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Der Riss im Leben bleibt!

Dr. Ralf Lengen:
Ins neue Leben getreten!
Adoption und Pflege aus Sicht des Kindes.
Verlag Inschluss.

„Ins neue Leben getreten!“ Dr. Ralf Lengen schreibt aus Sicht von Betroffenen über Adoption und Pflege. Mit der Adoption wird alles gut. Vielleicht nicht sofort – immerhin müssen die neuen Eltern ihr neues Kind erst einmal kennenlernen – aber doch bald.

Mit dem Thema konfrontiert, denken das wohl die meisten Menschen. Vielleicht noch: „Wer die biologischen Eltern sind, ist doch egal. Wichtig ist, dass das Kind ein schönes Zuhause hat.“

Doch so einfach ist das nicht, weiß Dr. Ralf Lengen aus eigenem Erleben: Für das Kind bedeutet die Trennung von den Eltern ein Trauma – auch wenn es „schlimme“ Eltern waren. Mit seinem Buch „Ins neue Leben getreten“ will der selbstständige Journalist Verständnis für die Gefühlswelt dieser Kinder (und Erwachsenen) wecken. Er schildert seine Geschichte, nutzt aber auch vielfältige Quellen und zitiert Menschen, die selbst adoptiert oder in einer Pflegefamilie aufgezogen wurden. Mit „Ins neue Leben getreten“ wendet sich der Autor in erster Linie an andere Adoptiv- und Pflegekinder und Adoptiveltern, aber auch an Partner, Lehrer – und Therapeuten: „Nach meiner Beobachtung werden die Auswirkungen einer Adoption auch von vielen Therapeuten unterschätzt.“

„Das Umfeld, auch die Adoptiveltern, sieht meistens nur das ,nach‘ der Adoption“, ist der Autor überzeugt. Vorher war es sicher schlimm oder traurig. Aber das ist ja nun vorbei. Tatsächlich aber bleibe beim Kind das Gefühl der Trennung, des Abgeschnittenseins, auch der Scham und Schuld. Warum Schuld? Weil „ich nicht gut genug für meine Mutter war, um mich als Kind zu behalten“. Oder nicht liebenswert genug.

Dass nun, in der neuen Familie, „alles gut“ ist, ändere an diesem Gefühl wenig. Im Gegenteil: Viele adoptierte Kinder zweifelten an sich selbst und ihrer Gefühlslage: „Es geht mir gut, und trotzdem bin ich traurig.“ Das überfordere und verunsichere und sorge zudem leicht für Missverständnisse in der neuen Familie: Verständlicherweise würden viele Adoptiveltern diese Trauer des Kindes auf sich selbst beziehen: „Sind wir nicht gut genug? Machen wir etwas falsch?“

Wenn die leiblichen Eltern des adoptierten Kindes nicht beide tot sind, dann sind sie ja noch irgendwo. Das mache es schwer, die Trennung zu verarbeiten und damit abzuschließen, sagt Ralf Lengen und vergleicht die Situation mit einer gescheiterten Liebesbeziehung: Solange man noch unter Liebeskummer leide, sei man nicht offen für einen neuen Versuch. Anders gesagt: Wenn beide Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen seien, werde jedem Kind das Recht zugesprochen, um sie zu trauern. Das sei bei einem Adoptivkind nicht der Fall. Vielmehr werde – häufig auch von den Adoptiveltern – Dankbarkeit erwartet.

Hinzu komme, dass sich das adoptierte Kind als „zweite Wahl“ empfinde: „Die neuen Eltern konnten keine eigenen Kinder haben. Also ist man eine Ersatzlösung.“ Das wiederum macht die Adoption für das Kind zu einem Tabu anderen Kindern gegenüber: Man war für die Herkunftseltern nicht gut genug und ist auch jetzt nur eine „Ersatzlösung“ für die „neuen“ Eltern, die ja keine eigenen Kinder haben konnten.

Dass diese Gefühle für ein Kind furchtbar sind, liegt auf der Hand. Also werden sie möglichst weggesperrt. „Ich habe jahrzehntelang geglaubt: Mir geht es gut, ich habe die Adoption gut weggesteckt“, schildert der Autor seine Erfahrung. Als es dann nicht mehr „gut“ war, habe sein erster Therapeut das Thema „Adoption“ in einer halben Stunde abgehakt: „Jeder Psychotherapeut würde sagen, dass ein Kind, das seine Eltern verloren hat, traumatisiert ist. Aber längst nicht jeder Psychotherapeut würde sagen, dass ein adoptiertes Kind ein Trauma hat.“

Auf der anderen Seite seien die Adoptiveltern oftmals selbst traumatisiert – nämlich durch die Kinderlosigkeit. „Da trifft dann Trauma auf Trauma“ sagt Ralf Lengen und zitiert Margarete Mitscherlich, die darauf hinwies, dass eine Adoption die neuen Eltern auch immer an ihre eigene Unfruchtbarkeit erinnere.

Wie sollten Adoptiveltern und -kinder mit dem Thema umgehen? „Man sollte ehrlich sein. Also sich nicht in die Tasche lügen und die dicke Harmoniesoße über alles kippen“, ist Ralf Lengen überzeugt.

Für die Eltern könne das beispielsweise heißen: „Wir wollten eigene Kinder, das hat nicht geklappt. Aber jetzt, wo du da bist, ist es genau richtig so.“

Dem adoptierten Kind könne die Sichtweise helfen, dass die leibliche Mutter es weggegeben hat, eben weil sie es so sehr geliebt hat: Weil sie ihm ein besseres Leben ermöglichen wollte, als sie bieten konnte. Das bleibe zwar trotzdem schmerzhaft – für die meisten Kinder steht die Mutter über allem – aber es könne dazu beitragen, den permanenten Selbstzweifeln entgegenzuwirken. Das adoptierte Kind sollte um seine leiblichen Eltern trauern dürfen. Das erleichtere es ihm erheblich, sich der neuen Familie zuzuwenden.

Dr. Werner Weishaupt
Heilpraktiker für Psychotherapie, Dozent, Präsident des VFP
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