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Vom ständigen Drang, die Haut zu bearbeiten: Skinpicking Disorder

Viele von uns haben schon mal einen Pickel stärker bearbeitet, als sie es eigentlich wollten, oder die Kruste einer Schürfwunde abgeknibbelt, wissend, dass es den Heilungsprozess nicht gerade fördert. Krankheitswert hat das zunächst nicht. Doch wenn Betroffene die Kontrolle darüber verlieren, in tranceartigen Episoden oder völlig unbewusst nebenbei die Haut bearbeiten und dadurch Leidensdruck entsteht, spricht man von der Skinpicking-Störung oder Dermatillomanie.

Zunächst beginnt es häufig mit einer Angewohnheit, bei der das Bearbeiten der Haut einen positiven Effekt hat und negative Gefühle abgeleitet werden. Doch mit der Zeit können Dermatillomanie-Patienten nicht mehr einfach damit aufhören.

„Wie ferngesteuert lief ich
zum Spiegel und bearbeitete meine
Haut bis ich keine Stelle mehr
finden konnte ... oder der
diffuse Drang dazu abgebaut war.

Symptomatik

Im Großen und Ganzen kann man von zwei Ausprägungen sprechen, dem episodischen Skinpicking oder dem unbewussten Skinpicking. Beide Ausprägungen können isoliert oder in verschiedenen Zusammensetzungen miteinander auftreten und sich über den Krankheitsverlauf oder Lebensphasen bezogen verändern.

Bei beiden Arten werden vermeintliche Unebenmäßigkeiten, Pickel, Poren oder Krusten ausgedrückt oder abgekratzt oder mit Hilfsmitteln bearbeitet.

Bei dem unbewussten Skinpicking fahren sich Betroffene (immer m/w/d) mit der Hand über Hautstellen, bei denen sie Unregelmäßigkeiten wähnen, um diese durch das Bearbeiten der Haut zu eliminieren.

Bei fokussierten Episoden wird die Haut, häufig vor dem Spiegel (wenn die Gesichtshaut betroffen ist) für einen Zeitraum von einigen Minuten bis hin zu Stunden mit den Fingernägeln oder Hilfsmitteln wie Nadeln und Pinzetten bearbeitet. Schmerzen, die durch die gewaltsame Bearbeitung auftreten, werden dabei häutig nur gedämpft wahrgenommen. Betroffene beschreiben zudem einen diffusen Drang, der einer solchen Episode vorausgeht.

Nach der Episode empfinden sie zunächst den Abbau des Drucks, Beruhigung sowie die Befriedigung, wenn Hautstellen erfolgreich geglättet wurden oder Pickel möglichst vollständig ausgedrückt wurden. Kurz darauf folgen Schuld-und Schamgefühle sowie das Bewusstsein über entstandene Läsionen und langfristige Folgen an der Haut.

Schwere Entzündungen, Narben, Selbstwertschäden bis hin zu sozialem Rückzug können weitere Folgen sein.

Auftreten und Verlauf

Häufig beginnt das Skinpicking im Jugendalter zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr. Häufig kann eine Pubertätsakne als erster Trigger ausgemacht werden. Dennoch gibt es auch Fälle einer späteren Erstmanifestation zwischen dem 30. und 45. Lebensjahr, so eine amerikanische Studie. Die Studie kommt zu der Schätzung, dass die Prävalenz zwischen 1,4 % und 5,4 % betrifft. Aufgrund der störungsinhärenten Schambehaftung und der mangelnden Bekanntheit der Diagnose ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

Bei der Geschlechterverteilung legen Schätzungen nahe, dass 75 % der Betroffenen weiblich und 25 % männlich sind.

Das Auftreten der Störung kann in Phasen oder chronisch verlaufen. Bleibt eine Dermatillomanie unbehandelt, ist die Wahrscheinlichkeit zur Chronifizierung hoch. Denn die wiederkehrende Schuld, Scham und Selbstabwertung führen wieder zu negativen Gefühlen, die Betroffene durch das Bearbeiten der Haut zu regulieren versuchen. Ein Teufelskreis.

Zudem mündet Skinpicking durch die ständigen Verletzungen der Haut häufig in eine Skinpicking-Akne. Dabei geraten Haut und Psyche in einen weiteren Teufelskreis aus Skinpicking und Entzündungszuständen.

Eine anfänglich leichte Pubertätsakne z. B. kann so über Jahre hinweg aufrechterhalten oder verschlimmert werden.

Diagnostische Einordnung

Dermatillomanie ist bei Fachleuten, Laien und Betroffenen eine derzeit noch recht unbekannte Diagnose.

Sie kann aktuell im Rahmen der ICD-10 in den sonstigen Störungen der Impulskontrolle vergeben werden. In der Neuauflage der ICD-11 wird die Skinpicking-Störung mit einer eigenen Diagnose im Zwangsstö- rungsspektrum u. a. BFRBs (Body-Focused Repetitive Behaviors), deutsch: körperfokussierte repetitive Verhaltensweisen wie z. B. Trichotillomanie, eingeführt.

Die diagnostischen Leitlinien werden den bereits bestehenden Diagnosekriterien des DSM-5 weitestgehend entsprechen.

Im DSM-5 wird Dermatillomanie als eine der Zwangsstörung verwandte Störung eingeordnet. Es werden fünf diagnostische Kriterien für Dermatillomanie festgelegt, die eine zuverlässige Diagnose ermöglichen sollen:

  • Zwei Kriterien definieren die spezifische Symptomatik: (A) das wiederkehrende, schädliche Knibbeln an der Haut und (B) wiederholte Kontrollversuche.
  • Das dritte Kriterium (C) benennt den daraus resultierenden Leidensdruck bzw. die Beeinträchtigung in klinisch bedeutsamer Weise.
  • Zwei weitere Kriterien enthalten Informationen zu notwendigen differenzialdiagnostischen Abwägungen: (D) ursächlicher Substanzeinfluss/medizinischer Krankheitsfaktor sowie (E) eine andere ursächliche psychische Störung.

Neben einer Differenzialdiagnose durch die Befragung von Patienten kann auch die deutsche Skin Picking Impact Scale (SPIS-D [13]), ein Selbstbeurteilungsbogen für Patienten, zur Hilfe genommen werden.

Ursachen

Wenngleich die Ursachen von Skinpicking noch nicht hinlänglich erforscht und multifaktoriell zu betrachten sind, lassen sich einige Beobachtungen machen, die die Dermatillomanie begünstigen oder begleiten. Die zentrale Beobachtung, die einen therapeutischen Ansatz liefert, ist, dass Skinpicking in weiten Teilen aus dysfunktionaler Emotionsregulation resultiert.

Stress, Anspannung, Ängste oder Langeweile werden in der Bearbeitung der Haut abgeleitet.

Gesellschaftlicher Einfluss

Über die letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte haben sich die gesellschaftlich anerkannten Schönheitsideale und Modetrends stets gewandelt. Kurzes Haar, langes Haar, weibliche Rundungen oder magere Models, schmale oder breite Augenbrauen, Bärte in verschiedensten Ausprägungen.

Ein ebenmäßiges Hautbild ist allerdings nie aus der Mode gekommen. Daher wundert es kaum, dass Fotofilter, die das Hautbild glätten und makellos erscheinen lassen, bereits in fast allen Smartphones zur Grundausstattung gehören. Unter anderem durch diese bearbeiteten Bilder hat sich eine unrealistische Vorstellung von einem erreichbaren Hautbild entwickelt und sich über Medien stets weiterverbreitet.

Pickel, Mitesser, Rötungen oder lediglich große Poren gelten als unrein, hässlich oder krank.

Besonders Heranwachsende können sich in diesem Spannungsfeld, gar in Verbindung mit Kommentaren zum Hautzustand oder Mobbing, nur schwer abgrenzen und zu einer realitätsnahen Selbsteinschätzung kommen.

Biologische Ursachen

Die Ursachen der psychischen Erkrankung sind bisher noch wenig erforscht. Zwillingsstudien legen eine genetische Komponente bei der Entstehung von Skinpicking nahe.

„Erste Befunde von MRT-Studien weisen darauf hin, dass bei Personen mit Skin Picking im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen eventuell veränderte Gehirnstrukturen und neuronale Aktivierungsmuster vorliegen.

Bisher weitestgehend unerforscht ist eine rudimentäre Richtung bei der Ursachenforschung von pathologischem Skinpicking. Fellpflege, sowohl als soziale Interaktion, aber auch selbstbezogen bei einzelnen Individuen, ist bei unseren verwandten Primaten vielfältig zu beobachten. Beobachtungen von Zootieren, die an Stress oder Langeweile leiden, legen erste Vermutungen von verstärkter Fellpflege nah. Studien hierzu sind in der Planung.

Individuelle Ursachen

Unter individuellen Ursachen lassen sich häufig ähnliche biografische Ereignisse und Persönlichkeitsmerkmale an Betroffenen feststellen, beispielsweise:

  • starke Leistungsbereitschaft, Perfektionismus und Ehrgeiz
  • hoher Stellenwert des Äußeren
  • ausgeprägte Konfliktscheu
  • Kontrollbedürfnis
  • chronischer Stress
  • traumatische Erlebnisse
  • Mobbing

Therapie

Die Psychoedukation ist für Betroffene häufig schon eine erste sehr entlastende Erfahrung. Die meist über Jahre schmerzvoll gewachsene Scham und Selbstabwertung im Rahmen einer Diagnose zu verstehen, hilft eben jene für eine therapeutische Intervention auszuhalten. Wertvoll ist hier auch die Arbeit von Selbsthilfegruppen, die es mittlerweile in vielen deutschen Städten gibt.

Zu spüren, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine sind, kann sehr aufbauend sein.

In der Psychotherapie haben sich besonders verhaltenstherapeutische Techniken, wie das Habit-Reversal-Training und die kognitive Verhaltenstherapie sowie autogenes Training und Entspannungsübungen bewährt.

Die Hypnotherapie hat sich außerdem besonders hilfreich herausgestellt, da durch die Trance unbewusste Verhaltensmuster in der Tiefe bearbeitet und neue Verhaltens-/ und Gefühlsmuster effizient eingeübt werden können und sich so im Unterbewusstsein festigen. Auch zur Stressreduktion leistet die Hypnotherapie einen hervorragenden Beitrag.

Was tun bei Verdacht?

Im professionellen Kontext treffen Skinpicking-Betroffene häufig auf Kosmetiker oder Dermatologen, denn oftmals suchen sie hier Unterstützung bei der Behandlung der Schäden des Skinpickings. Oder sie versuchen, die Lösung auf somatischer Ebene zu finden.

Nur nebenbei können dann Sätze fallen wie: „Ja mir fällt es auch schwer, nicht an die Pickel dranzugehen.“ Möglicherweise können konsultierte Personen auch an dem Hautzustand feststellen, dass sie bearbeitet wurde.

In beiden Fällen ist es wichtig, sehr behutsam und wohlwollend mit dem vermeintlich Betroffenen umzugehen.

Die Scham und die Angst, enttarnt zu werden, kann sich für Betroffene dramatisch anfühlen. Hier lohnt es sich, wertfrei und annehmend nachzufragen, in welchem Ausmaß das stattfindet und ob die Person darunter leidet. Letztlich ist sehr entlastend für die Patienten, wenn sie behutsam an den Gedanken und später dann an erste Lösungsansätze herangeführt werden.

Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt!

Die Autorin hat über 20 Jahre lang an Skinpicking gelitten. Aufgrund der noch jungen Forschung war ihr Weg zu einer Diagnose und zu einer geeigneten Behandlung lang und von vielen Versuchen und Selbsterfahrung geprägt.

Schließlich fand sie Lösungswege für sich und hat sich die Behandlung der Krankheit zu ihrer Profession gemacht.

Vera Kranz
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Schwerpunkte: BFRBs (Skinpicking, Trichotillomanie, Wangenbeißen, Nägelkauen), Belastungssituationen, Ängste und Phobien, Resilienz- und Entspannungstraining, Burnout-Prävention. Hypnose-Therapie und -Coaching, kognitive Verhaltenstherapie
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