Kairos oder Gratwanderung? Warum man Kinder loslassen muss!
Im Praxisalltag habe ich in den letzten Monaten eine bestimmte Tendenz festgestellt. Einerseits suchen mich Mütter bzw. Eltern junger erwachsener Menschen auf, andererseits suchen die jungen Erwachsenen Unterstützung. Auf beiden Seiten geht es um das Lösen der bisherigen Eltern-Kind-Beziehung, um eine neue Form der Beziehung beginnen zu können. Wann ist der richtige Zeitpunkt, der Kairos, dafür, sich aus dem Elternhaus zu lösen? Wann beginnt das Loslassen der Kinder, wann sollten sie ausziehen, um auf eigenen Beinen zu stehen?
In den letzten Jahren haben sich hieraus zwei Symptome entwickelt: Bei den Eltern (insbesondere den Müttern) ist das „Empty-Nest-Syndrom“ entstanden. Das Syndrom beschreibt, wie Eltern bzw. Mütter den Auszug der Kinder negativ empfinden. Oftmals haben die Mütter irgendwann einmal vor vielen Jahren ihren Beruf aufgegeben, um sich voll und ganz der Kindererziehung und der häuslichen Versorgung der Familie zu widmen. Mit dem Auszug des Kindes stehen die Mütter vor dem Problem, ihren Alltag sinnvoll und erfüllend zu gestalten. Sehr häufig befinden sich Mütter zu diesem Zeitpunkt auch in der hormonellen Umstellung der Wechseljahre.
Bei den jungen Menschen hat sich hingegen das „Nesthockerphänomen“ entwickelt; man bleibt einfach im „Hotel Mama“ wohnen – genießt die wirtschaftliche Rundumversorgung durch die Mutter (bzw. finanziell durch beide Eltern) und verliert sich mitunter in der unendlichen Aufzählung der Gründe, weshalb ein Auszug noch nicht umsetzbar ist. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Kinder in jedem Alter auch ein Stressund Streitfaktor für Eltern sein können; insbesondere neue Partnerschaften und Patchworkfamilien können davon betroffen sein.
Loslassen – ein Problem mit zwei Perspektiven
Eltern müssen erwachsene Kinder auch loslassen können. Diese Aussage ist eine Selbstverständlichkeit, birgt aber viele Fragen. Wann ist ein Kind erwachsen? Vor allem – wann ist das eigene Kind erwachsen? Und – wie erwachsen für welche Anforderungen?
In der subjektiven Wahrnehmung wird es hierzu vermutlich keine zwei Beteiligten Kairos oder Gratwanderung? man Kinder loslassen muss! geben, die derselben Meinung sind. Weder Eltern noch Großeltern oder Paten werden im Detail derselben Ansicht sein.
Aber die Kinder müssen die Eltern auch loslassen dürfen. Loslassen ist kein Augenblick, kein Moment. Loslassen ist ein Prozess. Ein Prozess, den alle Beteiligten bewusst zulassen sollten, den alle Beteiligten auch zeitgleich beginnen sollten. Aber wann?
Wann ist ein Kind erwachsen?
Mit der Volljährigkeit, dem Schul- oder Berufsabschluss?
Hierzu gibt es verschiedene Definitionen. Die Adoleszenz (lat. adolescere = heranwachsen) ist die Zeitspanne, in der ein Kind aus der Kindheitsphase herauswächst, um über die Phase der Pubertät das Erwachsenenalter zu erreichen. Erwachsen ist ein Mensch, der körperliche und seelische Reifungsprozesse nahezu abgeschlossen hat; hierzu gehört auch die Geschlechtsreife, die Zeugungsfähigkeit. In verschiedenen Kulturen wird diese Phase jeweils etwas unterschiedlich beziffert, sicher gibt es auch innerhalb einer Kultur viele Unterschiede – eine Gemeinsamkeit gibt es aber: Beginn und Ende der Adoleszenz sind recht deutlich formuliert. Ob nun 13 bis 19, 10 bis 20 oder 18 bis 24 Jahre – es ist eine Zeitspanne festgelegt, die einen Anfang und ein Ende hat.
Aus meiner Sicht ist Erwachsensein nicht mit einer bestimmten Zahl an Lebensjahren vereinbar. Es gibt junge Erwachsene unter 20, die sehr weitsichtige und reife Entscheidungen treffen können, und es gibt Menschen über 30, die bei Ärger und Unmut immer zuerst die Mutter anrufen. Selbst Kinder zu haben ist nicht gleichbedeutend mit erwachsen zu sein.
Wann ist man erwachsen?
Wie beschrieben ist das Erwachsensein kein Zustand, der mit einem gewissen Alter automatisch erreicht wird. Erwachsenwerden ist ein Prozess – für die Kinder und für die Eltern. Um nicht zu weit in die Pubertät zurückzugreifen, möchte ich mit dem 18. Geburtstag beginnen:
Ein heute 18-jähriger Mensch ist volljährig. Er/sie darf heiraten, Verträge abschließen, öffentlich rauchen, Tabakwaren und Alkohol kaufen, Auto fahren, Bankgeschäfte tätigen, Entschuldigungen für die Schule selbst schreiben, und die Schweigepflicht des Arztes oder Therapeuten ist auch gegenüber den Eltern verbindlich ...
Die Gemeinsamkeit der aufgezählten Möglichkeiten ist die, dass gesetzlich kein Elternteil mehr notwendig ist. Kinder sind unabhängig von den Eltern.
Der „richtige“ Moment
Wann ist denn nun der „richtige“ Zeitpunkt, um Kinder ins Leben zu entlassen? Wann beginnt das Erwachsenwerden?
Das Erwachsenwerden beginnt mit der Geburt. Jedes Kind erlangt nach und nach das Bewusstsein dafür, alles selbst machen zu wollen. „Allein“, „Nein“ oder „Selbst“ sind typische Worte von zweijährigen Kindern, die beginnen, ihre Geschicke selbst lenken zu wollen. Alleine den Löffel halten, den Trinkbecher – später alleine die Schuhe zubinden, die Kleidung aussuchen, die ersten Wege in der Nachbarschaft und erste kleine Einkäufe bestärken den jungen Menschen, die Unabhängigkeit auszuweiten. Eltern sind stolz und fördern ihre Kinder bei diesen Unternehmungen im sicheren Rahmen.
Mit dem Besuch der weiterführenden Schule ergeben sich noch einmal neue Erfahrungen; die meist geschützte Atmosphäre einer Grundschule wird verlassen und die Kinder müssen sich auf neue Lehrerinnen und Lehrer einstellen. In jedem Fach unterrichtet eine andere Lehrkraft – der Umgang ist meist rauer. Eltern erleben diese Phase oft auch mit einer breiten Gefühlspalette: Einerseits geht es endlich weiter, das Kind ist wirklich dem Grundschulalter entwachsen, vielleicht zeigen sich erste Vorboten der nahenden Pubertät; andererseits ist doch auch ein Gefühl von Unsicherheit und Angst präsent: Wird mein Kind sich in der neuen Umgebung wohlfühlen, sich einleben? Sind die älteren Schüler freundlich zu den „Kleinen“? Gibt es zuverlässige Bezugspersonen unter den Lehrkräften?
Meist geben sich diese Unsicherheiten im Verlauf der fünften Klasse, spätestens mit der sechsten Klasse haben die Kinder die Umstellung gut verkraftet. In den folgenden Jahren werden die Erwartungen an sie häufig größer – die Anforderungen aus dem schulischen Alltag sollten mehr und mehr selbst erfüllt werden, schulische Projekte werden zunehmend eigenständig bewältigt und auch die Klassenfahrten inzwischen ohne Heimwehgefühle als großes Abenteuer angesehen.
Parallel zu dieser Entwicklung zeigt sich meist auch eine Tendenz in der schulischen Leistung – erste Vermutungen über die voraussichtliche Schullaufbahn und den zu erwartenden beruflichen Werdegang bahnen sich an. In dieser Phase gibt es viel zu beobachten – manche Eltern stülpen ihren Kindern ihre Erwartungen über, andere planen den beruflichen Weg ihres Kindes und aktivieren eigene berufliche Kontakte. Schließlich sollten die Kinder nahtlos in eine überwiegend erfolgreiche Karriere starten – freiwilliges soziales Engagement inklusive – um dann auch in absehbarer Zeit wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen. Genauer wird dies meist nicht definiert, oftmals gibt es keine konkreten Vorstellungen davon, wie und vor allem wann das Kind als nunmehr junger erwachsener Mensch dann auch ausziehen wird.
Im Gegensatz zur letzten Generation haben die jungen Menschen heutzutage wenig Antrieb, das Elternhaus zu verlassen, um das Projekt „erwachsen außer Haus leben“ umzusetzen. Die Beziehung zu den Eltern ist oft freundschaftlicher geprägt, die heutigen Eltern haben meist ein anderes Verständnis für ihre Nachkommen. Ein wohlwollendes Miteinander von Patchworkfamilien und die Möglichkeiten, heute aus einem – vielleicht aus pubertärem Widerstand entstandenen – geringeren Schulabschluss noch ein (Fach-) Abitur zu machen, sind nahezu unbegrenzt. Selbst nach Verlassen der Schule nach den regulären zehn Jahren ist es möglich, Berufsausbildungen mit höherwertigen Schulabschlüssen zu kombinieren.
Ein gewünschter tatsächlicher Schulabschluss kann sich somit deutlich in die Länge ziehen. Wirtschaftlich gesehen sollte dieses Kind zu Hause wohnen bleiben. Aber ist das auch sinnvoll?
In der Generation meiner Eltern war es noch üblich, dass es erst Verheirateten überhaupt möglich war, gemeinsamen Wohnraum zu beziehen. Auch das ist heutzutage nicht mehr üblich. Trotzdem leben statistisch gesehen heute mehr junge Menschen länger zu Hause.
Die Vorteile scheinen offensichtlich zu sein: Solange alle unter einem Dach leben, ist nur ein Wohnraum für alle zu finanzieren. Bei der Versorgung (Wäsche, Lebensmittel, Wohnraumpflege) macht es häufig keinen Unterschied, ob eine Person mehr oder weniger da ist.
Solange sich in dieser Konstellation alle(!) wohlfühlen und sich alle(!) an der Wohnungs- und Lebensgemeinschaft beteiligen – finanziell, zeitlich, in der Küche und beim Wäschewaschen –, kann man sicherlich von einem gelungenen Projekt sprechen.
Die Realität sieht oft anders aus: Die Eltern finanzieren Wohnraum und Lebensmittel allein, organisieren Hausarbeit und Einkauf meist unabhängig von den (erwachsenen) Kindern. Diese hingegen organisieren ihr Schul- und Berufsleben sowie ihre Freizeit meist unabhängig von den Eltern; auch Ausgehzeiten und Urlaube finden häufig in erstaunlich gut strukturierter Autonomie statt. In diesem Zusammenhang zeigt sich eine deutliche Schieflage.
Ist es nicht häufig so, dass die vorhandenen Gegebenheiten von Eltern mit einem seufzenden „Ja, aber“ hingenommen werden? Schließlich fühlen sich viele Eltern in die Pflicht genommen. Man kann doch das Kind nicht ohne abgeschlossenes Studium und ohne Festanstellung ins Leben entlassen. Also wird der bestehende Zustand hingenommen, obwohl es vielleicht doch Möglichkeiten gibt, ihn im Sinne einer Win-win-Situation zu ändern? Natürlich birgt ein Auszug des erwachsenen Kindes auch Risiken, aber gerade in Krisen kann es Vertrauen in seine Fähigkeiten entwickeln und aktiv nach Lösungen suchen.
Zunächst braucht es das Bewusstsein bei allen Beteiligten, dass die räumliche Loslösung junger Erwachsener eine Normalität ist. Es muss akzeptiert werden, dass Eltern nicht ein Leben lang die Realität für ihre Kinder schönfärben können.
So, wie wir kleine Kinder ermutigen, auch mal außer Haus zu übernachten oder samstags allein zum Bäcker zu gehen, können wir erwachsene Kinder ermutigen, alleine zu leben, sich auszuprobieren – und auch das Alleinsein zu erleben, um nicht von zu Hause aus sofort in die nächste Familie (mit Partner/Partnerin) zu stolpern. Auch das gehört zum Heranreifen einer erwachsenen Persönlichkeit. Als Mutter und Vater muss man dem Kind das eigenständige Leben zutrauen, denn es spürt ganz genau, ob wir es ziehen lassen können. Daher stolpern viele junge Menschen aus dem Elternhaus direkt in die nächste (eigene) familiäre Wohngemeinschaft. Oftmals fehlt dann die wichtige Erfahrung, das Leben und den Alltag selbstständig gestalten zu können. Natürlich gibt es offene Fragen: Wie funktioniert das mit der Miete, den Nebenkosten, den Versicherungen, dem Einkauf, dem Stromanmelden ...? In der Regel jedoch kann man das Kindern verständlich erklären – und häufig ist die Motivation für einen Nebenjob oder den Berufsabschluss dann auch größer.
Das Problem, die erforderlichen Finanzmittel für die eigene Wohnung zu beschaffen, lässt sich in vielen Fällen lösen. In den meisten Städten gibt es (Studenten-) Wohngemeinschaften, auch kleine Appartements sind häufig ein Schnäppchen. Es geht nicht darum, in bester Wohnlage eine perfekt eingerichtete Filiale des Elternhauses zu errichten. Es geht um die erste kleine Unabhängigkeit. Hierfür kann es von Vorteil sein, sich auch Verbündete zu suchen: Großeltern, Onkel und Tanten, die für die erste Zeit verbindlich mit einer finanziellen Aufwendung zur Seite stehen (Übernahme von Stromkosten oder dem Handyvertrag). Lebenshaltungskosten fallen immer an – ob im Elternhaus oder außerhalb. Auch hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt, so kann z. B. ein monatlicher Großeinkauf vereinbart werden oder ein neues Ritual mit einem gemeinsamen Essen oder Frühstück am Wochenende. Dabei begegnet man sich dann häufig in ganz anderer Weise.
Wichtig ist es, eine neue gemeinsame Ebene zu erschaffen. Eine neue partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe mit dem allein lebenden Kind braucht eine gewisse Zeit, um zu wachsen. Selbstverständlich bleibt man in Kontakt, was ja in den Zeiten schier unbegrenzter elektronischer Möglichkeiten heute deutlich leichter ist als früher. Man bleibt ansprechbar und erklärt weiterhin seinem Kind die Welt – wenn es das braucht. Aus meiner Erfahrung ist die größte Motivation und zugleich die größ- te Unterstützung für ein Kind jedoch der überzeugte und ehrliche Ausspruch:
„Das traue ich dir zu. Du machst das. Aber du kannst mich jederzeit fragen.“
Patricia Sprave
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Heilpraktikerin Praxis für Entspannungsverfahren&alternative Behandlungsmethoden, Mettmann