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Die Diktatur des Idealgewichts

2016 03 Diktatur1

Kalorienzählen, ständiges Wiegen und die permanente Untersagung zu schlemmen

fotolia©pathdocStellen Sie sich vor, es gibt einen neuen sensationell Erfolg versprechenden Diätplan – und keiner interessiert sich dafür! Man hat sich damit angefreundet, dass Rundungen das Leben rund machen. Was würde passieren? Nichts! Jedenfalls nichts Schlimmes. Nur eine gewisse Leere könnte sich breitmachen – was tun in der Zeit, die sonst vom „Abnehm-Stress“ besetzt war?

Sicher, ganze profitable Diät-Industriezweige würden zusammenbrechen, doch nicht die Menschen. Abnehmen ist und bleibt Volkssport Nummer eins. Während sich von der Antike an bis in die 1950erJahre nur wirklich Übergewichtige und Fettleibige Schlankheitskuren unterzogen, versuchen sich darin heutzutage vor allem völlig Normalgewichtige. Die wirklich Dicken haben es meist längst aufgegeben.

Essens- und Gewichtskontrollzwang

Der Ernährungswissenschaftler und Psychoanalytiker Christoph Klotter von der Technischen Universität Berlin hat sich intensiv mit der Geschichte des Abnehmens und der Diäten befasst. Für ihn ist es höchste Zeit, diesem unhaltbaren Essens- und Gewichtskontrollzwang ein Ende zu setzen. „Von ärztlicher Seite her ist es längst bewiesen, dass ein paar Kilo mehr im Allgemeinen keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit haben.“ Klotter sieht in dem massenhaft kontrollierten Essverhalten einen anderen Zusammenhang. „Jede Zeit“, so seine These, „hat ihre eigenen spezifischen Untersagungen. Kreiste in den 1950er-Jahren das Denken um die Sexualität – darf ich, wann, wie oft, wie verhüte ich? – geht es seit den 1950er-Jahren ums Essen: Darf ich, wann, wie oft und wie viel, wie kann ich verhindern, dass ich dick werde? Beide Tabus haben den gleichen Hintergrund, nämlich den Körper zu disziplinieren. Sehen wir uns den Weg an, der zur sexuellen Befreiung führte, könnte dies auch der Weg sein, der uns von den Essproblemen erlöst: Aufklärung ermöglicht den Genuss.“

Ein Blick zurück

In der Antike bereits begann die reiche Oberschicht, sich intensiv mit ihren Essgewohnheiten zu beschäftigten. Es wurden Kostpläne aufgestellt, die sich an die Wohlhabenden richteten, mit der Maßgabe, besonnen zu essen. Hippokrates z. B. legte Richtlinien fest, welche Lebensmittel zu welcher Jahreszeit das innere Gleichgewicht förderten. Und er pochte darauf, nicht über das natürliche Sättigungsgefühl hinaus zu speisen, denn er war der Ansicht: Nur wer sich selbst mäßigen kann, wird nicht tyrannisch. Damalige Gelehrte gingen davon aus, dass Männer, die sich beim Essen zügeln, sich auch politisch beherrschen könnten und überlegter handelten.

In der Antike nahm schließlich die Unterscheidung zwischen dicken und dünnen Menschen ihren Anfang. Als dick galt, wer im Krieg zu langsam, zu unbeweglich war und danebenschoss. Der Staat sorgte sich im Wesentlichen nicht um die Gesundheit seiner Bürger, er trat nur auf den Plan, wenn seine militärischen Interessen bedroht waren. Über Frauen, ihre Figur und ihr Gewicht wurde zu dieser Zeit nicht gesprochen, sie spielten in der Männergesellschaft im öffentlichen Leben keine Rolle. Da sie nicht in die Schlacht zogen, gab es für Frauen auch keinen diätischen Anspruch.

Abnehmen: qualvoll und lebensgefährlich

Abnehmen war immer schon nicht nur qualvoll, sondern einstmals auch lebensgefährlich. Verbreitet waren Aderlass, Seife lutschen, Tabak kauen, das Ansetzen von Blutegeln – und die Regel, man solle immer das essen, wovor man sich ekelt. Üblich war das Geißeln mit eng um den Bauch gebundenen Riemen oder das Tragen von dünner Kleidung im Winter, um viel Körperenergie zu verbrennen. Und es ging nicht zimperlich zu. Bei der Schweninger-Methode z. B., die um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Anwendung kam: „Zuerst pufft der Arzt mit der geballten Faust die Gegend der Magengrube, schwach beginnend und schließlich die Faust so tief als möglich darin hineindrückend, wobei der Kranke sich bemühen muss, möglichst tief zu atmen. Hierauf kommt das Kneifen. Der Arzt fasst die fetten Hautdecken des Bauches zwischen seine beiden Hände und zerquetscht die Fettträubchen. Endlich springt der Arzt in ganzer Person auf den Leib des Patienten, sodass seine beiden Knie tief in die Magengrube hineindrücken.“

Viele der Methoden waren außerordentlich einfallsreich. So etwa die recht beliebte Coitus-Kur, welche Anfang des 19. Jahrhunderts von französischen Autoren „erfunden“ worden war und Fettleibigen im Wesentlichen die häufige Ausübung des Geschlechtsverkehrs empfahl. Man ging davon aus, dass junge Leute, „die der Venus sehr huldigen, mager waren, und dass Personen, von denen eine geschlechtliche Abstinenz anzunehmen berechtigt ist, wie Mönche und Witwen leicht fett wurden“. So die Rechtfertigung unter diätischem Vorwand.

Die Lüge vom angeblichen Idealgewicht

Empörung jedoch löste folgende Mäßigungsordnung aus: Es hieß, dass „die Bürger sich jeglichen Vollsaufens zwei Jahre hindurch enthalten sollten. Während dieser Zeit darf kein Mitglied zu einer Mahlzeit mehr als sieben Ordensbecher austrinken. Täglich sollten nur zwei Mahlzeiten stattfinden, und die Becher, die etwa zur Suppe, das heißt zum Frühstück oder als Schlaftrunk oder sonst zwischen der Zeit genossen wurden, waren von den täglich erlaubten 14 Bechern abzuziehen.“ Selbst weniger dogmatische Kritiker mussten einsehen – das ging zu weit, derartige Einschränkungen könne man keinem zumuten! Und schon damals klagten die Ärzte, dass ihre Patienten so oft lügen würden. Nach dem Motto: Glauben Sie mir Herr Doktor, ich esse fast nichts, und trotzdem nehme ich zu.

Im 19. Jahrhundert dann wurden auch die Frauen dem herrschenden Ideal unterworfen; zwar waren die Menschen damals generell üppiger als heute, aber es herrschte bereits eine allgemeine Norm, wie viel die Damen auf die Waage bringen sollten. Die Diktatur oder besser ausgedrückt die Lüge vom angeblichen Idealgewicht begann, wie Klotter an seiner Person als Beispiel belegen kann: „Ich bin 1,76 m groß und mein Normalgewicht beträgt derzeit 76 kg. Idealerweise müsste ich 70 kg wiegen. Anfang des Jahrhunderts hätte ich nach damaliger Tabelle noch 90 kg wiegen dürfen, um als normalgewichtig zu gelten. Welchen Grund gibt es für diese Veränderung?“ Mittlerweile ist es wissenschaftlich belegt, dass mit dem „Idealgewicht“ nicht automatisch auch die Lebenserwartung und die Fitness steigen.

Denn das vermeintliche Idealgewicht ist keine losgelöste Größe an sich, sondern immer vom kulturellen Wertewandel der Gesellschaft abhängig. Wurde z. B. in den 1920er-Jahren gesagt, dass der Mensch nichts für seine Beleibtheit könne, die sei genetisch vorbestimmt, galt Übergewicht in der Zeit des Faschismus als Vergehen gegen die Selbstdisziplin. Und Ende der 1950er-Jahre wiederum zeugte ein kleiner Bauch von Wohlstand und wirtschaftlichem Aufschwung. Das wandelte sich dann wieder. So gab es in den 1960-Jahren in der Bundesrepublik tatsächlich den Vorschlag, eine Meldepflicht für Dicke einzuführen. Mittlerweile wurde Schlanksein zunehmend ein Symbol für Disziplin, Flexibilität und Erfolg. Das hat sich in den Köpfen immer stärker festgesetzt. Eine in den USA Mitte der 1980er-Jahre durchgeführte Untersuchung hat ergeben, dass dort Manager vergleichsweise pro Kilo weniger Körpergewicht 1 000 Dollar mehr im Monat verdienen. Zwar werden nun öffentlich immer mehr Stimmen gegen die Diktatur der Diäten laut, aber dieser Zwang zur perfekten Figur sitzt tief in uns, kaum jemand kann sich ihm entziehen.

Ess-Selbstkontrolle als Lebensstruktur

Diäten sind ja inzwischen so etwas wie Ersatzreligionen. In einer Welt, die so chaotisch und wenig zu durchschauen und zu beeinflussen ist, erschaffen sich viele unbewusst über die Ess-Selbstkontrolle eine Struktur, die ihnen scheinbar Halt gibt. „Wünschenswert wäre eine Abkehr vom mörderischen Kontrollzwang hin zur Anerkennung, dass wir alle unterschiedlich sind, auch was Figur und Gewicht betrifft“, meint Klotter. Das Wesentliche wäre eine Rückkehr zum sozialen Bezug, denn wer in der Gemeinschaft froh ist, dem ist ein Kilo mehr oder weniger auf den Hüften nicht so wichtig. Und Essen sollte – natürlich auch unter gesundheitlichen Aspekten – Genuss bereiten und keine Sünde sein. Derweil hat mit Blick auf die Ernährungstabelle für manch einen das Sahnetörtchen, das er sich unter Gewissensbissen heimlich gestattete, moralisch die Schwere eines Ehebruchs. Ist doch schade – oder?

Birgit WeidtBirgit Weidt
Autorin, Journalistin

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