Viele Schwächen sind verborgene Stärken
Viele Menschen beklagen ihr Leben lang ihre „Schwächen“ und versuchen, diese zu beseitigen. Das gelingt ihnen meist nicht – unter anderem, weil sich hinter vielen unserer sog. Schwächen Stärken verbergen.
„Ich bin zu perfektionistisch.“ „Ich kann mich schwer durchsetzen.“ „Ich werde schnell ungeduldig.“ Solche Aussagen hören Trainer, Berater und Coaches oft, wenn sie Personen fragen, warum diese mit bestimmten Aufgaben und Situationen Probleme haben. So detailliert listen sie dann ihre vermeintlichen Schwächen auf, dass man den Eindruck gewinnen könnte: Diese Person hat nur „Schwächen“. Dabei zeigt sich bei einem gezielten Nachfragen meist schnell: Die Person hat in ihrem Leben schon viele Herausforderungen gemeistert.
Die ähnliche Konzentration auf die Schwächen erlebt man häufig, wenn sich Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern zu Entwicklungsgesprächen zusammensetzen. Dann spielen die „Schwächen“ des Mitarbeiters oft eine so große Rolle, dass man sich fragt, warum das Unternehmen dem Mitarbeiter noch nicht gekündigt hat?
Eine Ursache hierfür ist: Viele Führungskräfte thematisieren in Entwicklungsgesprächen mit ihren Mitarbeitern vor allem, was in der Vergangenheit nicht optimal lief. Folgenden Punkten wird hingegen wenig bis keine Aufmerksamkeit geschenkt:
- Was lief gut?
- Warum lief es gut?
- Welche Kompetenzen zeigte der Mitarbeiter dabei?
- Wie kann er seine Stärken künftig noch besser entfalten?
Was gut war, wird schnell abgehakt, um anschließend die ganze Aufmerksamkeit auf die Schwächen und Versäumnisse des Mitarbeiters zu richten.
Was gut läuft, erscheint uns oft selbstverständlich
Dieses Ungleichgewicht spüren auch die Mitarbeiter. Deshalb erleben sie die Entwicklungsgespräche vor allem als Kritikgespräche und blicken ihnen eher mit Unbehagen entgegen, statt sich auf sie zu freuen. Denn sie wissen: Das Gespräch wird sich vor allem darauf konzentrieren, was in der Vergangenheit nicht optimal lief.
Woran liegt es, dass wir uns – beruflich und privat – meist vorwiegend auf unsere Schwächen statt Stärken konzentrieren? Eine zentrale Ursache hierfür ist: Vieles, was wir gut machen und können, erachten wir als selbstverständlich. So erfüllt es z. B. viele gute Texter nicht mit Stolz, dass sie gut schreiben können. Und viele exzellente Zuhörer sind keineswegs stolz darauf, dass sie gut zuhören können. Entweder, weil ihnen diese Fähigkeit nicht bewusst ist oder weil sie dieses Können als selbstverständlich erachten.
Anders verhält es sich mit den Denk- und Verhaltensmustern, an denen wir uns regelmäßig stoßen. Sei es, weil wir ein anderes Wunschbild von uns haben oder weil sie uns im Alltag tatsächlich zuweilen Probleme bereiten. Mit diesen unerwünschten Denk- und Verhaltensmustern beschäftigen sich viele Menschen tagaus, tagein. Und diese „Schwächen“ versuchen sie abzubauen, statt ihre Stärken auszubauen.
Stärken werden oft nicht wertgeschätzt
Ähnlich verhält es sich bei vielen Führungskräften. Auch sie erachten das, was ihre Mitarbeiter gut können oder tun, oft als selbstverständlich. Sei es, dass sie Termine zuverlässig einhalten oder selbstständig Probleme lösen. Also verlieren sie darüber keine großen Worte. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die Verhaltensweisen, bei denen die Mitarbeiter ihrem Idealbild nicht entsprechen – selbst, wenn diese für den Arbeitserfolg eine geringe Relevanz haben.
Ein Umdenken findet meist erst statt, wenn der Mitarbeiter das Unternehmen verlässt und ein Neuer seinen Platz einnimmt. Dann wird der frühere Mitarbeiter häufig glorifiziert. „Der Schmidt war ein toller Mitarbeiter. Er hat zwar oft gemeckert, doch verkauft hat er wie kein Zweiter.“ Oder: „Der Seifert war zwar etwas chaotisch, doch im Programmieren war er ein Ass.“ Dann ist das, was vorher selbstverständlich war, auf einmal nicht mehr selbstverständlich. Plötzlich werden die Stärken des Exmitarbeiters gewürdigt und seine Schwächen sind nur noch Anlass für Anekdoten. Und alle beklagen, dass dieser „wertvolle Mitarbeiter“ das Unternehmen verließ – weil er meinte, er könne in ihm seine Fähigkeiten nicht entfalten.
Deshalb sollten Führungskräfte, wenn sie mit einem Mitarbeiter über dessen Arbeit und künftige Entwicklung sprechen, vor allem folgende Fragen erörtern:
- Warum hat der Mitarbeiter diese und jene Aufgabe gut erledigt?
- Welche besonderen Fähigkeiten zeigte er dabei?
- Wie sollte sein Arbeitsfeld künftig aussehen, damit er diese Fähigkeiten noch besser einsetzen kann?
Mitarbeiter bringen nur Spitzenleistungen, wenn sie ihre Zeit und Energie auf die Dinge verwenden, bei denen sie überdurchschnittliche Fähigkeiten haben. Verwenden sie ihre Energie hingegen vor allem darauf, ihre „Schwächen“ zu beseitigen, entrinnen sie nie der Mittelmäßigkeit.
Ein Dirk Nowitzki wäre nie einer der besten Basketballspieler weltweit geworden, wenn er zugleich versucht hätte, den Nobelpreis für Physik zu erringen. Umgekehrt hätte Albert Einstein nie den Nobelpreis für Physik bekommen, wenn er zugleich versucht hätte, ein Top-Basketballspieler zu werden.
Das sollten Führungskräfte im Umgang mit ihren Mitarbeitern beachten. Denn ihre Aufgabe ist es nicht, dafür zu sorgen, dass jeder Mitarbeiter alles kann. Ihre Aufgabe ist es, die Mitarbeiter so einzusetzen, dass jeder seine Fähigkeiten entfalten und einbringen kann; außerdem die Zusammenarbeit ihrer Mitarbeiter so zu strukturieren, dass sie gemeinsam ein Spitzenteam bilden – unter anderem, weil sie sich wechselseitig unterstützen und so ihre individuellen Schwächen kompensieren.
Unsere Schwächen sind meist übertriebene Stärken
Bei einem genauen Betrachten der sogenannten Schwächen von Mitarbeitern zeigt sich zudem oft: Ihre vermeintlichen Schwächen sind übertrieben ausgeprägte Stärken. So arbeitet z. B. eine Person, die zur Pedanterie neigt, stets sehr ordentlich und gewissenhaft. Das heißt: Sie arbeitet strukturiert und prüft regelmäßig, ob sie keine Fehler gemacht hat. Diese Eigenschaften benötigen nicht nur Controller und Programmierer. Zur Schwäche wird ein solches Verhalten erst, wenn der Mitarbeiter Aufgaben wahrnimmt, bei denen dieses Verhalten den Erfolg eher verhindert als fördert, oder er jeden Arbeitsschritt aus Angst, einen Fehler zu machen, so oft kontrolliert, dass die meiste Arbeit liegen bleibt.
So verhält es sich bei fast allen „Schwächen“: Sie sind übertrieben ausgeprägte Stärken. Aus einer hohen Eigeninitiative kann schnell eine mangelnde Teamfähigkeit werden. Und eine sehr große Vorsicht kann zu mangelnder Entschlusskraft führen. Jedoch nur, wenn die betreffende Person eine Aufgabe wahrnimmt, bei der diese Verhaltensmuster nicht gefragt sind. Hierfür ein Beispiel: Wenn ein Flugzeugmechaniker die wichtigsten Teile eines Flugzeugs vor einem Flug mehrfach prüft, dann handelt er verantwortungsbewusst. Denn ein technischer Defekt beim Fliegen kann Hunderten von Menschen das Leben kosten. Beschäftigt sich hingegen ein Einkäufer wochenlang mit der Frage, ob er die neuen Kugelschreiber bei diesem oder jenem Großhändler kauft, dann ist dies vermutlich ein Zeichen mangelnder Entschlusskraft. Das heißt: Das gleiche Verhalten kann eine Stärke und eine Schwäche sein – abhängig davon, in welcher Situation es gezeigt wird.
Blick auf Stärken eröffnet neue Perspektiven
Diese Zusammenhänge sind vielen Menschen nicht bewusst. Wenn sie im (Arbeits-) Alltag häufig mit denselben Schwierigkeiten kämpfen, verdichtet sich bei ihnen schnell das Gefühl: Ich habe hier eine Schwäche. Dieses Gefühl wird mit der Zeit zuweilen so stark, dass sie ihre Stärken aus dem Blick verlieren. Entsprechend unsicher werden sie.
Dann ist meist ein neutraler Gesprächspartner hilfreich, der ihnen wieder die Augen öffnet – nicht nur für ihre offensichtlichen Stärken, sondern auch für die Stärken, die sich hinter ihren „Schwächen“ verbergen. Dann wird ihnen oft klar, dass sie auch von vielen ihrer vermeintlichen „Schwächen“ profitieren könnten, sofern sie diese zur richtigen Zeit und in den richtigen Situationen aktivieren würden.
Dann wird häufig auch deutlich, dass viele unserer vermeintlichen Schwächen aus einem falschen Rollenverständnis resultieren. So sind z. B. viele Verkäufer überzeugt: Ein Top-Verkäufer muss mit jeder Person sozusagen im Handumdrehen „Freundschaft“ schließen können. Ein Irrglaube – denn viele Kunden empfinden ein entsprechendes Verhalten als anbiedernd und unprofessionell. Und manchen Chef plagen Selbstzweifel, weil er der Auffassung ist, eine Führungskraft müsse stets wie ein Fels in der Brandung stehen und dürfe nie Unsicherheit zeigen – ebenfalls ein Irrglaube! Denn viele Mitarbeiter identifizieren sich gerade mit Vorgesetzten, die sich menschlich und nahbar zeigen.
Ein solches Augenöffnen ist auch fruchtbar, weil viele Menschen, die häufig gegen dieselben Barrieren stoßen, glauben, dass sie sich sich radikal verändern müssten. Wenn die meisten unserer Schwächen jedoch nur übertrieben ausgeprägte Stärken sind, ist dies nicht nötig. Dann genügen oft kleine Verhaltenskorrekturen, um wieder in die Erfolgsspur zu gelangen.
10 Fragen, mit denen Sie Ihre Stärken zielsicher identifizieren
1. Was geht Ihnen leicht von der Hand?
Welche Aufgaben/Aktivitäten erledigen Sie sozusagen spielerisch, ohne groß darüber nachzudenken? Bei welchen können Sie brillieren?
2. Was motiviert Sie und gibt Ihnen Energie?
Welche Aufgaben ziehen Sie fast „magisch“ an? Was machen Sie mit Freude? Was würden Sie gerne häufiger tun?
3. Wo erzielen Sie gute Ergebnisse?
Bei welchen Tätigkeiten erzielen Sie überraschend gute Resultate – manchmal scheinbar ohne Anstrengung?
4. Wann fühlen Sie sich „echt“?
Bei welchen Aktivitäten haben Sie das Gefühl, authentisch und ganz Sie selbst zu sein?
5. Was lernen Sie schnell?
Welche Sachverhalte/Themen verstehen Sie sehr schnell, und was lernen Sie ohne große Anstrengung?
6. Worauf konzentrieren Sie sich besonders?
Welche Themen/Entwicklungen verfolgen Sie aufmerksam? Was finden Sie spannend?
7. Was konnten Sie schon als Kind sehr gut?
Was haben Sie schon in Ihrer Kindheit gern oder oft getan? An welche Erlebnisse von früher erinnern Sie sich besonders gern?
8. Wann ist Begeisterung in Ihrer Stimme?
Wofür können Sie sich begeistern? Wann ist Ihre Stimme voller Energie und Leidenschaft?
9. Wann verwenden Sie Worte wie „super“ und „toll“?
In welchen Situationen, bei welchen Ereignissen verwenden Sie solche Formulierungen wie „Am liebsten …“ und „Es wäre toll, wenn …“.
10. Welche Aufgaben erledigen Sie sofort?
Welche Aufgaben tragen Sie oft nicht in Ihren Terminkalender ein, weil Sie diese sofort erledigen? Bei welchen Tätigkeiten vergessen Sie häufig die Zeit?
6 Tipps, wie Sie Ihre Stärken am besten entfalten
1. Identifizieren Sie Ihre wahren Stärken.
Stärken werden oft mit einem erlernten Können verwechselt. Wenn wir in etwas gut sind, es uns aber Kraft kostet, dann handelt es sich hierbei nicht um eine Stärke. Stärken zeichnen sich dadurch aus, dass wir die betreffenden Tätigkeiten gerne ausüben. Das heißt, wir sind intrinsisch motiviert. Achten Sie beim Ermitteln Ihrer Stärken hierauf.
2. Entdecken Sie die Grenzen Ihrer Stärken.
Fragen Sie sich, welche Stärken Sie noch häufiger nutzen könnten, um mit weniger Anstrengung noch bessere Ergebnisse zu erzielen. Doch Vorsicht: Übertreiben Sie den Einsatz Ihrer Stärken nicht. Sonst werden hieraus schnell Schwächen.
3. Bitten Sie andere Menschen um Feedback.
Fragen Sie Menschen in Ihrem Umfeld, welche Stärken Sie wann häufiger einsetzen könnten. Denn uns selbst fehlt oft der Blick hierfür. Ermuntern Sie zudem z. B. Kollegen dazu, Sie darauf hinzuweisen, wenn Sie zu stark auf gewisse Stärken bauen, damit Sie die nötige Balance wahren.
4. Verbinden Sie Ihre Ziele mit Ihren Stärken.
Angenommen, Sie haben für sich oder Ihr Business bereits Ziele definiert. Dann sollten Sie sich fragen, wie Sie Ihre Stärken nutzen können, um diese zu erreichen. Angenommen, Sie setzen sich neue Ziele. Dann sollten Sie prüfen, ob diese Ihren Stärken entsprechen. Denn nur dann können Sie Höchstleistungen erbringen.
5. Bauen Sie selten genutzte Stärken weiter aus.
Hier liegt unser größtes Entwicklungspotenzial. Ermitteln Sie, welche Stärken Sie wann häufiger nutzen könnten. Und erinnern Sie sich immer wieder daran, dass Sie auch über diese Stärken verfügen. Sonst verfallen Sie in Ihre gewohnten Verhaltensmuster.
6. Kompensieren Sie Ihre Schwächen clever.
Akzeptieren Sie Ihre Schwächen: Sie müssen nicht alles können. Seien Sie ehrlich zu sich und überlegen Sie sich auch, für welche Tätigkeiten Sie eher nicht geeignet sind. Dadurch vermeiden Sie Stress.
Folgendes können Sie tun, um Schwächen auszugleichen
Definieren Sie Ihr Aufgabengebiet neu. Das kann z. B. geschehen, indem Sie gewisse Aufgaben delegieren oder im Team eine neue Aufgabenverteilung vornehmen.
Nutzen Sie Stärken zum Kompensieren von Schwächen. Hierfür ein Beispiel. Angenommen, Sie übernehmen in Meetings ungern die Gesprächsführung, dann können Sie stattdessen z. B. Ihre Stärke, gut analysieren und weiterführende Fragen stellen zu können, nutzen, um Ihre Kompetenz einzubringen und zu zeigen.
Frank Rebmann
Stuttgart, Trainer und Berater für Unternehmen mit dem Schwerpunkt, die Stärken von Mitarbeitern und Teams zu ermitteln und zu entwickeln