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Hilflosigkeit als Krankheitsursache

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Sich hilflos zu fühlen ist ein ganz normaler Zustand, in dem sich jeder Mensch auf dem Weg zu Individuation immer wieder befindet. Egal, ob wir neuen Problemen ausgesetzt sind, neue Lebensabschnitte betreten, unseren Wohnort oder Arbeitsplatz wechseln, einen neuen Partner oder eine neue Verhaltensweise kennen lernen: jede Form von Veränderung ist mit dem Gefühl von Hilflosigkeit verbunden, weil man sich im neuen Gebiet erst orientieren muss und in diesen Momenten gerne von einem erfahrenen Alphatier an der Hand genommen und geführt werden würde.


Diese an sich verständliche Sehnsucht nach Führung hat, wenn sie immer wieder befriedigt wird, leider äußerst negative Folgen für die psychische Gesundheit des Menschen. Entwicklung und Individuation, also das Hineinwachsen in die eigenen Fähigkeiten, sind ein Urtrieb des intelligenten Menschen. Ein gesunder Mensch möchte sich bewähren, möchte wissen, was in ihm/ihr steckt, möchte stärker werden und lernen, sich selbst zu vertrauen. Lediglich positive Erfahrungen in der eigenen Wirkung auf die Welt können dazu führen, dass Selbstsicherheit entsteht. Ebenso wenig, wie man in einem Trockenkurs schwimmen lernen kann, kann der Mensch sein "Selbst" (was immer er/sie darunter verstehen mag) erleben, ohne sich zu bewähren und Probleme gelöst zu haben. Dem aufmerksamen Beobachter wird schnell klar, wie stolz und selbstbewusst ein Kind auf eine bestandene Mutprobe reagiert, und Erwachsene freuen sich ebenso über bewältigte Herausforderungen. So gesehen sind Probleme Versuche des Lebens, dem Individuum zu mehr Selbstsicherheit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu verhelfen.

Leider ist der Zusammenhang zu wenig bekannt, Probleme werden wie eine Stigmatisierung erlebt und so sind die Reaktionen auf die mit Hilflosigkeit verbundenen Veränderungssituationen oft kontraproduktiv. Viele suchen Beruhigung in Substanzen, die sie aber dann wiederum abhängig machen. Andere meiden jegliche Form von Veränderung und ziehen sich immer mehr in die Langeweile zurück. Andere führen ein Stellvertreterleben vor dem Fernseher. Wieder andere bleiben Eltern, Chefs oder Ehepartnern verhaftet, indem sie diese unbewusst "bitten", ihnen zu sagen, "wo es langgeht", während sie auf der bewussten Ebene die dauernde Bevormundung als unangenehm erleben. Manche schicken Beschwerdebriefe an die Regierung in der Hoffnung, dass "Vater" Staat als Elternersatz ihr Leben in Ordnung bringt. Andere flüchten sich in Krankheiten, die ihnen bestimmte Verhaltensweisen diktieren. In extremer Form suchen psychotisch Erkrankte Zuflucht in der geschlossenen Abteilung oder auch im Gefängnis, wo der Gipfel der Bevormundung (= gleichzeitig Führung!!) stattfindet – und so die Hilflosigkeit (scheinbar) mindert.

Obwohl die Überwindung von Hilflosigkeit und das beherzte Lösen von Problemen der einzige Weg in eine gesunde Entwicklung ist, ist Hilflosigkeit ein derart unangenehmes Gefühl, dass die Menschen auf mannigfaltige Art und Weise versuchen, ihrer Bewältigung aus dem Weg zu gehen, um sie nicht wahrnehmen zu müssen. Sie ist ein altes, archaisches Gefühl, das noch aus der Steinzeit stammt, in der man keine Informationen darüber hatte, wo der böse Bär sich versteckte, und man es tunlichst unterließ, ohne Alphatier in unbekannte Gefilde vorzudringen. Wer sich nicht daran hielt, war des Todes.

Über die Ursachen von Psychosen und schweren psychischen Störungen können sich die Wissenschaftler aus bekannten Gründen nicht einigen. Was aber sicherlich allen bekannt ist, die mit schwer gestörten Menschen gearbeitet haben, ist der hohe Hilflosigkeitsfaktor der Betroffenen, der verhindert, dass sie sich die auf neue Erlebnisse und Veränderungen einlassen können. Meist sind die Kranken starr in ihren Überzeugungen auf einige wenige Punkte oder Personen im Leben fixiert – eine innere Haltung, die sie zur Abhängigkeit von anderen verurteilt. Vielen fällt es leichter, sich auf Chemikalien und deren Wirkweise zu verlassen, obwohl sie horrende Nebenwirkungen ertragen müssen, als Vertrauen in die eigene Lernund Bewältigungsfähigkeiten zu entwickeln. Fraglos sind diese Unsicherheiten auf Störungen im Herkunftssystem zurückzuführen, die eine Entwicklung in ein selbstsicheres Dasein verhindert haben. Unabhängig und erwachsen zu werden erscheint den Kranken häufig wie ein unerreichbares Unterfangen, und so blockieren sie ihre Individuation und verharren in starrem kindlichen Schrecken vor dem Leben und seinen Anforderungen und bleiben oft chronisch ein Leben lang von Betreuern und Medikamenten abhängig.

Der Grad der psychischen Gesundheit hängt also direkt mit der Fähigkeit zusammen, Gefühle der Unsicherheit zuzulassen, Hilflosigkeit zu ertragen und zu überwinden bzw. die entsprechenden Schritte zu finden, die Situation zu bewältigen und in neue Reifesituationen hineinzuwachsen.

wiegand-2Ein wirksames Heilmittel gegen das Gefühl der Hilflosigkeit ist die gute alte Routine. Je mehr ein Mensch sich immer wieder in unbekannten Gefilden bewähren kann, um so geübter wird er im Umgang mit Hilflosigkeit und Angst. Gerade Menschen, die auf einen schweren Lebensweg zurückblicken, sind im Alter oft besonders gelassen, humorvoll und weise. Kinder die regelmäßig blaue Flecken und aufgeschlagene Knie hatten, weil sie von allen möglichen Klettergegenständen plumpsten, verfügen zum einen über die wertvolle Erfahrung, dass man entspannt fallen kann und so die Verletzungsgefahr vermindert, und zum anderen erlebten sie am eigenen Körper das Wunder der Heilung – ein großartiger Weg, um Vertrauen in das Leben selber zu finden. Eine übermäßig wohlmeinende Mutter, die mit jeder Schramme zum Arzt muss und jeden blauen Flecken damit beantwortet, dass das Kind sich nur noch mit Helm, Schulter-, Knie- und sonstigen Schützern im Freien bewegen darf, schränkt die Bewältigungsfähigkeiten ihres Kindes ein und signalisiert, dass "man" immer Hilfe von außen braucht. Diese "Sicherheitsmaßnahmen" werden wie eine Freiheitsberaubung erlebt, das Kind minimiert seine Bewegungsfreude und entwickelt vermehrt Angst vor Missgeschicken – also Hilflosigkeit.

wiegand-3Insofern ist die übermäßige Sucht nach Sicherheit, die in unserer Gesellschaft jegliche Form von Freiheit wie eine ungute Zwangsjacke zuschnürt, eine Gefahr für die psychische Gesundheit der Bevölkerung. Je weniger ein moderner Mensch im Leben die Chance hat, sich immer und immer wieder in der Unsicherheit zu bewähren, um so größer die Gefahr, dass er/sie den Gefühlen von Hilflosigkeit zum Opfer fällt. Die unglaublichen Zahlen der Suchtkranken, die überfüllten psychiatrischen Krankenhäuser und die immensen Erkrankungszahlen in unserer Zivilisation beweisen die weit verbreitete Unfähigkeit, mit Hilflosigkeit, Stress und Ungewissheit umzugehen. Nicht der Stress selber ist die Krankheitsursache, sondern die Unfähigkeit, damit umzugehen und Lösungsstrategien zu entwicklen.

Was kann man nun tun, um mit der Hilflosigkeit besser zurechtzukommen?

10 goldene Hilfreichregeln

1. Hilfreich ist die Erkenntnis, dass Hilflosigkeit ein ganz normales Gefühl ist, das mit notwendigen Veränderungsprozessen einhergeht und man schon mal gut beraten ist, wenn man sie bewusst wahrnehmen kann.

2. Hilfreich ist es, sich bewusst das Ziel zu setzen, die Situation bestmöglich zu bewältigen, auch wenn man noch nicht weiß, wie das gehen soll.

3. Hilfreich ist die Arbeit mit den inneren Bildern, um den Kontakt zum inneren Ratgeber bzw. der inneren Instinktnatur oder, je nach Glaubenssystem, dem Schutzengel zu pflegen.

4. Hilfreich ist die klare Formulierung der Ziele.

5. Hilfreich ist es, sich auf die Lernfähigkeit zu berufen, die es einem ermöglicht hat, laufen und schreiben zu lernen.

6. Hilfreich ist, anderen viele Fragen darüber zu stellen, wie sie sich in vergleichbaren Situationen helfen, und das ein oder andere auf seine Tauglichkeit zu prüfen, ohne sich genötigt zu fühlen, die Strategien von anderen zu übernehmen.

7. Hilfreich ist, im Tagebuch zurückzublättern und Situationen nachzulesen, in denen man schon mal die Erfahrung gemacht hat, dass sich Probleme aufgelöst haben.

8. Hilfreich ist, dem inneren Kind ein kleines Tapferkeitsgeschenk zu machen.

9. Hilfreich ist es, den Mut zu entwickeln, immer wieder Neues auszuprobieren und das Risiko einzugehen, Fehler zu machen.

10. Hilfreich ist, sich selber zu loben und zu belohnen, wenn man ein Problem gelöst hat.

Zum Abschluss noch ein Scherz:

Eine Frau erzählt einer anderen etwas hochmütig, dass sie ein wunderbares Leben führt, keinerlei Probleme und Belastungen hat, und dass alles einfach nur wunderbar ist. Fragt die andere mitleidig: "Oh je, traut der Liebe Gott dir denn gar nichts zu?"

In diesem Sinne – fröhliches Bewältigen!



wiegand-4 Martina Wiegand
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Fortbildungen in Transaktionsanalyse, Hypnose, Imaginationsverfahren und systemischen Familienaufstellungen. In der Soulfit Factory arbeitet sie erfolgreich seit 1996 in eigener Praxis.
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