, war das Beste, was mir passieren konnte. Die Schwere des Erfolgs wurde ersetzt durch die Leichtigkeit, wieder ein Anfänger zu sein.“
Jobs hat das seelisch erschütternde Scheiter-Erlebnis positiv als Geschichte erfolgreicher Krisenbewältigung in seine Autobiografie integriert. Besser noch: Ihm gelang es, die bitterste Niederlage seines Lebens in seinen größten Erfolg zu verwandeln.
In seiner Autobiografie „Die Kunst des Scheiterns. Tausend unmögliche Wege, das Glück zu finden“ (2007) thematisiert der Musiker Konstantin Wecker das eigene Scheitern und erhebt es sogar zur Kunst. Bereits in der Kindheit war er ein suchender „Vagabund“. Es folgten Ausreißversuche, kriminelle Handlungen, Drogenmissbrauch, Gefängnisaufenthalte. Seine Studentenzeit beschreibt er als „Zeit der Abbrüche“. Als erfolgloser Musiker spielte er Anfang der 1970er in mehreren Sexfilmchen mit.
Ab Mitte der 1970er-Jahre hatte er zwar mit der Musik Erfolg, lebte aber weit über seine Verhältnisse und ging bankrott. Wegen Drogenbesitzes landete er 1995 erneut im Gefängnis. Durch tiefe Reflexionen über Erfolge und Misserfolge, Sehnsüchte, Liebe und Gott versuchte er, die eigenen Abgründe zu verstehen. Heute gilt Wecker als einer der erfolgreichsten deutschen Liedermacher. Warum er diesen Buchtitel gewählt hat? „Weil meine Niederlagen mich weitergebracht haben, weit mehr als alles, was mir geglückt ist.“
Halten wir also fest: Das Scheitern ist die Schnittstelle zwischen Erkenntnis und Verzweiflung. Um mit Rückschlägen souveräner umzugehen, das zeigen uns die Stehaufmännchen, Überlebenshelden und Lebenskünstler, sollten wir zunächst einmal unsere Erwartungen und Ziele realistisch ausrichten. Uns eine Frustrationstoleranz zulegen und eine Langzeitperspektive einnehmen.
Im Umgang mit Tiefschlägen hilft es darü- ber hinaus enorm, nach erster Verzweiflung die Opferrolle schnellstmöglich zu verlassen und seine Niederlage so optimistisch wie möglich zu interpretieren. Sie gar als entscheidenden Wendepunkt zu deuten – und zwar hin zum Besseren. Situationen oder Begebenheiten, die wir als Reinfall empfinden, können sich, anderweitig betrachtet, als beachtliche Errungenschaft oder als ungeahnter Vorteil erweisen. Sodass der Misserfolg von gestern zum Erfolg von morgen wird.
Darüber hinaus hält Scheitern eine groß- artige Chance für Reifungsprozesse bereit. Gerade weil vertraute, überfällige Muster aufgebrochen werden und wir gefordert sind, uns neu auszurichten: „Die Leichtigkeit, wieder ein Anfänger zu sein“. Risiken eingehen, neue Wege beschreiten, sich auf das Unbekannte einlassen ... Scheitern macht kreativ! Indem wir unsere Misserfolge so in unser Leben integrieren, dass sie einen Sinn und Zweck ergeben, können wir auch ersprießlicher mit ihnen umgehen.
Als Sympathisantin des „Scheiterndürfens“ plädiere ich dafür, das Scheitern aus seiner Verbannung zu befreien. Schließlich entwickeln sich unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere individuelle Lebensgeschichte, all unser Fortschritt und Wachstum aus Fehlern. Versuch und Irrtum.
Ein neuer Trend der öffentlichen Selbstoffenbarung gibt Anlass zur Hoffnung: In „FuckUp-Nights“, die derzeit im Land die Runde machen, sprechen „gestrandete“ Menschen offen über ihr berufliches Scheitern. Sinn und Zweck ist es, gemeinsam aus Fehlern zu lernen und das Scheitern „salonfähig“ zu machen. Hierdurch verliert es seine Einsamkeit und Schwere.
„Misserfolg ist die Würze,
die dem Erfolg erst sein Aroma verleiht“,
stellt der Erfolgsautor Truman Capote in einer seiner Reportagen („Die Hunde bellen“, 2007) fest. Letztlich ist das Leben doch dann am schönsten, wenn wir nach Augenblicken des Scheiterns plötzlich doch noch unser Ziel erreichen ... oder ein überraschend anderes Ziel, von dem wir zuvor gar nicht wussten, dass gerade dieses unsere Bestimmung ist.
Conny Thaler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Yogatherapeutin,
Kommunikationswissenschaftlerin, Psychologin (M. A.), Buchautorin
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