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Cybersex – die heimliche Versuchung

2017 02 Cyber1Frank M. (29) war trotz strahlendem Sonnenschein nicht draußen. Während andere in Biergärten gehen oder zum Schwimmen, sitzt er am Laptop und surft auf Youporn, fuq, iXXX, tubepleasure und Co.

Es begann in der Pubertät. Er war neugierig, wollte wissen, wie „es“ geht, suchte Aufklärung und entdeckte die grellbunten Sexwelten des Internets. Da fand er mehr, als er gefragt hatte, und ließ sich leicht inspirieren und anregen. In Singlezeiten konnte er so ohne viel Aufwand Druck abbauen. Über die Jahre wurde es jedoch immer mehr und mittlerweile fühlt er sich zunehmend abhängig. Nach der Arbeit ist er allein zu Hause und wenn er sich langweilt, befriedigt er sich, Genre je nach Stimmung, mal soft, mal hart. War er früher nach ein paar Minuten fertig, schaltete den PC aus und verbrachte den Rest des Abends vor dem Fernseher, mit Freunden oder beim Sport, verirrt er sich mittlerweile Stunden auf Pornoseiten bis spät in die Nacht und findet einfach keinen Ausweg mehr.

Bis vor Kurzem lebte Frank mit Anne zusammen. Die Beziehung war so weit okay, Sex war selten. Von Anfang an. Wegen seiner Gewohnheit wich er sexueller Nähe mit Anne aus. Häufig hatte es deswegen Stress gegeben, weil Anne mehr Sex wollte. Wenn sie miteinander schliefen, war seine Erektion oft nicht stabil. Das war ihm peinlich und so vermied er zunehmend die körperliche Nähe.

Dann kam es zum Knall: Vor sechs Monaten waren sie auf einer Party. Frank stahl sich früher weg, um noch schnell online zu gehen. Aber Anne kam unerwartet kurz danach heim und erwischte ihn, als er vor dem Bildschirm masturbierte. Es gab Riesenstreit: „Jetzt ist ja klar, warum wir keinen Sex haben, wenn du im Internet vögelst!“, „Seit wann machst du das schon?!“, „Is´ ja ekelhaft!“

Während der folgenden Wochen war sein Pornokonsum das Hauptthema. Frank versprach, damit aufzuhören, doch das gelang ihm nicht. Anne wurde immer misstrauischer, kontrollierte und „ertappte“ ihn ein zweites Mal und irgendwann war der Stress so groß, dass sie sich trennten.

Seitdem Frank wieder allein ist, konsumiert er noch mehr. Er hat sich vollständig zurückgezogen, auch von Freunden. Aus Scham und Angst, dass Anne ihnen davon erzählt haben könnte. So verbringt er Feierabende und Wochenenden größtenteils vor dem Laptop. Er taucht ein, lenkt sich ab, vergisst für diese Zeit, was ihn eigentlich belastet. Nach Stunden dieses unkontrollierbaren Surfens taumelt er erschöpft wieder in die Realität. Mit einem regelrechten emotionalen und visuellen „Kater“, er fühlt sich überreizt und leer zugleich, einsam, verbraucht und ekelt sich vor sich selbst.

Im Job ist er (noch) „clean“. Er schafft es, während der Arbeitszeit nicht auf Pornoseiten zu gehen, fährt aber danach auf dem schnellsten Weg heim, um — mit Chips von der Tankstelle, Pizza und oft zu viel Alkohol — nächtelang zu surfen.

Sex - überall und jederzeit

Durch Tablet und Mobiltelefon ist Pornografie weltweit zugänglich mit nur zwei Mausklicks — gratis, jederzeit verfügbar und anonym. Das Angebot reicht von Bewegtbildern und Fotos über SexChats, Webcam-Sex bis zu Plattformen für erotische Treffen und Seitensprünge. Vor dem Bildschirm ist sexuell alles möglich — ohne Rücksicht oder soziale Hemmung.

Gibt man bei Google „Sex“ ein, findet man über drei Milliarden Einträge. Circa 45 % aller Erwachsenen haben schon einmal pornografische Websites aufgesucht. Schätzungen sprechen von zwei Millionen Internetsüchtigen in Deutschland, davon sind geschätzt 500 000 cybersexsüchtig (Quelle: PINTAStudie, Prävalenz der Internetabhängigkeit) des Bundesgesundheitsministeriums. 90 % davon sind Männer. Frauen empfinden bei Pornografie tendenziell eine niedrigere Körperzufriedenheit.

Was am Internetsex reizt, ist sichtbar gewordene Fantasie aller nur denkbaren Praktiken. Der Kick zwischen Faszination, Abscheu, Erregung und Heimlichkeit.

Tückisch daran ist: Je mehr man guckt, umso mehr prägen die Bilder Vorstellungen, Vorlieben und Wünsche. Sie setzen sich im Kopf fest, aus Inspiration oder Ablenkung wird prägende Gewohnheit.

Was man im Netz alles sehen kann, ist meist weit weg von dem, was sexuell in der Partnerschaft möglich oder lebbar ist. „Normaler“ häuslicher Sex wird im Vergleich dazu langweilig und zu kompliziert. Bei pornografischem Sex geht´s meist ohne viel Worte zur Sache, der Geschlechtsverkehr entbehrt häufig Respekt, echten Kontakt oder Zärtlichkeit.

Folgen von zu viel Internetpornos

Das führt zu folgendem Konflikt: Mehr und mehr fixiert und „trainiert“ auf spezielle sexuelle Praktiken, ohne die man keine Befriedigung mehr erlebt, wird das Ungewöhnliche normal – gewöhnlicher Sex reicht nicht mehr aus. Man braucht immer intensivere, extreme bis hin zu destruktiver Stimulierung. Man vergleicht und kritisiert den Körper der Partnerin und verliert zunehmend das Interesse an partnerschaftlichem Sex. Den lebt man heimlich mit der „unsichtbaren Affäre“, auf die man jederzeit zugreifen kann. Statt durch körperliche Nähe Vertrauen und Zusammengehörigkeitsgefühl zu erleben, fühlt sich die Partnerin verraten. Es kommt zu Irritation, Misstrauen, Verzweiflung, Minderwertigkeitsgefühlen, Eifersucht, Wut und gegenseitiger Entfremdung: Die Pornobilder im Kopf erzeugen eine unsichtbare Barriere.

„Virtuelles Fremdgehen“ führt dazu, dass Beziehungssex an Intimität und Exklusivität verliert und verschwindet.

Sexuelle Dysfunktionen wie Impotenz, Erektions- oder Ejakulationsstörungen gehen ebenso häufig einher mit Cybersexsucht wie auch psychische Problemen: Angststörungen, soziale Kontaktstörungen bis hin zu Soziophobie (als Folge des Rückzugs und der Scham), Depressionen. Ob diese Anlagen schon vorher bestanden oder inwieweit die Sucht sie ausbildet, wird erforscht.

Von Sucht spricht man ...

… ab sechs Monate anhaltend intensiver und regelmäßiger Cybersex-Nutzung, mehr als sechs Stunden pro Woche.

Müssen die Reize ständig weiter gesteigert werden? Wird man hippelig, barsch oder gereizt, wenn man zu lange offline ist? Hat man mehr Onlinesex statt im „Real Life“? Erlebt man Kontrollverlust über Dauer des Konsums und entgleisen beim Surfen Zeit und Raum? Plant man Wochenenden und Unternehmungen nach Rückzugs- und Nutzungsmöglichkeit? Ist Erregung und Sex nur noch mit speziellen Techniken möglich?

Auch berufliche Leistungen leiden: Unausgeschlafen und unkonzentriert wartet man auf den Feierabend, bis man irgendwann „nur kurz online“ ist, während der Kollege Mittag macht – und man schließlich den Job verliert.

Was tun?

Frank hat sich mittlerweile Hilfe geholt. So wollte er nicht weiterleben. Allein schaffte er es nicht. Manchmal war er so verzweifelt, so ohnmächtig im Konsum, dass er sogar schon an Selbstmord gedacht hat.

Erfolg durch Beratungsgespräche, Gruppentherapie oder Selbsthilfegruppen ist überraschend hoch bei Cybersexsucht.

Zum ersten Mal spricht Frank in der Sexualtherapie offen mit einem Menschen darüber, was diese Bilder mit ihm machen – ohne abgewertet zu werden. Es tut ihm einfach gut, reden zu können. Er redet sich die ganze moralische Last von der Seele und kommt wieder in Kontakt mit sich selbst.

In den nun kommenden Wochen und Monaten gewinnt er Stück für Stück wieder etwas Selbstvertrauen und Kontrolle über sich selbst zurück. Indem er sich reflexiv und praktisch verhaltenstherapeutisch dem Thema nähert, erfährt er das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Er realisiert, wie unfrei er geworden war, in dem, was er anfangs als reizvolle Freiheit empfand.

Regelmäßige Termine und ein striktes Entzugsprogramm helfen ihm dabei: Zum Beispiel den privaten Laptop am Abend im Büroschrank einzuschlie- ßen, den Handyakku im Auto zu lassen, Selbstbefriedigung ohne Bilder ...

Und er tritt langsam wieder ins soziale Leben, nimmt Kontakt auf zu früheren Freunden, sucht sich einen Basketballverein und geht am Wochenende Laufen oder spazieren. Ausgepowert nach Sport hat er oft gar keine Lust mehr zu surfen. Aber oft genug braucht es harte Selbstdisziplin und das gelingt nicht immer. Doch die Ausfälle werden seltener, die Verweildauer kürzer, der Kater nicht mehr so schmerzhaft und das Selbstvertrauen wächst. Vielleicht wird er das Thema nie ganz los, schließlich tauchen Reizbilder in allen Medien auf.

Das Ziel ist: Kontrolle statt Ohnmacht, ein eigenes selbstbestimmtes Leben zu führen ohne dieses lastende Geheimnis und Zugang zu finden zur Nähe und ihm gemäßeren Körperkontakt.

Vor Kurzem hat Frank Eilleen kennengelernt. Das motiviert ihn zusätzlich, weiterzumachen und „auf Entzug“ zu bleiben. Aus der Erfahrung mit Anne hat er gelernt. Das will er nicht noch mal.

Das Leben — und vielleicht eine neue Liebe — hat ihn also wieder.

Hilfe zur Selbsthilfe bei Onlinesexsucht

Gabriele AignerGabriele Aigner
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Systemische Einzel-, Paarund Familientherapeutin, zertifizierte Systemische Sexualtherapeutin, zertifizierte Systemische Supervisorin, Systemische Coachin und Buchautorin
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Foto: fotolia©nito