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In den Fängen von Narzissten

Narzissten (immer m/w/d) wirken auf den ersten Blick charmant, interessant, gesellig, humorvoll, anziehend und sehr selbstbewusst. Doch wer näher mit ihnen zu tun hat, lernt bald eine ganz andere Seite von ihnen kennen.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich schlich mich leise aus dem Bett und schloss mich in seinem Bad ein, um heimlich weinen zu können.

Der zehnte Hirnnerv, der „Nervus vagus“, zieht vom Gehirn aus zu den Eingeweiden und unter anderem über eine Verästelung zum Magen. Mein Magen war mir stets eine zuverlässige Quelle. War in einer Situation etwas faul, dann sendete das Hirn mir sofort über diese Nervenbahn ein Alarmsignal zum Magen. Bisher erkannte ich auch früher oder später die Botschaft dahinter und handelte danach – überwiegend richtig.

Nun sendete mein Hirn dem Magen allerdings permanent dieses unwohle Gefühl in Andrés Gegenwart, was zu einem chronischen Stresszustand wurde. Mit dieser Warnung von meinem Inneren: „Alarmstufe rot, Alarmstufe rot!“ konnte ich nichts anfangen, da diese Benachrichtigung einfach nicht mit dem Bild eines Seelenverwandten übereinstimmte, das ich von André hatte.

Da ich den Stress zwar spürte, aber nicht wusste, woher er rührte, konnte ich ihn auch nicht unterbrechen. Den Menschen, den ich liebte und bei dem ich mich sonst so wohl fühlte, konnte ich dafür nicht verantwortlich machen. Irgendetwas musste bei mir schieflaufen und so suchte ich den Fehler bei mir, so, wie es mir auch André riet, der mich so gut kannte und dem ich vertraute.

Ich hatte im Normalfall einen sehr guten Zugang zu mir und konnte erkennen, wo meine Probleme lagen, und dadurch auch gut an ihnen arbeiten. Was mich eben in dieser Situation mit André innerlich zerriss, war die Tatsache, nicht zu wissen, wo genau ich an mir arbeiten sollte. Ich bekämpfte also meine Intuition. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich hätte vergessen, wo vorn und hinten war, vergleichbar mit einer Katze, der man die Schnurrhaare, die notwendig zur Orientierung sind, abgeschnitten hat.

In diesem Moment konnte ich auch keine mir nahestehenden Menschen um Rat fragen, da ich die eben formulierten Probleme zu dieser Zeit noch nicht in Worte fassen konnte.

Noch immer auf den Fliesen in seinem Bad sitzend, hörte ich plötzlich, wie er aus seiner Wasserflasche trank, und wischte mir schnell die Tränen aus dem Gesicht. Wieder bekam ich ein sehr mulmiges Gefühl in der Magengegend.

Ich versuchte, mich zu beruhigen und einen Zugang zu mir zu finden. Ich sagte mir: okay, ganz ruhig. Was ist los mit dir? Was spürst du gerade? Ich spüre Angst. Vor was hast du Angst? Ich habe vor seinen Aggressionen Angst. Du weinst gerade – da hat er nicht aggressiv zu werden. Ich weiß, aber wieso habe ich dann die Befürchtung, dass er es doch werden könnte? Ich spinne doch nicht etwa? Oder doch?

Ich war an einem Punkt in der Beziehung angekommen, an dem ich so labil war, wie nie zuvor in meinem Leben. Ich erinnere mich daran, dass ich ihm sogar zugetraut hätte, dass er mich schlagen könnte. Schlimmer noch war aber, dass ich mich aus Schuldgefühlen heraus, ihn mit meiner Art dermaßen zu stören, höchstwahrscheinlich gar nicht zu wehren getraut hätte. Plötzlich konnte ich mich in Frauen hineinversetzen, die sich schlagen ließen und niemandem etwas davon erzählten – weil sie sich schuldig fühlten. Genau jenes Verhalten, was ich vorher nie nachvollziehen konnte.

Traue ich ihm wirklich zu, handgreiflich gegen mich zu werden? Niemals, ich spinne wahrscheinlich tatsächlich – so, wie er es sagt, dachte ich mir und kehrte dennoch mit einem mulmigen Gefühl ins Bett zurück.

Er gab mir einen Kuss und fügte hinzu: „Und jetzt schlaf“.

André drehte sich von mir weg und anhand seiner Ganzkörperzuckung, die nach kurzer Zeit folgte, konnte ich erkennen, dass er gleich „weg“ war.

Konnte er wirklich nicht spüren, dass es mir schlecht ging? Er deutete doch sonst auch mein Denken und Verhalten richtig. Ich war traurig darüber, dass er es nicht für nötig empfand nachzufragen, weshalb ich nicht schlafen konnte. Interessierte es ihn vielleicht einfach gar nicht? Interessierte ich ihn nicht?

Neben der Traurigkeit darüber, dass er nicht wissen wollte, woher meine Schlaflosigkeit rührte, war ich aber auch erleichtert, dass er seelenruhig einschlief und „die fette schwarze Spinne“ sich nicht regte.

Lange würde ich das nicht mehr aushalten. Es musste dringend eine Lösung her. Dieser Ausschnitt aus meinem Buch „Verlorenes Ich. Ein Essay zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ gibt Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt meiner Freundin Mary, die sich zu dem Zeitpunkt noch unwissend in einer Liebesbeziehung mit einem Narzissten befindet. Es gibt viele Menschen wie sie, die völlig ahnungslos in den Netzen eines Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung festhängen. Früher oder später weisen die meisten Betroffenen psychische Leiden auf. Dabei stehen im Vordergrund Schlafstörungen, Erschöpfungszustände, Angststörungen, psychosomatische Beschwerden, kognitive Dissonanzen und Traumafolgestörungen. Die Symptome werden jedoch oft nicht oder nur unzureichend mit dem narzisstischen Partner in Verbindung gebracht. Stattdessen glauben sie, dass sie selbst Ursprung aller Probleme sind und damit auch für die Schräglage ihrer Beziehung.

Von kleinen Diskussionen im Alltag bis hin zu großen Auseinandersetzungen: Die Ursache liegt in den Augen eines Narzissten immer bei den anderen und nie bei ihm selbst. Dass er sich keine Fehler eingestehen kann, ist Teil seiner Störung. Schuldgefühle hält er nicht aus, denn Schuld können seiner Vorstellung nach nur unvollkommene Menschen haben, aber nicht er.

Ein Narzisst denkt in Extremen: In seiner Welt gibt es entweder schwarz oder weiß. Ein Mensch ist in seinen Augen also entweder ausschließlich gut oder ausschließlich schlecht. Es gibt kein mittendrin. Er kann einen Menschen nicht mit seinen positiven und negativen Seiten vereint betrachten. Das Gleiche gilt auch für ihn selbst: Er sieht sich selbst als durch und durch gut an. Seine negativen Seiten wehrt er ab, indem er sie in seinen Partner hineinprojiziert.

Wird der Narzisst z. B. vom Partner auf ein Fehlverhalten angesprochen, dann wird der Narzisst dafür sorgen, dass sich sein Partner dafür schuldig fühlt: „Ich kann es nicht fassen, dass ich mir so etwas anhören muss. Dass du das überhaupt von mir denkst, zeigt, wie wenig du mich kennst. Außerdem möchte ich dich daran erinnern, dass du derjenige warst, der […]“. Bekommt sein Partner daraufhin Schuldgefühle und bemüht sich im Anschluss darum, den Narzissten wieder zu besänftigen, ist die projektive Identifikation erfolgt. Dies ist eine Strategie des Narzissten, Gefühle die er nicht aushalten kann (in diesem Beispiel das Schuldgefühl), in seinen Partner hineinzuprojizieren, um sich nicht weiter damit auseinandersetzen zu müssen.

Besonders anfällig für das Übernehmen der Gefühle anderer sind stark empathische Menschen. Aus diesem Grund stellt diese Personengruppe die attraktivste Zielgruppe für Narzissten dar. Narzissten beherrschen diese Strategie allerdings so ausgezeichnet, dass sich sogar viele Psychotherapeuten nicht an die Therapie von ihnen heranwagen.

Ein weiterer Grund, weshalb Betroffene ihren Partner nicht infrage stellen ist der, dass sie zu sehr damit beschäftigt sind, ihre eigene Person infrage zu stellen. Sie trauen sich selbst, ihren Erinnerungen und ihrer Intuition nicht mehr. Das kommt daher, weil der Narzisst die Wahrnehmung seines Partners über einen langen Zeitraum intermittierend infrage gestellt hat: Er redete ihm ein, dass dieser diverse Situationen aufgrund einer überhöhten Empfindlichkeit falsch erleben und bewerten würde. Er streitet Dinge ab, die er gesagt oder getan hat, und er unterstellt seinem Partner Dinge, die er gesagt oder getan haben soll.

Viele Betroffene zweifeln bereits nach wenigen Wochen nach dem Kontakt mit einem Narzissten an ihrem Verstand. Um seinen Partner weiter zu verunsichern und zu desorientieren, manipuliert der Narzisst auch gerne Gegenstände in der Wohnung. Zum Beispiel legt er dessen Brille an einen anderen Ort und freut sich darüber, wie verunsichert dieser beim Suchen durch die Wohnung tappt. Sein wahres Gesicht zeigt er nur vor seinem Opfer, wodurch dieser bei anderen auf Unverständnis für sein Leid stößt. Dies lässt ihn noch weiter an seiner Wahrnehmung zweifeln. Das genannte Vorgehen nennt man Gaslighting, was von Psychopathen und Narzissten als ein Mittel zur psychischen Gewalt eingesetzt wird.

Warum Betroffene in der Beziehung bleiben

Die therapeutische Empfehlung an Menschen, die es mit einem Menschen mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu tun haben, lautet: „Mach dich vom Acker, und zwar so schnell du kannst!“ Ein Narzisst ist nämlich weder dazu in der Lage, fehlerhaftes Verhalten einzusehen noch es zu ändern. Er kann nicht aus seiner Haut heraus und er hat nie das Wohl seines Partners im Sinn. Auch ist er nicht an dem Funktionieren einer harmonischen Beziehung interessiert.

Wenn Betroffene das erkannt haben und den Entschluss fassen, ihren Partner zu verlassen, schaffen sie es in der Regel nicht beim ersten Anlauf. Bis zu sieben Rückfälle sind die Regel. Der Grund hierfür liegt neben der erlittenen Gehirnwäsche darin, dass Betroffene eine körperliche Abhängigkeit zum Narzissten entwickeln: Sie durchlaufen in einer Beziehung mit einem Narzissten einen Missbrauchszyklus, der sich so lange wiederholt, wie die Beziehung andauert. Die Idealisierungsphasen und die Abwertungsphasen wechseln nach Lust und Laune des Narzissten ab, wobei mit der Zeit Erstere immer kürzer und Letztere immer länger und intensiver werden.

Neben dem Chaos, das hierbei im Kopf der Betroffenen entsteht, kommt es durch das Auf und Ab der Gefühle auch zu einer biochemischen Abhängigkeit. Hormone wie Oxytocin, Dopamin und Cortisol sind hierbei beteiligt und machen es den Betroffenen schwer, sich vom Narzissten fernzuhalten – egal wie schlimm sich dieser verhalten haben mag. Viele sind bereits so dermaßen verunsichert und destabilisiert, dass sie komplett von dem Selbstwert abhängig sind, die der Narzisst ihnen zuschreibt.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Narzisst seinen Expartner nach einer Trennung nicht freilassen kann. Er will ihn zurück, um ihn weiter missbrauchen zu können. Bei jeder neuen Kontaktaufnahme wird die Sucht bei den Betroffenen erneut angekurbelt. Aus dem Grund ist der absolute Kontaktabbruch unumgänglich. Es gibt aber auch weitere Faktoren, die eine Trennung erschweren: Manche haben den gemeinsamen Arbeitsplatz oder gemeinsame Kinder oder sie wollen den Wohnort nicht verlassen. Andere haben bereits in ihrer Kindheit narzisstischen Missbrauch erlebt und wissen nicht anders zu leben. Manche haben auch selbst eine Persönlichkeitsstörung wie z. B. die abhängige Persönlichkeitsstörung, die es ihnen erschwert, sich von dem narzisstischen Partner zu lösen. In jedem Fall wird derjenige, der in der Nähe eines Narzissten bleibt, weiterhin Missbrauch erleben.

In diesen Fällen wird häufig früher oder später zu Antidepressiva oder Alkohol gegriffen als Versuch, dem seelischen Leid Linderung zu verschaffen. Diese Verhaltensauffälligkeit sieht der narzisstische Partner dann als einen eindeutigen Beweis dafür an, dass sein Partner seit jeher psychisch nicht intakt war, und es deshalb so viele Schwierigkeiten in der Beziehung gibt. Mit dieser Interpretation stellt er sich dann bei anderen als das leidende Opfer dar und kassiert ordentlich Aufmerksamkeit in Form von Mitleid dafür, es mit einem so schwierigen Partner aushalten zu müssen.

Wann Narzissten gefährlich werden können

In die Welt eines Narzissten dürfen nur Bewunderer hinein, keine Kritiker. Erhält ein Narzisst nicht die Bestätigung und Zustimmung, die er sich in einer überhöhten Weise zuschreibt, wird die narzisstische Wut entfacht. Es ist eine besondere Form der Wut, die mit Hass einhergeht und die man auch „Vernichtungswut“ nennen kann. Aufgrund seiner extrem ausgeprägten Empfindlichkeit kann es schnell geschehen, dass er sich gekränkt fühlt. Es kann bereits ausreichen, nicht die gleiche Meinung zu einem Thema mit ihm zu haben.

Fasst der Narzisst etwas als Kränkung auf, dann fühlt er sich in seiner ganzen Person abgelehnt. Jene Gefühle muss er vernichten, indem er die Kritik bekämpft und den Kritiker gleich mit.

Es ist ein Versuch des Narzissten, die unaushaltbaren Gefühle tiefer Ablehnung, die in ihm schlummern, zu ersticken. Gefährlich wird es jetzt für das „auslösende Objekt“, denn der Narzisst schreckt in seiner Rachsucht vor nichts zurück. Narzissten haben in der Gehirnregion, wo der Bereich für das Mitgefühl sitzt, weniger graue Substanz als normal fühlende Menschen. Die Wege, die er einschlägt, um seiner Zielperson zu schaden, übersteigen bei vielen die Vorstellungskraft von emotionaler Kälte. Da ein Narzisst nicht in der Lage ist, Wutgefühle zu regulieren, bleibt diese oft ein Leben lang bestehen und somit ist er selbst nach jahrelangem Kontaktabbruch immer noch gefährlich für die ehemalige Zielperson.

Das Leid ist groß

Die genannten psychischen Leiden können in sämtlichen Beziehungskontexten mit Narzissten entstehen. Egal, ob es der Chef, ein Elternteil, ein Geschwisterchen oder der beste Freund mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung ist: Narzissten greifen immer zu den gleichen „Waffen“ und können somit in jedem Beziehungsrahmen das Leben ihrer Zielperson zur Hölle machen.

Hilferufe aus aller Welt erreichen mich: Da gibt es einen Mann, der nach einer zu langen Zeit des Leidens nicht mehr kann und sich von seiner narzisstischen Expartnerin trennt. Daraufhin spielt diese das Opfer und hetzt die gemeinsamen Kinder so weit gegen ihn auf, dass diese nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.

Ein anderer Fall spielt sich vor Gericht ab: Eine Mutter von zwei kleinen Jungen bekommt von ihrem narzisstischen Exmann vorgeworfen, sie hätte die Jungen beim Baden angefasst. Ein echtes Interesse an den Kindern hatte ihr Exmann noch nie gehabt, seine Intention liegt lediglich darin, ihr die Kinder wegzunehmen, um einen größtmöglichen Schaden in ihrem Leben anzurichten. Aufgrund des schauspielerischen Talents gewinnen Narzissten zumeist vor Gericht.

Sehr viel Not bekomme ich auch von Personen mit, in deren Familien der Narzissmus wütet: Viele Betroffene stellen nach einem langen Leidensweg den Kontakt zu ihrem narzisstischen Elternteil/ zu ihren narzisstischen Eltern ein, weil eine Beziehung zu belastend wurde. In einigen Fällen wird auch der Kontakt zum Rest der Familie abgebrochen, weil das Familienmobbing – angeführt von einem oder mehreren narzisstischen Familienmitgliedern – unaushaltbar wurde. Viele Menschen haben aufgrund von narzisstischem Missbrauch alles verloren: ihre Familie, ihre Freunde, ihr Zuhause, ihre Arbeit, ihre Finanzen und ihre Gesundheit.

FP 0221 komplett Page33 Image1Elena Digiovinazzo:
VERLORENES ICH.
Ein Essay zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung,
Verlag West-Ost-Development,
Publishing series „initiative“

Foto Michael Kürbis, Cover-Disign Henning Lüthje

 

Elena DigiovinazzoElena Digiovinazzo
Sozialpflegerin, Physiotherapeutin, Buchautorin, zurzeit in der Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie an der Paracelsus Schule Hamburg
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