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Fluss des Lebens

fotolia©by paul + rashadashurrowMein Sehnerv ist die Verbindung von meiner Netzhaut, auf der die Signale meiner Außenwelt ankommen, mit dem Sehzentrum meines Gehirns, das die Signale verarbeitet. Dieses befindet sich in der linken und rechten Gehirnhälfte jeweils im hinteren Teil des zentralen Nervensystems.

Das Sehen ist eine meiner fünf Sinneswahrnehmungen, aber wahrscheinlich nicht die wichtigste. Die ist für mich persönlich das Fühlen. Das Sehen ist aber die intensivste Verbindung zur Außenwelt. Wir nehmen tagtäglich Tausende von Reizen über die Augen wahr, die allermeisten davon unbewusst, denn jeder Mensch sieht nur die Dinge bewusst, auf die er sich konzentriert. Sie können gerne ausprobieren, was ich damit meine.

Lassen Sie die Augen bitte geöffnet und denken Sie an Ihren Arbeitstag oder an die Familie oder was Sie noch zu erledigen haben oder träumen Sie sich einfach weg. Und jetzt seien Sie bitte ganz ehrlich. Was genau haben Sie bewusst wahrgenommen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie nichts bewusst gesehen haben, weil Ihre Aufmerksamkeit alleine bei den Gedanken war, die Ihnen durch den Kopf gingen. Nichtsdestotrotz hat Ihre Netzhaut alles, was in das Blickfeld Ihrer Augen kam, aufgenommen und über den Sehnerv weitergeleitet. Verarbeitet und abgespeichert wurde das Gesehene allerdings in einem Hirnbereich, zu dem wir mit dem Bewusstsein keinen Zugang haben.

Ich möchte Ihnen nun vom „Fluss des Lebens“ erzählen. Da ich gerne mit Bildern arbeite, stellen Sie sich bitte einen Fluss vor. Der entspringt bei einer Quelle und fließt an manchen Stellen langsamer und an anderen schneller. Der Fluss zieht an Wiesen, Blumen und Bäumen vorbei. Aber auch an Häusern und spielenden Kindern. Möglicherweise fließt er unter Brücken hindurch. Der Fluss sieht viele sehr schöne Landschaften und hat keine großen Hindernisse vor sich. Natürliche Blockaden, wie z. B. Felsen können einfach umspült werden. Der Fluss findet immer einen Weg. Das ist seit Anbeginn der Welt so.

Jetzt kann es aber auch sein, dass der Fluss an einem Industriegebiet vorbeifließt oder an einem anderen Ort, wo Verschmutzungen und Abfälle das Bild des Flusses prägen. Oder er gelangt zu einem Wasserkraftwerk, dort wird er aufgehalten und es geht nur sehr zäh voran. Umfließen ist hier nicht möglich, da das Flussbett befestigt wurde. Somit heißt es für den Fluss, sich zu gedulden, bis er am Hindernis vorbei ist. Nachdem es weitergeht, kann es sein, dass der Fluss in einen großen Stausee gelangt. Hier geht es noch viel langsamer voran als beim Wasserkraftwerk. Und nach einer langen Stauzeit geht es flussabwärts.

Und auch so eine Möglichkeit gibt es für einen Flussverlauf: unterirdisch, wie es z. B. bei der Donau der Fall ist. Man nennt das Flussversinkung, wenn an manchen Stellen das Flussbett versickert und das Gewässer unterirdisch weiterfließt, bis es wieder an die Oberfläche gelangt. Am Ende seiner aufregenden Reise mündet der Fluss dann meist im Meer.

Die Quelle

Jeder Fluss entspringt einer Quelle. Von dort aus wird er „genährt“ und fließt seinen eigenen Weg. Aber er wird immer mit seinem Ursprung verbunden sein. Genau wie bei uns Menschen. Am Anfang sind wir mit unserer Mutter eins. Auch kurz nach unserer Geburt. So lange, bis die Nabelschnur durchtrennt wird. Dennoch bleiben wir auf geheimnisvolle Weise mit unserer Mutter verbunden, egal wie das Verhältnis zwischen Mutter und Kind ist.

Irgendwann fangen wir dann an, uns selbst um die Nahrungsaufnahme zu kümmern, selbst zu trinken und letztlich gehen wir unseren eigenen Weg.

Jeder von uns sollte bis dahin seine Bedürfnisse kennen und selbstständig stillen können. Oder er muss sich Hilfe holen und diese dann auch annehmen können, wenn es z. B. aufgrund einer Behinderung oder Krankheit nötig sein sollte. In solchen Situationen, in denen unsere Selbstständigkeit brachliegt, müssen andere für uns entscheiden.

Am Anfang ist der Fluss nur ein kleines Rinnsal, ein kleines plätscherndes, fröhliches und unbeschwertes Fließgewässer. Genau wie ein Kind. In den ersten Lebensjahren ist es unbeschwert und freut sich über die Schönheit der Dinge, die da sind. Leider verlernen und verlieren Erwachsene diese Fähigkeit, sich über etwas zu freuen und im Moment zu leben. Daher meine erste Frage: „Kann ich das Leben mit Leichtigkeit leben und mich voller Vertrauen davontragen lassen?“

Hindernisse

Solche können auftauchen, vor allem in der heutigen Zeit, wo ein Fluss oft in einer fest vorgegebenen Spur gehalten wird. Die Ufer werden befestigt, damit der Fluss sein Bett nicht verbreitern kann oder gar ausbricht. Er wird starren Richtlinien ausgesetzt und in seiner Freiheit begrenzt.

Auch ein Mensch, wenn er volljährig wird, hat sich an gewisse Regeln und Vorgaben zu halten, die ein Leben in der Gesellschaft ermöglichen. Aber es kommen auch Normen zum Vorschein, z. B.:

  • Wie ein Mann oder eine Frau auszusehen hat.
  • Wie der Sex sein sollte, damit beide Partner befriedigt sind.
  • Welche Aufgaben ein Mensch zu übernehmen hat, um zur Gesellschaft zu passen.
  • Wie das Leben eines Einzelnen zu sein hat, damit er sich in die Gesellschaft integrieren kann.

Ein Mensch wird nur dann von der Masse aufgenommen, wenn er sich verhält, wie es die anderen wollen. Es werden ihm verschiedene Dinge aufgezwungen, die er oder sie womöglich gar nicht wollen. Und dann fehlt oft der Mut oder die Kraft, sich aus dem Zwang zu befreien. Oder sie haben massive Konsequenzen zu tragen.

Deshalb lautet meine zweite Frage: „In welchen Bereichen meines Lebens begrenze ich meine Wahrnehmung durch vorgefertigte Meinungen oder starre Regeln?“ Schließlich gibt es immer eine Möglichkeit, daraus auszubrechen. Jeder Mensch hat die Wahl, welchen Weg er gehen möchte.

Blockaden

Bei jedem Flussverlauf kommen natürliche oder unnatürliche Blockaden vor. Die natürlichen können umspült werden, z. B. Felsen oder Lehmboden. Allerdings wird es bei den unnatürlichen Blockaden sehr viel schwieriger bis unmöglich. Wird das Flussbett befestigt, ist eine klare Spur vorgegeben. Oftmals kommt so etwas kurz vor einem Wasserkraftwerk vor. Wenn die Schleusen nicht alle offen sind, kommt es zu einer Verzögerung. Dadurch kann der Fluss nicht mehr in seinem gewohnten Tempo weiter. Das Wasser staut sich an.

Bei einem Menschen verhält es sich recht ähnlich. Wenn im Leben eines Individuums eine Situation auftaucht, z. B. eine schwere Erkrankung, die die Person aber nicht annehmen möchte, dann kommt es zu einer Blockade des Flusses. Das heißt, dass Probleme mit dem „Sehfluss“ sich am Sehnerv zeigen können und auf eine Blockade hinweisen können, aber nicht müssen. Blockaden können auf die unterschiedlichsten Weisen auftreten. Ich denke jedoch, dass Probleme mit den Augen auf psychische Probleme hinweisen können. Eine geeignete Frage hierfür wäre: „Hält mich etwas in meinen Gefühlen, Emotionen und in meiner Kreativität zurück?“

Schönheiten

Natürlich gibt es auch schöne Stellen an einem Fluss. Es gibt Blumenwiesen, Felder und Wälder. Ebenso Sträucher und Büsche mit ihren Bewohnern. Da sind Vögel, Insekten und anderes Getier. Manchmal überquert eine Brücke den Fluss oder es sind Angler dort. Auch Kinder, die im kühlen, frischen Nass spielen und sich an der Schönheit des Lebens erfreuen. An solchen Stellen nimmt der Fluss einen ganz normalen Gang. Er fließt ungestört vor sich hin. Der Mensch kann diese Eigenschaft ebenfalls erlangen, indem er alte Geschehnisse erkennt und diese im Anschluss aufarbeitet. Aber wichtig ist, dass sich jeder Einzelne nach Möglichkeit am Leben erfreut und die Dinge annimmt, welche nicht veränderbar sind. Die Frage lautet: „Kann ich Lebendigkeit und Liebe in mein Leben integrieren?“

Das Ende einer langen Reise

Irgendwann mündet der Fluss in einem Meer und die Reise beginnt nach einer Zeit von Neuem, aber erst einmal ist das Ende erreicht. Der Fluss hat viele Dinge erlebt, viel gesehen und auch Schwierigkeiten durchgemacht. Er kann auf ein erfülltes Dasein zurückblicken. Genau wie ein Mensch, der am Ende seines Lebens angekommen ist. Jeder Mensch sollte, wenn er oder sie das Ende nahen sieht, mit Stolz zurückblicken können und sagen: „Das habe ich gut gemacht!“ Und noch eine letzte Frage hierzu: „Möchte in meinem Leben etwas ein Ende finden?“

Für uns Menschen ist es nicht einfach, die eigenen Probleme zu erkennen. Für mich ist es sehr hilfreich, mit einem Therapeuten über meine Schwierigkeiten im Leben zu sprechen. Mir zeigt mein Therapeut neue Wege auf, um wieder ein Stück weiterzukommen. Und wenn ich die Hilfe meines Therapeuten einmal nicht wünsche, dann können die Fragen, die ich mir gestellt habe, eine sehr gute Orientierung sein. Denn die Arbeit an sich selbst hört nie auf.

Heilung benötigt Zeit. Die wenigsten schaffen es unter dem starken Druck, den sie sich meist selbst machen, eine Veränderung des eigenen Lebens oder gar eine Heilung hervorzurufen. Ich habe MS und erhoffe mir durch die Arbeit an mir selbst Heilung, natürlich auch körperliche. Ob das möglich ist, kann ich nicht sagen. Dennoch werde ich an mir weiterarbeiten, weil das Ende meines Lebensflusses noch nicht da ist.

Andreas SturzAndreas Sturz
Hypnosetherapeut, in Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie, Berater in der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung, Landshut

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