Fallbeispiel: Zwillingsschwestern – schnelle Aktivierung von Ressourcen
„Ich habe seit drei Wochen ständig
das Gefühl, meine Ziele nicht mehr
erreichen zu können, und kann mich
für nichts mehr wirklich begeistern! Es
fällt mir schwer, mich zu konzentrieren,
und zudem habe ich keinerlei Antrieb
mehr! Das liegt sicher daran, dass ich
morgens viel früher aufwache als
sonst. Mein Hausarzt hat mir bestätigt,
dass meine Probleme keinen körperli-
chen Ursprung haben, und mir empfoh-
len, psychologische Hilfe zu suchen.“
Mit diesen Worten kam vor ein paar Wochen Evelyn in meine Praxis. „Vor allem im beruflichen Umfeld bin ich unsicher geworden. Ausgerechnet jetzt, da ich die Projektleitung für ein wichtiges ChangeProgramm übernommen habe. Auch privat läuft es nicht so, wie ich es mir vorstelle. Ständig habe ich Meinungsverschiedenheiten mit meinem Verlobten. Das kam bisher äußerst selten vor. Es muss nun schnell etwas passieren, in drei Wochen ist der Kick-off meines Change-Projektes und die Hochzeit steht im September an. Aber wenn es so weitergeht, wird aus beidem nichts. Ich hoffe, Sie können mir helfen. Die ganze Situation schlägt mir ganz schön auf den Magen, ich habe kaum Appetit!“
Im Erstgespräch war es zunächst einmal wichtig, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Für Therapeuten (immer m/w) bedeutet das, Verständnis zeigen, mitfühlen (nicht mitleiden), neutral bleiben und den Klienten möglichst viele Informationen zu „entlocken“. Diese Informationsbasis ist wichtig, um sich einen fundierten Überblick über die aktuelle Situation zu verschaffen. Die Klienten sollten die Praxis mit dem Gefühl „hier fühle ich mich wohl und gut aufgehoben“ verlassen.
Anamnese: Kindheitsentwicklung/Familie
Im Anamnese-Gespräch habe ich erfahren, dass Evelyn ihre Kindheit grundsätzlich als behütet empfand. Anstrengend wurde es nur, wenn ihre Zwillingsschwester in der Nähe war. Susanne wurde ein paar Minuten vor Evelyn geboren. „Meine Schwester war schon immer größer, schlanker, sportlicher, sie war der Schwarm aller Männer und hatte in der Pubertät keine Pickel, so wie ich. Aber in der Schule waren meine Noten deutlich besser, darauf war ich wirklich stolz. Auch wenn ich oft ihretwegen gelitten habe, ließ ich Susanne nie hängen und gab ihr Nachhilfe. Sie ist einfach ein wichtiger Mensch in meinem Leben. Wenn es darauf ankommt, kann ich sicher sein, dass ich mich auf sie verlassen kann!“
Partnerschaft
„Meinen Verlobten Hannes habe ich während meiner Weiterbildung zur Betriebswirtin kennengelernt. Er ist meine große Liebe. Unsere Hochzeit im September ist die Krönung für mich. Vorausgesetzt, ich bekomme schnellstmöglich meine Launen in den Griff! Es ist zurzeit wirklich schlimm. Er verhält sich wie immer, ist aufmerksam und ich benehme mich so oft daneben. Ich zettle unnötig Streit an und habe ständig schlechte Laune. Ich würde es so gerne abstellen, aber ich kann es einfach nicht. Ich bin total verzweifelt und leide wirklich sehr! Letzte Woche meinte er, wenn es so weitergeht, sollten wir das mit der Hochzeit nochmals überdenken.
Deswegen bin ich hier. Ich will ihn auf keinen Fall verlieren!“ Evelyn schluchzte und ließ ihre Tränen fließen. Mit einfühlsamen Impulsen wirkte ich positiv auf sie ein.
Berufliche Entwicklung
Als Nächstes analysierten wir ihre berufliche Situation. Evelyn wusste schon immer, wohin ihre berufliche Reise geht. Alle ihre Vorhaben erledigte sie bisher zielorientiert und zuverlässig. Bei ihrem aktuellen Arbeitgeber fühlt sie sich sehr wohl. Auch mit ihren Kollegen versteht sie sich blendend. Vor ein paar Wochen hat sie die Zusage für die Projektleitung eines Change-Programmes erhalten. Alles schien perfekt zu sein.
In einem Halbsatz erwähnte sie, dass seit einem Monat ihre Schwester Susanne im selben Unternehmen arbeitet. Da wurde ich hellhörig und fragte detaillierter nach. Susanne war bisher Freelancerin in der ITBranche. Während der Coronakrise wurden dank ihrer Kompetenz und Unterstützung alle Mitarbeiter des Unternehmens schnell und zuverlässig mit Homeoffice-Zugängen ausgestattet. Aufgrund der Begeisterung des IT-Leiters und des zudem bestehenden Fachkräftemangels im Unternehmen wurde ihrer Schwester eine Festanstellung angeboten. Damit war sie fester Bestandteil des IT-Teams.
„Meine Arbeit in diesem Unternehmen war seit dem Verlassen unseres Familienunternehmens das Einzige, was ich für mich allein hatte. Hier war ich endlich frei. Ich wurde als einzelner Mensch gesehen und wertgeschätzt, nicht nur als ‚Zwillingsschwester von Susanne‘. Jetzt fühle ich mich wertlos. Susanne kennt nun jeder im Unternehmen. Sie hat wieder vorgelegt, ich muss nachziehen und mich in meinem Projekt beweisen.“
Stressfaktoren/Schlussfaktoren
Als auslösender Stressfaktor hat sich Susannes Festanstellung im selben Unternehmen herauskristallisiert. Seit diesem Zeitpunkt verläuft Evelyns Leben alles andere als positiv. „Es fühlt sich an, als ob ich mein komplettes Selbstwertgefühl mit einem Schlag verloren habe“.
Verdachtsdiagnose
Die Ausführungen der Klientin ließen auf eine mittelgradige depressive Episode schließen. Folgende Kriterien nach ICD 10 waren für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen erfüllt:
- verminderter Antrieb
- Interessenverlust
- Konzentrationsschwierigkeiten
- vermindertes Selbstwertgefühl
- Appetitlosigkeit
- Schlafstörungen (frühes Erwachen)
Um für das kurz darauf anstehende Kick-off ihres Projektes gerüstet zu sein, arbeiteten wir verstärkt an Evelyns Selbstwertgefühl. Ihre Kindheit, ihre Erfahrungen aus früheren Beziehungen und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Gegenwart arbeitete sie parallel mit einem Facharzt für Psychotherapie auf.
Wünsche und Ziele
Nachdem es weder an Susannes Festanstellung noch am Termin des Kick-offs etwas zu verändern gab, haben wir den aus Evelyns Sicht perfekten Idealzustand inklusive der aktuellen Gegebenheiten ausgearbeitet. Folgende Assoziationen bzw. Fragestellungen waren die Basis für die Zielformulierung:
Therapeutin: Schließe die Augen ... komm zur Ruhe ... atme tief ein ... und wieder aus ... (Zeit geben, um damit die Klientin entspannte Position im Sitzen, Liegen oder Stehen einnehmen kann). Nun stell dir vor, du bist am Ende deines ChangeProjektes angekommen. Du hast es erfolgreich begleitet. Du stehst im Rahmen der Abschlussveranstaltung nach der Ergebnispräsentation vor deinem Projektteam und der Geschäftsführung. Du bekommst Applaus und Standing Ovations. Wie fühlt sich das an?
Klientin: (atmet befreit auf) Oh ja, das fühlt sich gut an. Irgendwie fühle ich mich frei, ich darf wieder stolz auf mich sein. Und ich sehe sogar meine Schwester Susanne mit Tränen in den Augen, die sich mit mir freut.
Sehr gut! Welche Gedanken kommen dir in den Sinn?
Ich kann was! Ich liebe meine Schwester. Ich darf erfolgreich sein!
Was könnte denn deine Stimmung in der aktuellen Situation verbessern?
Wenn ich mit meiner Schwester und meinem Verlobten über mein Problem sprechen könnte. Bisher habe ich schwierige Themen immer mit mir selbst ausgemacht.
Mit diesem guten Gefühl und der Hausaufgabe, Gespräche mit ihrem Verlobten und ihrer Schwester zu führen, verließ Evelyn meine Praxis.
Ressourcen-Aktivierung
Beim nächsten Termin berichtete Evelyn von sehr positiven Gesprächsverläufen. Daraufhin entschieden wir, ihre Ressourcen zu analysieren.
Denke nun an deine persönlichen Fähigkeiten, Ressourcen, Talente oder Eigenschaften. Was hilft dir in der nächsten Zeit besonders, dein Projekt gut zu managen oder die Hochzeit vorzubereiten?
Wichtig sind Organisationsgeschick, Teamfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Empathie, Durchsetzungsvermögen und natürlich Führungsqualitäten.
Was sind aus deiner Sicht die entscheidenden und wichtigsten drei Ressourcen?
Organisationsgeschick, Empathie, Teamfähigkeit.
Diese Begriffe werden zur Visualisierung auf drei Blätter geschrieben und auf dem Fußboden ausgelegt.
In welchen Situationen hast du in deinem bisherigen Leben diese drei Fähigkeiten schon erfolgreich eingesetzt?
Jeweils der Klientin ein Blatt in die Hand geben, um eine Verbindung zur Ressource herzustellen.
Organisationsgeschick: Als ich noch in unserem Familienbetrieb beschäftigt war, habe ich mich um die komplette Organisation aller Events gekümmert.
Empathie: Als die erste große Liebe meiner Schwester Schluss gemacht hatte, war ich für sie da.
Teamfähigkeit: Im Rahmen der 100-JahrFeier unseres Unternehmens habe ich zusammen mit einem kleinen Projektteam die Organisation des Festes, Kundenaktionen etc. übernommen.
Wie hast du dich dabei gefühlt?
Ich habe mich als wertvollen Teil von etwas empfunden.
Wie kannst du die drei Ressourcen konkret im Hinblick auf deine beruflichen Herausforderungen nutzen? Gehen wir es Schritt für Schritt durch. Beginnen wir mit Organisationsgeschick.
Die Impulse der Klientin werden als Stichpunkte auf einem Blatt notiert und auf den Boden gelegt.
Organisationsgeschick. Hm, das benötige ich auf jeden Fall für Terminierung und Vorbereitung der Projektmeetings. Auch die To-dos muss ich priorisieren, delegieren und nachhalten. Ohne diese Fähigkeit endet alles im Chaos.
Prima, wie sieht es mit Empathie aus?
Um ein funktionierendes Projektteam zu haben, benötige ich Einfühlungsvermögen. Ja da kann ich gut, da bin ich mir sicher, dass ich das gut manage.
Dann haben wir noch Teamfähigkeit.
Ich war schon immer ein Teamplayer, habe meine eigenen Bedürfnisse hintangestellt. Auch das wird mir in den nächsten Projektwochen helfen.
Nun schau dir deine drei Top-Ressourcen nochmals genauer an. Wie geht’s dir damit?
Ich fühle mich gestärkt. Ich habe keine Angst mehr vor den Herausforderungen. Und ich darf in mich und meine Fähigkeiten vertrauen. Ich fühle mich auch nicht mehr so angriffslustig. Alles kann jetzt gut werden. Danke!
Die Klientin kam zwei Wochen später wieder in meine Praxis. Sie erzählte mir von einem erfolgreichen Kick-off.
Außerdem trifft sie sich nun regelmäßig zum Mittagessen mit ihrer Schwester, was die beiden näher zueinander bringt.
Und die Stimmung mit ihrem Verlobten hat sich deutlich verbessert. Sie planen nun gemeinsam die Aktivitäten, um in ein paar Monaten eine wundervolle Hochzeit zu feiern.
Marina Lang
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Business Coach (ECA)
Fotos: ©LIGHTFIELD STUDIOS ©Robert Kneschke