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Die eigenen Grenzen! Mein hochbegabtes Kind zeigt sie mir

Szenen des Alltags

2017 02 Grenzen1„Mein Sohn ist anders als andere Kinder und ich weiß nicht, warum ich damit immer wieder Schwierigkeiten habe. Er findet keine Freunde oder streitet sich nur mit Gleichaltrigen. Er möchte immer recht haben und die Handlungen des Tages müssen seine ganz eigene Logik haben. Wenn er Erlebnisse erzählt, lässt er keine einzige Sekunde Handlung aus und die Geschichte dauert ewig, bis er zum Punkt kommt. Es wäre so schön, wenn er sich unkompliziert in die Gruppe der Kinder und in die Familie einfügen würde, dann wäre alles viel einfacher.“

„Meine Tochter kann sich nur schwer entscheiden, welche Kleidung sie heute anzieht. Das dauert zu lange, wir müssen doch los! Aber alle Kleidungsstücke müssen bei ihr gleichberechtigt Verwendung finden. Abends muss sie noch die Stofftiere sortieren, denn jedes Tier darf genau gleich lange in ihrer Nähe sitzen. Ich bin oft so ungeduldig mit ihr, dass ich zuweilen richtig wütend und laut werde.“

Was geschieht mit uns?

Hochbegabte Kinder bringen uns an unsere eigenen Grenzen. Wir werden ungeduldig, verstehen nicht, warum das jetzt unbedingt noch genau so sein muss, wie unser Kind das verlangt. Wutanfälle aus Verzweiflung sind manchmal die Folge beim Kind („Meine Eltern verstehen nicht, warum das für mich wichtig ist!“). Aber es kann sich auch in seine innere Welt zurückziehen, in die dann niemand mehr Zugang hat. Dann wird es still und wir wissen gar nicht mehr, was in ihm vorgeht.

Wir Eltern sind bisweilen nicht weniger verzweifelt, sehen wir doch, dass wir irgendwie diesem Kind dann nicht gerecht werden. Wir werden auch ungeduldig, wütend, verstehen nicht, sind hilflos. Manchmal schämen wir uns sogar für das Verhalten unseres Kindes. Gleichzeitig müssen wir sein Verhalten in der Gesellschaft erklären, im Kindergarten, in der Schule, bei Freunden usw. Aber wie sollen wir das machen, wenn wir selbst nicht wissen, was mit unserem Kind los ist und wie wir ihm helfen können?

Und dann – wird es besser?

Wir können mit dem Verhalten unseres Kindes besser umgehen, wenn wir irgendwann erfahren, dass es hochbegabt ist. Dann informieren wir uns über diesen Themenkomplex und erkennen erleichtert, dass unser Kind mit seinem Verhalten keine Ausnahme in der Gruppe der Hochbegabten ist.

Wir bemühen uns, den richtigen Kindergarten zu finden, der eventuell zusätzliche Angebote für Hochbegabte anbietet. Die richtige Schule wird gesucht, damit sich das Kind nicht langweilt und mit Freude weiterlernt. Wir versuchen, unserem Kind zu ermöglichen, Gleichgesinnte zu finden, damit es sich nicht ausgeschlossen und „falsch“ fühlt.

Und wie geht es uns Eltern?

In all den Jahren, wo wir unser Kind dabei unterstützen, glücklich zu leben und ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, vergessen wir uns selbst manchmal.

Wir sind vielleicht immer noch ungeduldig oder innerlich unzufrieden. Wir kommen auch nicht mit jedem klar oder ecken selbst sozial an. Warum fragen wir uns nicht, ob wir selbst es mit passenderer Unterstützung, z. B. durch unsere eigenen Eltern oder durch verständnisvollere Pädagogen, etwas leichter gehabt hätten? Haben wir uns nicht auch oft „falsch“ gefühlt? Sind wir selbst unseren Fähigkeiten entsprechend gefördert worden? Wurden unsere Talente geschätzt und konnten wir sie nutzbringend einsetzen? Hat uns jemand geholfen, als wir uns einsam fühlten, Freunde zu finden?

Und jetzt – heraus aus dem Dilemma!

In der Regel bemühen sich Eltern so gut sie können, ihre Kinder auf einem guten und glücklichen Lebensweg zu begleiten – aber heute wissen wir einfach mehr als unsere Eltern damals wissen konnten.

Die eigenen Erfahrungen in unserer Kindheit und Jugendzeit prägen unsere Persönlichkeit und damit maßgeblich unseren Umgang mit Situationen, die uns herausfordern. Ohne dass unsere hochbegabten Kinder das ahnen, sprechen sie mit ihrem Verhalten unsere eigene Geschichte an. Wenn es für uns manchmal schwierig ist, einfühlsam und verständnisvoll mit ihnen umzugehen, dann kann es damit zusammenhängen, dass wir unbewusst nachträglich leiden, wie schwierig es für uns war, sich durch dieses Leben zu kämpfen. Und wir wollen, dass sich unsere Kinder unkompliziert verhalten, damit wir selbst nicht an unsere eigenen Gefühle erinnert werden. Das ist häufig das größte Konfliktpotenzial in Familien mit hochbegabten Kindern.

Vielleicht lassen Sie sich durch die Lektüre dieses Artikels ermutigen, diese wichtigen Themen für sich – und in Ihrer Familiengemeinschaft – besser verstehbar zu machen. Wir Eltern können von innerer Klarheit und einem tieferen Verständnis für unsere Gefühle profitieren. So können wir den Alltag mit unseren hochbegabten Kindern ausgeglichener und konstruktiver gestalten.

Anmerkung

Mittlerweile gibt es deutlich mehr Informationen für Eltern zum Thema Hochbegabung als noch vor einigen Jahren. Obwohl das Thema immer häufiger in der Gesellschaft und auch in den pädagogischen Einrichtungen diskutiert wird, überwiegt die Annahme, eine Hochbegabung wäre grundsätzlich von Vorteil. Dass sie auch eine Bürde für die Betroffenen sind und schwierige emotionale Probleme mit sich bringen kann, wird dabei häufig außer Acht gelassen. Eltern können sich auf den Websites der HochbegabtenVerbände umfangreich informieren. Hier sei exemplarisch die „Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind“ (DGhK) erwähnt, die auch telefonische Elternberatung anbietet.

Die Erziehung hochbegabter Kinder ist eine Herausforderung, die Eltern hin und wieder an ihre Grenzen bringen kann. Als hilfreich erwiesen hat sich z. B. die Teilnahme an Elterngruppen der Hochbegabten-Verbände, um sich mit Gleichgesinnten austauschen zu können.

Sollten Eltern oder Pädagogen der Meinung sein, das Kind bräuchte professionelle Hilfe, so wäre es sehr sinnvoll, eine Fachkraft mit umfangreichem Wissen über Hochbegabung aufzusuchen. Hierbei unterstützen auch die Verbände.

Wer im Internet Therapeuten oder Berater sucht, wird feststellen, dass passende Fachkräfte meist ihr Wissen über Hochbegabung anschaulich auf ihrer Website aufzeigen. Bedauerlicherweise gibt es aber noch nicht ausreichend viele Fachkräfte, die landesweit zu Verfügung stehen.

Wenn sich Eltern entschließen, selbst in Therapie zu gehen, um z. B. ihrer Rolle besser gerecht zu werden, könnten Sie von einem besseren Verständnis und einer größeren Akzeptanz ihrer eigenen Person profitieren. Dies führt u. U. auch dazu, ihre Beziehungen zu anderen Menschen grundsätzlich zu verbessern.

Literatur

  • Webb, James T.: Hochbegabte Kinder. Das große Handbuch für Eltern. Hogrefe, ISBN 978-3-456-85758-9
  • Webb, James T.: Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung. Ein Ratgeber für Fachpersonen und Betroffene. Hogrefe, ISBN 978-3-456-85365-9
  • Mähler, Bettina & Hofmann, Gerlinde: Ist mein Kind hochbegabt? Besondere Fähigkeiten erkennen, akzeptieren und fördern. Rowohlt, ISBN 978-3-499-60499-7
  • Fietze, Katharina: Kluge Mädchen – Frauen entdecken ihre Hochbegabung. Orlanda Verlag, ISBN 978-3-936-93774-9

Annette RiedleAnnette Riedle
(zwei hochbegabte Kinder), Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Praxis in München-Giesing, Schwerpunkte: Selbstreflexion für Eltern hochbegabter Kinder, Traumatherapie, Krisenintervention
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Foto: fotolia©nastia 1983